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Johann Wolfgang
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Fünftes BuchFür
alle Vögel gibt es Lockspeisen, und jeder Mensch wird auf seine eigene
Art geleitet und verleitet. Natur, Erziehung, Umgebung, Gewohnheit
hielten mich von allem Rohen abgesondert, und ob ich gleich mit den
untern Volksklassen, besonders den Handwerkern, öfters in Berührung
kam, so entstand doch daraus kein näheres Verhältnis. Etwas Ungewöhnliches,
vielleicht Gefährliches zu unternehmen, hatte ich zwar Verwegenheit
genug, und fühlte mich wohl manchmal dazu aufgelegt; allein es mangelte
mir die Handhabe, es anzugreifen und zu fassen. Indessen
wurde ich auf eine völlig unerwartete Weise in Verhältnisse
verwickelt, die mich ganz nahe an große Gefahr, und wenigstens für
eine Zeitlang in Verlegenheit und Not brachten. Mein früheres gutes
Verhältnis zu jenem Knaben, den ich oben Pylades genannt, hatte sich
bis ins Jünglingsalter fortgesetzt. Zwar sahen wir uns seltener, weil
unsre Eltern nicht zum besten mit einander standen; wo wir uns aber
trafen, sprang immer sogleich der alte freundschaftliche Jubel hervor.
Einst begegneten wir uns in den Alleen, die zwischen dem Innern und äußern
Sankt-Gallen Tor einen sehr angenehmen Spaziergang darboten. Wir hatten
uns kaum begrüßt, als er zu mir sagte: "Es geht mir mit deinen
Versen noch immer wie sonst. Diejenigen, die du mir neulich mitteiltest,
habe ich einigen lustigen Gesellen vorgelesen, und keiner will glauben,
daß du sie gemacht habest." - "Laß es gut sein",
versetzte ich; "wir wollen sie machen, uns daran ergötzen, und die
andern mögen davon denken und sagen, was sie wollen." "Da
kommt eben der Ungläubige!" sagte mein Freund. - "Wir wollen
nicht davon reden", war meine Antwort. "Was hilft's, man
bekehrt sie doch nicht." "Mitnichten", sagte der Freund;
"ich kann es ihm nicht so hingehen lassen." Nach
einer kurzen gleichgültigen Unterhaltung konnte es der für mich nur
allzu wohlgesinnte junge Gesell nicht lassen, und sagte mit einiger
Empfindlichkeit gegen jenen: "Hier ist nun der Freund, der die hübschen
Verse gemacht hat, und die ihr ihm nicht zutrauen wollt." -
"Er wird es gewiß nicht übel nehmen", versetzte jener;
"denn es ist ja eine Ehre, die wir ihm erweisen, wenn wir glauben,
daß weit mehr Gelehrsamkeit dazu gehöre, solche Verse zu machen, als
er bei seiner Jugend besitzen kann." - Ich erwiderte etwas Gleichgültiges;
mein Freund aber fuhr fort: "Es wird nicht viel Mühe kosten, euch
zu überzeugen. Gebt ihm irgend ein Thema auf, und er macht euch ein
Gedicht aus dem Stegreif" - Ich ließ es mir gefallen, wir wurden
einig, und der dritte fragte mich: ob ich mich wohl getraue, einen recht
artigen Liebesbrief in Versen aufzusetzen, den ein verschämtes junges Mädchen
an einen Jüngling schriebe, um ihre Neigung zu offenbaren. -
"Nichts ist leichter als das", versetzte ich, "wenn wir
nur ein Schreibzeug hätten." - Jener brachte seinen
Taschenkalender hervor, worin sich weiße Blätter in Menge befanden,
und ich setzte mich auf eine Bank, zu schreiben. Sie gingen indes auf
und ab und ließen mich nicht aus den Augen, sogleich faßte ich die
Situation in den Sinn und dachte mir, wie artig es sein müßte, wenn
irgend ein hübsches Kind mir wirklich gewogen wäre und es mir in Prosa
oder in Versen entdecken wollte. Ich begann daher ohne Anstand meine
Erklärung, und führte sie in einem zwischen dem Knittelvers und
Madrigal schwebenden Silbenmaße mit möglichster Naivität in kurzer
Zeit dergestalt aus, daß, als ich dies Gedichtchen den beiden vorlas,
der Zweifler in Verwunderung und mein Freund in Entzücken versetzt
wurde. Jenem konnte ich auf sein Verlangen das Gedicht um so weniger
verweigern, als es in seinen Kalender geschrieben war, und ich das
Dokument meiner Fähigkeiten gern in seinen Händen sah. Er schied unter
vielen Versicherungen von Bewunderung und Neigung, und wünschte nichts
mehr, als uns öfter zu begegnen, und wir machten aus, bald zusammen
aufs Land zu gehen. Unsere Partie kam zustande, zu der sich noch mehrere
junge Leute von jenem Schlage gesellten. Es waren Menschen aus dem
mittlern, ja, wenn man will, aus dem niedern Stande, denen es an Kopf
nicht fehlte, und die auch, weil sie durch die Schule gelaufen, manche
Kenntnis und eine gewisse Bildung hatten. In einer großen reichen Stadt
gibt es vielerlei Erwerbzweige. Sie halfen sich durch, indem sie für
die Advokaten schrieben, Kinder der geringern Klasse durch
Hausunterricht etwas weiter brachten, als es in Trivialschulen zu
geschehen pflegt. Mit erwachsenern Kindern, welche konfirmiert werden
sollten, repetierten sie den Religionsunterricht, liefen dann wieder den
Mäklern oder Kaufleuten einige Wege, und taten sich abends, besonders
aber an Sonn- und Feiertagen, auf eine frugale Weise etwas zugute. Indem
sie nun unterwegs meine Liebesepistel auf das beste herausstrichen,
gestanden sie mir, daß sie einen sehr lustigen Gebrauch davon gemacht hätten:
sie sei nämlich mit verstellter Hand abgeschrieben, und mit einigen nähern
Beziehungen einem eingebildeten jungen Manne zugeschoben worden, der nun
in der festen Überzeugung stehe, ein Frauenzimmer, dem er von fern den
Hof gemacht, sei in ihn aufs äußerste verliebt, und suche Gelegenheit,
ihm näher bekannt zu werden, sie vertrauten mir dabei, er wünsche
nichts mehr, als ihr auch in Versen antworten zu können; aber weder bei
ihm noch bei ihnen finde sich Geschick dazu, weshalb sie mich inständig
bäten, die gewünschte Antwort selbst zu verfassen. Mystifikationen
sind und bleiben eine Unterhaltung für müßige, mehr oder weniger
geistreiche Menschen. Eine läßliche Bosheit, eine selbstgefällige
Schadenfreude sind ein Genuß für diejenigen, die sich weder mit sich
selbst beschäftigen, noch nach außen heilsam wirken können. Kein
Alter ist ganz frei von einem solchen Kitzel. Wir hatten uns in unsern
Knabenjahren einander oft angeführt; viele Spiele beruhen auf solchen
Mystifikationen und Attrappen; der gegenwärtige Scherz schien mir nicht
weiter zu gehen: ich willigte ein; sie teilten mir manches Besondere
mit, was der Brief enthalten sollte, und wir brachten ihn schon fertig
mit nach Hause. Kurze
Zeit darauf wurde ich durch meinen Freund dringend eingeladen, an einem
Abendfeste jener Gesellschaft teilzunehmen. Der Liebhaber wolle es
diesmal ausstatten, und verlange dabei ausdrücklich, dem Freunde zu
danken, der sich so vortrefflich als poetischer Sekretär erwiesen. Wir
kamen spät genug zusammen, die Mahlzeit war die frugalste, der Wein
trinkbar; und was die Unterhaltung betraf, so drehte sie sich fast gänzlich
um die Verhöhnung des gegenwärtigen, freilich nicht sehr aufgeweckten
Menschen, der nach wiederholter Lesung des Briefes nicht weit davon war
zu glauben, er habe ihn selbst geschrieben. Meine
natürliche Gutmütigkeit ließ mich an einer solchen boshaften
Verstellung wenig Freude finden, und die Wiederholung desselben Themas
ekelte mich bald an. Gewiß, ich brachte einen verdrießlichen Abend
hin, wenn nicht eine unerwartete Erscheinung mich wieder belebt hätte.
Bei unserer Ankunft stand bereits der Tisch reinlich und ordentlich
gedeckt, hinreichender Wein aufgestellt; wir setzten uns und blieben
allein, ohne Bedienung nötig zu haben. Als es aber doch zuletzt an Wein
gebrach, rief einer nach der Magd; allein statt derselben trat ein Mädchen
herein, von ungemeiner und, wenn man sie in ihrer Umgebung sah, von
unglaublicher Schönheit. - "Was verlangt ihr?" sagte sie,
nachdem sie auf eine freundliche Weise guten Abend geboten; "die
Magd ist krank und zu Bette. Kann ich euch dienen?" - "Es
fehlt an Wein", sagte der eine. "Wenn du uns ein paar Flaschen
holtest, so wäre es sehr hübsch." - "Tu es, Gretchen",
sagte der andre; "es ist ja nur ein Katzensprung." -
"Warum nicht!" versetzte sie, nahm ein paar leere Flaschen vom
Tisch und eilte fort. Ihre Gestalt war von der Rückseite fast noch
zierlicher. Das Häubchen saß so nett auf dem kleinen Kopfe, den ein
schlanker Hals gar anmutig mit Nacken und Schultern verband. Alles an
ihr schien auserlesen, und man konnte der ganzen Gestalt um so ruhiger
folgen, als die Aufmerksamkeit nicht mehr durch die stillen treuen Augen
und den lieblichen Mund allein angezogen und gefesselt wurde. Ich machte
den Gesellen Vorwürfe, daß sie das Kind in der Nacht allein
ausschickten; sie lachten mich aus, und ich war bald getröstet, als sie
schon wiederkam: denn der Schenkwirt wohnte nur über die Straße. -
"Setze dich dafür auch zu uns", sagte der eine. Sie tat es,
aber leider kam sie nicht neben mich. Sie trank ein Glas auf unsre
Gesundheit und entfernte sich bald, indem sie uns riet, nicht gar lange
beisammen zu bleiben und überhaupt nicht so laut zu werden: denn die
Mutter wolle sich eben zu Bette legen. Es war nicht ihre Mutter, sondern
die unserer Wirte. Die
Gestalt dieses Mädchens verfolgte mich von dem Augenblick an auf allen
Wegen und Stegen: es war der erste bleibende Eindruck, den ein
weibliches Wesen auf mich gemacht hatte; und da ich einen Vorwand, sie
im Hause zu sehen, weder finden konnte noch suchen mochte, ging ich ihr
zu Liebe in die Kirche und hatte bald ausgespart, wo sie saß; und so
konnte ich während des langen protestantischen Gottesdienstes mich wohl
satt an ihr sehen. Beim Herausgehen getraute ich mich nicht sie
anzureden, noch weniger sie zu begleiten, und war schon selig, wenn sie
mich bemerkt und gegen einen Gruß genickt zu haben schien. Doch ich
sollte das Glück, mich ihr zu nähern, nicht lange entbehren. Man hatte
jenen Liebenden, dessen poetischer Sekretär ich geworden war, glauben
gemacht, der in seinem Namen geschriebene Brief sei wirklich an das
Frauenzimmer abgegeben worden, und zugleich seine Erwartung aufs äußerste
gespannt, daß nun bald eine Antwort darauf erfolgen müsse. Auch diese
sollte ich schreiben, und die schalkische Gesellschaft ließ mich durch
Pylades aufs inständigste ersuchen, allen meinen Witz aufzubieten und
alle meine Kunst zu verwenden, daß dieses Stück recht zierlich und
vollkommen werde. In
Hoffnung, meine Schöne wiederzusehen, machte ich mich sogleich ans
Werk, und dachte mir nun alles, was mir höchst wohlgefällig sein würde,
wenn Gretchen es mir schriebe. Ich glaubte alles so aus ihrer Gestalt,
ihrem Wesen, ihrer Art, ihrem Sinn heraus geschrieben zu haben, daß ich
mich des Wunsches nicht enthalten konnte, es möchte wirklich so sein,
und mich in Entzücken verlor, nur zu denken, daß etwas Ähnliches von
ihr an mich könnte gerichtet werden. So mystifizierte ich mich selbst,
indem ich meinte, einen andern zum besten zu haben, und es sollte mir
daraus noch manche Freude und manches Ungemach entspringen. Als ich
abermals gemahnt wurde, war ich fertig, versprach zu kommen und fehlte
nicht zur bestimmten Stunde. Es war nur einer von den jungen Leuten zu
Hause; Gretchen saß am Fenster und spann; die Mutter ging ab und zu.
Der junge Mensch verlangte, daß ich's ihm vorlesen sollte; ich tat es,
und las nicht ohne Rührung, indem ich über das Blatt weg nach dem schönen
Kinde hinschielte, und da ich eine gewisse Unruhe ihres Wesens, eine
leichte Röte ihrer Wangen zu bemerken glaubte, drückte ich nur besser
und lebhafter aus, was ich von ihr zu vernehmen wünschte. Der Vetter,
der mich oft durch Lobeserhebungen unterbrochen hatte, ersuchte mich
zuletzt um einige Abänderungen. Sie betrafen einige Stellen, die
freilich mehr auf Gretchens Zustand, als auf den jenes Frauenzimmers paßten,
das von gutem Hause, wohlhabend, in der Stadt bekannt und angesehen war.
Nachdem der junge Mann mir die gewünschten Änderungen artikuliert und
ein Schreibzeug herbeigeholt hatte, sich aber wegen eines Geschäfts auf
kurze Zeit beurlaubte, blieb ich auf der Wandbank hinter dem großen
Tisch sitzen, und probierte die zu machenden Veränderungen auf der großen,
fast den ganzen Tisch einnehmenden Schieferplatte, mit einem Griffel,
der stets im Fenster lag, weil man auf dieser Steinfläche oft rechnete,
sich mancherlei notierte, ja die Gehenden und Kommenden sich sogar
Notizen da durch mitteilten. Ich
hatte eine Zeitlang verschiedenes geschrieben und wieder ausgelöscht,
als ich ungeduldig ausrief: "Es will nicht gehen!" -
"Desto besser!" sagte das liebe Mädchen, mit einem gesetzten
Tone; "ich wünschte, es ginge gar nicht. Sie sollten sich mit
solchen Händeln nicht befassen." - Sie stand vom Spinnrocken auf,
und zu mir an den Tisch tretend, hielt sie mir mit viel Verstand und
Freundlichkeit eine Strafpredigt. "Die Sache scheint ein
unschuldiger Scherz; es ist ein Scherz, aber nicht unschuldig. Ich habe
schon mehrere Fälle erlebt, wo unsere jungen Leute wegen eines solchen
Frevels in große Verlegenheit kamen." - "Was soll ich aber
tun?" versetzte ich; "der Brief ist geschrieben, und sie
verlassen sich drauf, daß ich ihn umändern werde." -
"Glauben sie mir", versetzte sie, "und ändern ihn nicht
um; ja, nehmen sie ihn zurück, stecken sie ihn ein, gehen sie fort und
suchen die Sache durch Ihren Freund ins gleiche zu bringen. Ich will
auch ein Wörtchen mit drein reden: denn, sehen sie, so ein armes Mädchen
als ich bin, und abhängig von diesen Verwandten, die zwar nichts Böses
tun, aber doch oft um der Lust und des Gewinns willen manches
Wagehalsige vornehmen, ich habe widerstanden und den ersten Brief nicht
abgeschrieben, wie man von mir verlangte; sie haben ihn mit verstellter
Hand kopiert, und so mögen sie auch, wenn es nicht anders ist, mit
diesem tun. Und sie, ein junger Mann aus gutem Hause, wohlhabend, unabhängig,
warum wollen sie sich zum Werkzeug einer Sache gebrauchen lassen, aus
der gewiß nichts Gutes und vielleicht manches Unangenehme für sie
entspringen kann?" - Ich war glücklich, sie in einer Folge reden
zu hören: denn sonst gab sie nur wenige Worte in das Gespräch. Meine
Neigung wuchs unglaublich, ich war nicht Herr von mir selbst, und
erwiderte: "Ich bin so unabhängig nicht, als sie glauben, und was
hilft mir wohlhabend zu sein, da mir das Köstlichste fehlt, was ich wünschen
dürfte." Sie
hatte mein Konzept der poetischen Epistel vor sich hingezogen und las es
halb laut, gar hold und anmutig. "Das ist recht hübsch",
sagte sie, indem sie bei einer Art naiver Pointe innehielt; "nur
schade, daß es nicht zu einem bessern, zu einem wahren Gebrauch
bestimmt ist." - "Das wäre freilich sehr wünschenswert",
rief ich aus; "wie glücklich müßte der sein, der von einem Mädchen,
das er unendlich liebt, eine solche Vorsicherung ihrer Neigung
erhielte!" - "Es gehört freilich viel dazu", versetzte
sie, "und doch wird manches möglich." - "Zum
Beispiel", fuhr ich fort, "wenn jemand, der sie kennt, schätzt,
verehrt und anbetet, Ihnen ein solches Blatt vorlegte, und sie recht
dringend, recht herzlich und freundlich bäte, was würden sie
tun?" - Ich schob ihr das Blatt näher hin, das sie schon wieder
mir zugeschoben hatte. Sie lächelte, besann sich einen Augenblick, nahm
die Feder und unterschrieb. Ich kannte mich nicht vor Entzücken, sprang
auf und wollte sie umarmen. - "Nicht küssen!" sagte sie;
"das ist so was Gemeines; aber lieben, wenn's möglich ist."
Ich hatte das Blatt zu mir genommen und eingesteckt. "Niemand soll
es erhalten", sagte ich, "und die Sache ist abgetan! Sie haben
mich gerettet." - "Nun vollenden Sie die Rettung", rief
sie aus, "und eilen fort, ehe die andern kommen, und sie in Pein
und Verlegenheit geraten." Ich konnte mich nicht von ihr losreißen;
sie aber bat mich so freundlich, indem sie mit beiden Händen meine
Rechte nahm und liebevoll drückte. Die Tränen waren mir nicht weit:
ich glaubte ihre Augen feucht zu sehen; ich drückte mein Gesicht auf
ihre Hände und eilte fort. In meinem Leben hatte ich mich nicht in
einer solchen Verwirrung befunden. Die
ersten Liebesneigungen einer unverdorbenen Jugend nehmen durchaus eine
geistige Wendung. Die Natur scheint zu wollen, daß ein Geschlecht in
dem andern das Gute und Schöne sinnlich gewahr werde. Und so war auch
mir durch den Anblick dieses Mädchens, durch meine Neigung zu ihr eine
neue Welt des Schönen und Vortrefflichen aufgegangen. Ich las meine
poetische Epistel hundertmal durch, beschaute die Unterschrift, küßte
sie, drückte sie an mein Herz und freute mich dieses liebenswürdigen
Bekenntnisses. Je mehr sich aber mein Entzücken steigerte, desto weher
tat es mir, sie nicht unmittelbar besuchen, sie nicht wieder sehen und
sprechen zu können: denn ich fürchtete die Vorwürfe der Vettern und
ihre Zudringlichkeit. Den guten Pylades, der die Sache vermitteln
konnte, wußte ich nicht anzutreffen. Ich machte mich daher den nächsten
Sonntag auf nach Niederrad, wohin jene Gesellen gewöhnlich zu gehen
pflegten, und fand sie auch wirklich. Sehr verwundert war ich jedoch, da
sie mir, anstatt verdrießlich und fremd zu tun, mit frohem Gesicht
entgegenkamen. Der Jüngste besonders war sehr freundlich, nahm mich bei
der Hand und sagte: "Ihr habt uns neulich einen schelmischen
Streich gespielt, und wir waren auf Euch recht böse; doch hat uns Euer
Entweichen und das Entwenden der poetischen Epistel auf einen guten
Gedanken gebracht, der uns vielleicht sonst niemals aufgegangen wäre.
Zur Versöhnung möget Ihr uns heute bewirten, und dabei sollt Ihr
erfahren, was es denn ist, worauf wir uns etwas einbilden, und was Euch
gewiß auch Freude machen wird." Diese Anrede setzte mich in nicht
geringe Verlegenheit: denn ich hatte ungefähr so viel Geld bei mir, um
mir selbst und einem Freunde etwas zugute zu tun; aber eine
Gesellschaft, und besonders eine solche, die nicht immer zur rechten
Zeit ihre Grenzen fand, zu gastieren, war ich keineswegs eingerichtet;
ja dieser Antrag verwunderte mich um so mehr, als sie sonst durchaus
sehr ehrenvoll darauf hielten, daß jeder nur seine Zeche bezahlte. Sie
lächelten über meine Verlegenheit, und der Jüngere fuhr fort: "Laßt
uns erst in der Laube sitzen, und dann sollt Ihr das Weitre
erfahren." Wir saßen, und er sagte: "Als Ihr die
Liebesepistel neulich mitgenommen hattet, sprachen wir die ganze Sache
noch einmal durch und machten die Betrachtung, daß wir so ganz umsonst,
andern zum Verdruß und uns zur Gefahr, aus bloßer leidiger
Schadenfreude, Euer Talent mißbrauchen, da wir es doch zu unser aller
Vorteil benutzen könnten. Seht, ich habe hier eine Bestellung auf ein
Hochzeitgedicht, sowie auf ein Leichenkarmen. Das zweite muß gleich
fertig sein, das erste hat noch acht Tage Zeit. Mögt Ihr sie machen,
welches Euch ein leichtes ist, so traktiert Ihr uns zweimal, und wir
bleiben auf lange Zeit Eure Schuldner." - Dieser Vorschlag gefiel
mir von allen Seiten: denn ich hatte schon von Jugend auf die
Gelegenheidsgedichte, deren damals in jeder Woche mehrere zirkulierten,
ja besonders bei ansehnlichen Verheiratungen dutzendweise zum Vorschein
kamen, mit einem gewissen Neid betrachtet, weil ich solche Dinge ebenso
gut, ja noch besser zu machen glaubte. Nun ward mir die Gelegenheit
angeboten, mich zu zeigen, und besonders, mich gedruckt zu sehen. Ich
erwies mich nicht abgeneigt. Man machte mich mit den Personalien, mit
den Verhältnissen der Familie bekannt; ich ging etwas abseits, machte
meinen Entwurf und führte einige Strophen aus. Da ich mich jedoch
wieder zur Gesellschaft begab und der Wein nicht geschont wurde, so fing
das Gedicht an zu stocken, und ich konnte es diesen Abend nicht
abliefern. "Es hat noch bis morgen abend Zeit", sagten sie,
"und wir wollen Euch nur gestehen, das Honorar, welches wir für
das Leichenkarmen erhalten, reicht hin, uns morgen noch einen lustigen
Abend zu verschaffen. Kommt zu uns: denn es ist billig, daß Gretchen
auch mit genieße, die uns eigentlich auf diesen Einfall gebracht
hat." - Meine Freude war unsäglich. Auf dem Heimwege hatte ich nur
die noch fehlenden Strophen im Sinne, schrieb das Ganze noch vor
Schlafengehn nieder und den andern Morgen sehr sauber ins Reine. Der Tag
ward mir unendlich lang, und kaum war es dunkel geworden, so fand ich
mich wieder in der kleinen engen Wohnung neben dem allerliebsten Mädchen.
Die jungen Leute, mit denen ich auf diese Weise immer in nähere
Verbindung kam, waren nicht eigentlich gemeine, aber doch gewöhnliche
Menschen. Ihre Tätigkeit war lobenswürdig, und ich hörte ihnen mit
Vergnügen zu, wenn sie von den vielfachen Mitteln und Wegen sprachen,
wie man sich etwas erwerben könne; auch erzählten sie am liebsten von
gegenwärtig sehr reichen Leuten, die mit nichts angefangen. Andere hätten
als arme Handlungsdiener sich ihren Patronen notwendig gemacht, und wären
endlich zu ihren Schwiegersöhnen erhoben worden; noch andre hätten
einen kleinen Kram mit Schwefelfaden und dergleichen so erweitert und
veredelt, daß sie nun als reiche Kauf- und Handelsmänner erschienen.
Besonders sollte jungen Leuten, die gut auf den Beinen wären, das Beiläufer-
und Mäklerhandwerk und die Übernahme von allerlei Aufträgen und
Besorgungen für unbehülfliche Wohlhabende durchaus ernährend und
einträglich sein. Wir alle hörten das gern, und jeder dünkte sich
etwas, wenn er sich in dem Augenblick vorstellte, daß in ihm selbst so
viel vorhanden sei, nicht nur um in der Welt fortzukommen, sondern sogar
ein außerordentliches Glück zu machen. Niemand jedoch schien dies
Gespräch ernstlicher zu führen als Pylades, der zuletzt gestand, daß
er ein Mädchen außerordentlich liebe und sich wirklich mit ihr
versprochen habe. Die Vermögensumstände seiner Eltern litten nicht, daß
er auf Akademien gehe; er habe sich aber einer schönen Handschrift, des
Rechnens und der neuern Sprachen befleißigt, und wolle nun, in Hoffnung
auf jenes häusliche Glück, sein möglichstes versuchen. Die Vettern
lobten ihn deshalb, ob sie gleich das frühzeitige Versprechen an ein Mädchen
nicht billigen wollten, und setzten hinzu, sie müßten ihn zwar für
einen braven und guten Jungen anerkennen, hielten ihn aber weder für tätig
noch für unternehmend genug, etwas Außerordentliches zu leisten. Indem
er nun, zu seiner Rechtfertigung, umständlich auseinandersetzte, was er
sich zu leisten getraue und wie er es anzufangen gedenke, so wurden die
übrigen auch angereizt, und jeder fing nun an zu erzählen, was er
schon vermöge, tue, treibe, welchen Weg er zurückgelegt und was er zunächst
vor sich sehe. Die Reihe kam zuletzt an mich. Ich sollte nun auch meine
Lebensweise und Aussichten darstellen, und indem ich mich besann, sagte
Pylades: "Das einzige behalte ich mir vor, damit wir nicht gar zu
kurz kommen, daß er die äußern Vorteile seiner Lage nicht mit in
Anrechnung bringe. Er mag uns lieber ein Märchen erzählen, wie er es
anfangen würde, wenn er in diesem Augenblick, so wie wir, ganz auf sich
selbst gestellt wäre." Gretchen,
die bis diesen Augenblick fortgesponnen hatte, stand auf und setzte sich
wie gewöhnlich ans Ende des Tisches. Wir hatten schon einige Flaschen
geleert, und ich fing mit dem besten Humor meine hypothetische
Lebensgeschichte zu erzählen an. "Zuvörderst also empfehle ich
mich euch", sagte ich, "daß ihr mir die Kundschaft erhaltet,
welche mir zuzuweisen ihr den Anfang gemacht habt. Wenn ihr mir nach und
nach den Verdienst der sämtlichen Gelegenheitsgedichte zuwendet, und
wir ihn nicht bloß verschmausen, so will ich schon zu etwas kommen.
Alsdann müßt ihr mir nicht übel nehmen, wenn ich auch in euer
Handwerk pfusche." Worauf ich ihnen denn vorerzählte, was ich mir
aus ihren Beschäftigungen gemerkt hatte, und zu welchen ich mich
allenfalls fähig hielt. Ein jeder hatte vorher sein Verdienst zu Gelde
angeschlagen, und ich ersuchte sie, mir auch zu Fertigung meines Etats
behülflich zu sein. Gretchen hatte alles Bisherige sehr aufmerksam mit
angehört, und zwar in der Stellung, die sie sehr gut kleidete, sie
mochte nun zuhören oder sprechen, sie faßte mit beiden Händen ihre über
einander geschlagenen Arme und legte sie auf den Rand des Tisches. So
konnte sie lange sitzen, ohne etwas anders als den Kopf zu bewegen,
welches niemals ohne Anlaß oder Bedeutung geschah. Sie hatte manchmal
ein Wörtchen mit eingesprochen und über dieses und jenes, wenn wir in
unsern Einrichtungen stockten, nachgeholfen; dann war sie aber wieder
still und ruhig wie gewöhnlich. Ich ließ sie nicht aus den Augen, und
daß ich meinen Plan nicht ohne Bezug auf sie gedacht und ausgesprochen,
kann man sich leicht denken, und die Neigung zu ihr gab dem, was ich
sagte, einen Anschein von Wahrheit und Möglichkeit, daß ich mich
selbst einen Augenblick täuschte, mich so abgesondert und hülflos
dachte, wie mein Märchen mich voraussetzte, und mich dabei in der
Aussicht, sie zu besitzen, höchst glücklich fühlte. Pylades hatte
seine Konfession mit der Heirat geendigt, und bei uns andern war nun
auch die Frage, ob wir es in unsern Planen so weit gebracht hätten.
"Ich zweifle ganz und gar nicht daran", sagte ich; "denn
eigentlich ist einem jeden von uns eine Frau nötig, um das im Hause zu
bewahren und uns im ganzen genießen zu lassen, was wir von außen auf
eine so wunderliche Weise zusammenstoppeln." Ich machte die
Schilderung von einer Gattin, wie ich sie wünschte, und es müßte
seltsam zugegangen sein, wenn sie nicht Gretchens vollkommnes Ebenbild
gewesen wäre. Das
Leichenkarmen war verzehrt, das Hochzeitgedicht stand nun auch wohltätig
in der Nähe; ich überwand alle Furcht und Sorge und wußte, weil ich
viel Bekannte hatte, meine eigentlichen Abendunterhaltungen vor den
Meinigen zu verbergen. Das liebe Mädchen zu sehen und neben ihr zu
sein, war nun bald eine unerläßliche Bedingung meines Wesens. Jene
hatten sich ebenso an mich gewöhnt, und wir waren fast täglich
zusammen, als wenn es nicht anders sein könnte. Pylades hatte indessen
seine Schöne auch in das Haus gebracht, und dieses Paar verlebte
manchen Abend mit uns. Sie als Brautleute, obgleich noch sehr im Keime,
verbargen doch nicht ihre Zärtlichkeit; Gretchens Betragen gegen mich
war nur geschickt, mich in Entfernung zu halten. Sie gab niemanden die
Hand, auch nicht mir; sie litt keine Berührung: nur setzte sie sich
manchmal neben mich, besonders wenn ich schrieb oder vorlas, und dann
legte sie mir vertraulich den Arm auf die Schulter, sah mir ins Buch
oder aufs Blatt; wollte ich mir aber eine ähnliche Freiheit gegen sie
herausnehmen, so wich sie und kam so bald nicht wieder. Doch wiederholte
sie oft diese Stellung, so wie alle ihre Gesten und Bewegungen sehr einförmig
waren, aber immer gleich gehörig, schön und reizend. Allein jene
Vertraulichkeit habe ich sie gegen niemanden weiter ausüben sehen. Eine
der unschuldigsten und zugleich unterhaltendsten Lustpartien, die ich
mit verschiedenen Gesellschaften junger Leute unternahm, war, daß wir
uns in das Höchster Marktschiff setzten, die darin eingepackten
seltsamen Passagiere beobachteten und uns bald mit diesem bald mit
jenem, wie uns Lust oder Mutwille trieb, scherzhaft und neckend einließen.
Zu Höchst stiegen wir aus, wo zu gleicher Zeit das Marktschiff von
Mainz eintraf. In einem Gasthofe fand man eine gut besetzte Tafel, wo
die Besseren der Auf- und Abfahrenden mit einander speisten und alsdann
jeder seine Fahrt weiter fortsetzte: denn beide Schiffe gingen wieder
zurück. Wir fuhren dann jedesmal nach eingenommenem Mittagsessen hinauf
nach Frankfurt und hatten in sehr großer Gesellschaft die wohlfeilste
Wasserfahrt gemacht, die nur möglich war. Einmal hatte ich auch mit
Gretchens Vettern diesen Zug unternommen, als am Tisch in Höchst sich
ein junger Mann zu uns gesellte, der etwas älter als wir sein mochte.
Jene kannten ihn, und er ließ sich mir vorstellen. Er hatte in seinem
Wesen etwas sehr Gefälliges, ohne sonst ausgezeichnet zu sein. Von
Mainz heraufgekommen, fuhr er nun mit uns nach Frankfurt zurück, und
unterhielt sich mit mir von allerlei Dingen, welche das innere
Stadtwesen, die Ämter und Stellen betrafen, worin er mir ganz wohl
unterrichtet schien. Als wir uns trennten, empfahl er sich mir und fügte
hinzu: er wünsche, daß ich gut von ihm denken möge, weil er sich
gelegentlich meiner Empfehlung zu erfreuen hoffe. Ich wußte nicht, was
er damit sagen wollte, aber die Vettern klärten mich nach einigen Tagen
auf; sie sprachen Gutes von ihm und ersuchten mich um ein Vorwort bei
meinem Großvater, da jetzt eben eine mittlere Stelle offen sei, zu
welcher dieser Freund gern gelangen möchte. Ich entschuldigte mich
anfangs, weil ich mich niemals in dergleichen Dinge gemischt hatte;
allein sie setzten mir so lange zu, bis ich mich es zu tun entschloß.
Hatte ich doch schon manchmal bemerkt, daß bei solchen Ämtervergebungen,
welche leider oft als Gnadensachen betrachtet werden, die Vorsprache der
Großmutter oder einer Tante nicht ohne Wirkung gewesen. Ich war so weit
herangewachsen, um mir auch einigen Einfluß anzumaßen. Deshalb überwand
ich, meinen Freunden zu Lieb, welche sich auf alle Weise für eine
solche Gefälligkeit verbunden erklärten, die Schüchternheit eines
Enkels, und übernahm es, ein Bittschreiben, das mir eingehändigt
wurde, zu überreichen. Eines
Sonntags nach Tische, als der Großvater in seinem Garten beschäftigt
war, um so mehr, als der Herbst herannahte und ich ihm allenthalben behülflich
zu sein suchte, rückte ich nach einigem Zögern mit meinem Anliegen und
dem Bittschreiben hervor. Er sah es an und fragte mich, ob ich den
jungen Menschen kenne. Ich erzählte ihm im allgemeinen, was zu sagen
war, und er ließ es dabei bewenden. "Wenn er Verdienst und sonst
ein gutes Zeugnis hat, so will ich ihm um seiner- und deinetwillen günstig
sein." Mehr sagte er nicht, und ich erfuhr lange nichts von der
Sache. Seit
einiger Zeit hatte ich bemerkt, daß Gretchen nicht mehr spann, und sich
dagegen mit Nähen beschäftigte und zwar mit sehr feiner Arbeit,
welches mich um so mehr wunderte, da die Tage schon abgenommen hatten
und der Winter herankam. Ich dachte darüber nicht weiter nach, nur
beunruhigte es mich, daß ich sie einigemal des Morgens nicht wie sonst
zu Hause fand, und ohne Zudringlichkeit nicht erfahren konnte, wo sie
hingegangen sei. Doch sollte ich eines Tages sehr wunderlich überrascht
werden. Meine Schwester, die sich zu einem Balle vorbereitete, bat mich,
ihr bei einer Galanteriehändlerin sogenannte italienische Blumen zu
holen, sie wurden in Klöstern gemacht, waren klein und niedlich. Myrten
besonders, Zwergröslein und dergleichen fielen gar schön und natürlich
aus. Ich tat ihr die Liebe und ging in den Laden, in welchem ich schon
öfter mit ihr gewesen war. Kaum war ich hineingetreten und hatte die
Eigentümerin begrüßt, als ich im Fenster ein Frauenzimmer sitzen sah,
das mir unter einem Spitzenhäubchen gar jung und hübsch, und unter
einer seidnen Mantille sehr wohlgebaut schien. Ich konnte leicht an ihr
eine Gehülfin erkennen, denn sie war beschäftigt, Band und Federn auf
ein Hütchen zu stecken. Die Putzhändlerin zeigte mir den langen Kasten
mit einzelnen mannigfaltigen Blumen vor; ich besah sie, und blickte,
indem ich wählte, wieder nach dem Frauenzimmerchen im Fenster; aber wie
groß war mein Erstaunen, als ich eine unglaubliche Ähnlichkeit mit
Gretchen gewahr wurde, ja zuletzt mich überzeugen mußte, es sei
Gretchen selbst. Auch blieb mir kein Zweifel übrig, als sie mir mit den
Augen winkte und ein Zeichen gab, daß ich unsre Bekanntschaft nicht
verraten sollte. Nun brachte ich mit Wählen und Verwerfen die Putzhändlerin
in Verzweiflung, mehr als ein Frauenzimmer selbst hätte tun können.
Ich hatte wirklich keine Wahl, denn ich war aufs äußerste verwirrt,
und zugleich liebte ich mein Zaudern, weil es mich in der Nähe des
Kindes hielt, dessen Maske mich verdroß, und das mir doch in dieser
Maske reizender vorkam als jemals. Endlich mochte die Putzhändlerin
alle Geduld verlieren, und suchte mir eigenhändig einen ganzen
Pappenkasten voll Blumen aus, den ich meiner Schwester vorstellen und
sie selbst sollte wählen lassen. So wurde ich zum Laden gleichsam
hinausgetrieben, indem sie den Kasten durch ihr Mädchen vorausschickte. Kaum
war ich zu Hause angekommen, als mein Vater mich berufen ließ und mir
die Eröffnung tat, es sei nun ganz gewiß, daß der Erzherzog Joseph
zum Römischen König gewählt und gekrönt werden solle. Ein so höchst
bedeutendes Ereignis müsse man nicht unvorbereitet erwarten, und etwa
nur gaffend und staunend an sich vorbeigehen lassen. Er wolle daher die
Wahl- und Krönungsdiarien der beiden letzten Krönungen mit mir
durchgehen, nicht weniger die letzten Wahlkapitulationen, um alsdann zu
bemerken, was für neue Bedingungen man im gegenwärtigen Falle hinzufügen
werde. Die Diarien wurden aufgeschlagen, und wir beschäftigten uns den
ganzen Tag damit bis tief in die Nacht, indessen mir das hübsche Mädchen,
bald in ihrem alten Hauskleide, bald in ihrem neuen Kostüm, immer
zwischen den höchsten Gegenständen des Heiligen Römischen Reichs hin
und wider schwebte. Für diesen Abend war es unmöglich, sie zu sehen,
und ich durchwachte eine sehr unruhige Nacht. Das gestrige Studium wurde
den andern Tag eifrig fortgesetzt, und nur gegen Abend machte ich es möglich,
meine Schöne zu besuchen, die ich wieder in ihrem gewöhnlichen
Hauskleide fand. Sie lächelte, indem sie mich ansah, aber ich getraute
mich nicht, vor den andern etwas zu erwähnen. Als die ganze
Gesellschaft wieder ruhig zusammensaß, fing sie an und sagte: "Es
ist unbillig, daß ihr unserm Freunde nicht vertrauet, was in diesen
Tagen von uns beschlossen worden." Sie fuhr darauf fort zu erzählen,
daß nach unsrer neulichen Unterhaltung, wo die Rede war, wie ein jeder
sich in der Welt wolle geltend machen, auch unter ihnen zur Sprache
gekommen, auf welche Art ein weibliches Wesen seine Talente und Arbeiten
steigern und seine Zeit vorteilhaft anwenden könne. Darauf habe der
Vetter vorgeschlagen, sie solle es bei einer Putzmacherin versuchen, die
jetzt eben eine Gehülfin brauche. Man sei mit der Frau einig geworden,
sie gehe täglich so viele Stunden hin, werde gut gelohnt; nur müsse
sie dort, um des Anstands willen, sich zu einem gewissen Anputz
bequemen, den sie aber jederzeit zurücklasse, weil er zu ihrem übrigen
Leben und Wesen sich gar nicht schicken wolle. Durch diese Erklärung
war ich zwar beruhigt, nur wollte es mir nicht recht gefallen, das hübsche
Kind in einem öffentlichen Laden und an einem Orte zu wissen, wo die
galante Welt gelegentlich ihren Sammelplatz hatte. Doch ließ ich mir
nichts merken, und suchte meine eifersüchtige Sorge im stillen bei mir
zu verarbeiten. Hierzu gönnte mir der jüngere Vetter nicht lange Zeit,
der alsbald wieder mit dem Auftrag zu einem Gelegenheitsgedicht
hervortrat, mir die Personalien erzählte und sogleich verlangte, daß
ich mich zur Erfindung und Disposition des Gedichtes anschicken möchte.
Er hatte schon einigemal über die Behandlung einer solchen Aufgabe mit
mir gesprochen, und, wie ich in solchen Fällen sehr redselig war, gar
leicht von mir erlangt, daß ich ihm, was an diesen Dingen rhetorisch
ist, umständlich auslegte, ihm einen Begriff von der Sache gab und
meine eigenen und fremden Arbeiten dieser Art als Beispiele benutzte.
Der junge Mensch war ein guter Kopf, obgleich ohne Spur von poetischer
Ader, und nun ging er so sehr ins einzelne und wollte von allem
Rechenschaft haben, daß ich mit der Bemerkung laut werd: " Sieht
es doch aus, als wolltet Ihr mir ins Handwerk greifen und mir die
Kundschaft entziehen." - "Ich will es nicht leugnen",
sagte jener lächelnd, "denn ich tue Euch dadurch keinen Schaden.
Wie lange wird's währen, so geht Ihr auf die Akademie, und bis dahin laßt
mich noch immer etwas bei Euch profitieren." - "Herzlich
gern", versetzte ich, und munterte ihn auf, selbst eine Disposition
zu machen, ein Silbenmaß nach dem Charakter des Gegenstandes zu wählen,
und was etwa sonst noch nötig scheinen mochte. Er ging mit Ernst an die
Sache; aber es wollte nicht glücken. Ich mußte zuletzt immer daran so
viel umschreiben, daß ich es leichter und besser von vornherein selbst
geleistet hätte. Dieses Lehren und Lernen jedoch, dieses Mitteilen,
diese Wechselarbeit gab uns eine gute Unterhaltung; Gretchen nahm teil
daran und hatte manchen artigen Einfall, so daß wir alle vergnügt, ja,
man darf sagen glücklich waren. Sie arbeitete des Tags bei der
Putzmacherin; abends kamen wir gewöhnlich zusammen, und unsre
Zufriedenheit ward selbst dadurch nicht gestört, daß es mit den
Bestellungen zu Gelegenheitsgedichten endlich nicht recht mehr
fortwollte. Schmerzlich jedoch empfanden wir es, daß uns eins einmal
mit Protest zurückkam, weil es dem Besteller nicht gefiel. Indes trösteten
wir uns, weil wir es gerade für unsere beste Arbeit hielten, und jenen
für einen schlechten Kenner erklären durften. Der Vetter, der ein für
allemal etwas lernen wollte, veranlaßte nunmehr fingierte Aufgaben, bei
deren Auflösung wir uns zwar noch immer gut genug unterhielten, aber
freilich, da sie nichts einbrachten, unsre kleinen Gelage viel mäßiger
einrichten mußten. Mit
jenem großen staatsrechtlichen Gegenstande, der Wahl und Krönung eines
Römischen Königs, wollte es nun immer mehr Ernst werden. Der anfänglich
auf Augsburg im Oktober 1763 ausgeschriebene kurfürstliche Kollegialtag
ward nun nach Frankfurt verlegt, und sowohl zu Ende dieses Jahrs als zu
Anfang des folgenden regten sich die Vorbereitungen, welche dieses
wichtige Geschäft einleiten sollten. Den Anfang machte ein von uns noch
nie gesehener Aufzug. Eine unserer Kanzleipersonen zu Pferde, von vier
gleichfalls berittnen Trompetern begleitet und von einer Fußwache
umgeben, verlas mit lauter und vernehmlicher Stimme an allen Ecken der
Stadt ein weitläuftiges Edikt, das uns von dem Bevorstehenden
benachrichtigte, und den Bürgern ein geziemendes und den Umständen
angemessenes Betragen einschärfte. Bei Rat wurden große Überlegungen
gepflogen, und es dauerte nicht lange, so zeigte sich der
Reichsquartiermeister vom Erbmarschall abgesendet, um die Wohnungen der
Gesandten und ihres Gefolges nach altem Herkommen anzuordnen und zu
bezeichnen. Unser Haus lag im kurpfälzischen Sprengel, und wir hatten
uns einer neuen, obgleich erfreulichern Einquartierung zu versehen. Der
mittlere Stock, welchen ehmals Graf Thoranc inne gehabt, wurde einem
kurpfälzischen Kavalier eingeräumt, und da Baron von Königsthal, nürnbergischer
Geschäftsträger, den oberen Stock eingenommen hatte, so waren wir noch
mehr als zur Zeit der Franzosen zusammen gedrängt. Dieses diente mir zu
einem neuen Vorwand, außer dem Hause zu sein und die meiste Zeit des
Tages auf der Straße zuzubringen, um das, was öffentlich zu sehen war,
ins Auge zu fassen. Nachdem
uns die vorhergegangene Veränderung und Einrichtung der Zimmer auf dem
Rathause sehenswert geschienen, nachdem die Ankunft der Gesandten eines
nach dem andern und ihre erste solenne Gesamtauffahrt den 6. Februar
stattgefunden, so bewunderten wir nachher die Ankunft der kaiserlichen
Kommissarien und deren Auffahrt, ebenfalls auf den Römer, welche mit
großem Pomp geschah. Die würdige Persönlichkeit des Fürsten von
Liechtenstein machte einen guten Eindruck; doch wollten Kenner
behaupten, die prächtigen Livreen seien schon einmal bei einer andern
Gelegenheit gebraucht worden, und auch diese Wahl und Krönung werde
schwerlich an Glanz jener von Karl dem Siebenten gleichkommen. Wir Jüngern
ließen uns das gefallen, was wir vor Augen hatten, uns deuchte alles
sehr gut und manches setzte uns in Erstaunen. Der
Wahlkonvent war endlich auf den 3. März anberaumt. Nun kam die Stadt
durch neue Förmlichkeiten in Bewegung, und die wechselseitigen
Zeremoniellbesuche der Gesandten hielten uns immer auf den Beinen. Auch
mußten wir genau aufpassen, weil wir nicht nur gaffen, sondern alles
wohl bemerken sollten, um zu Hause gehörig Rechenschaft zu geben, ja
manchen kleinen Aufsatz auszufertigen, worüber sich mein Vater und Herr
von Königsthal, teils zu unserer Übung teils zu eigner Notiz, beredet
hatten. Und wirklich gereichte mir dies zu besondrem Vorteil, indem ich
über das Äußerliche so ziemlich ein lebendiges Wahl- und Krönungsdiarium
vorstellen konnte. Die
Persönlichkeiten der Abgeordneten, welche auf mich einen bleibenden
Eindruck gemacht haben, waren zunächst die des kurmainzischen ersten
Botschafters, Barons von Erthal, nochmaligen Kurfürsten. Ohne irgend
etwas Auffallendes in der Gestalt zu haben, wollte er mir in seinem
schwarzen, mit spitzen besetzten Talar immer gar wohl gefallen. Der
zweite Botschafter, Baron von Groschlag, war ein wohlgebauter, im Äußern
bequem aber höchst anständig sich betragender Weltmann. Er machte überhaupt
einen sehr behaglichen Eindruck. Fürst Esterhazy, der böhmische
Gesandte, war nicht groß aber wohlgebaut, lebhaft und zugleich vornehm
anständig, ohne Stolz und Kälte. Ich hatte eine besondre Neigung zu
ihm, weil er mich an den Marschall von Broglio erinnerte. Doch
verschwand gewissermaßen die Gestalt und Würde dieser trefflichen
Personen über dem Vorurteil, das man für den brandenburgischen
Gesandten, Baron von Plotho, gefaßt hatte. Dieser Mann, der durch eine
gewisse Spärlichkeit, sowohl in eigner Kleidung als in Livreen und
Equipagen, sich auszeichnete, war vom Siebenjährigen Kriege her als
diplomatischer Held berühmt, hatte zu Regensburg den Notarius Aprill,
der ihm die gegen seinen König ergangene Achtserklärung von einigen
Zeugen begleitet zu insinuieren gedachte, mit der lakonischen Gegenrede:
"Was! Er insinuieren?" die Treppe hinunter geworfen oder
werfen lassen. Das erste glaubten wir, weil es uns besser gefiel, und
wir es auch dem kleinen gedrungnen, mit schwarzen Feueraugen hin und
wider blickenden Manne gar wohl zutrauten. Aller Augen waren auf ihn
gerichtet, besonders wo er ausstieg. Es entstand jederzeit eine Art von
frohem Zischeln, und wenig fehlte, daß man ihm applaudiert, Vivat oder
Bravo zugerufen hätte. so hoch stand der König, und alles, was ihm mit
Leib und Seele ergeben war, in der Gunst der Menge, unter der sich außer
den Frankfurtern schon Deutsche aus allen Gegenden befanden. Einerseits
hatte ich an diesen Dingen manche Lust: weil alles, was vorging, es
mochte sein von welcher Art es wollte, doch immer eine gewisse Deutung
verbarg, irgend ein innres Verhältnis anzeigte, und solche symbolische
Zeremonien das durch so viele Pergamente, Papiere und Bücher beinah
verschüttete Deutsche Reich wieder für einen Augenblick lebendig
darstellten; andrerseits aber konnte ich mir ein geheimes Mißfallen
nicht verbergen, wenn ich nun zu Hause die innern Verhandlungen zum
Behuf meines Vaters abschreiben und dabei bemerken mußte, daß hier
mehrere Gewalten einander gegenüber standen, die sich das Gleichgewicht
hielten, und nur insofern einig waren, als sie den neuen Regenten noch
mehr als den alten zu beschränken gedachten; daß jedermann sich nur
insofern seines Einflusses freute, als er seine Privilegien zu erhalten
und zu erweitern, und seine Unabhängigkeit mehr zu sichern hoffte. Ja
man war diesmal noch aufmerksamer als sonst, weil man sich vor Joseph
dem Zweiten, vor seiner Heftigkeit und seinen vermutlichen Planen zu fürchten
anfing. Bei
meinem Großvater und den übrigen Ratsverwandten, deren Häuser ich zu
besuchen pflegte, war es auch keine gute Zeit: denn sie hatten so viel
mit Einholen der vornehmen Gäste, mit Bekomplimentieren, mit Überreichung
von Geschenken zu tun. Nicht weniger hatte der Magistrat im ganzen wie
im einzelnen sich immer zu wehren, zu widerstehn und zu protestieren,
weil bei solchen Gelegenheiten ihm jedermann etwas abzwacken oder aufbürden
will, und ihm wenige von denen, die er anspricht, beistehn oder zu Hülfe
kommen. Genug, mir trat alles nunmehr lebhaft vor Augen, was ich in der
Lersnerschen "Chronik" von ähnlichen Vorfällen bei ähnlichen
Gelegenheiten, mit Bewunderung der Geduld und Ausdauer jener guten Ratsmänner,
gelesen hatte. Mancher
Verdruß entspringt auch daher, daß sich die Stadt nach und nach mit nötigen
und unnötigen Personen anfüllt. Vergebens werden die Höfe von seiten
der Stadt an die Vorschriften der freilich veralteten Goldnen Bulle
erinnert. Nicht allein die zum Geschäft Verordneten und ihre Begleiter,
sondern manche Standes- und andre Personen, die aus Neugier oder zu
Privatzwecken herankommen, stehen unter Protektion, und die Frage: wer
eigentlich einquartiert wird und wer selbst sich eine Wohnung mieten
soll? ist nicht immer sogleich entschieden. Das Getümmel wächst, und
selbst diejenigen, die nichts dabei zu leisten oder zu verantworten
haben, fangen an, sich unbehaglich zu fühlen. Selbst
wir jungen Leute, die wir das alles wohl mit ansehen konnten, fanden
doch immer nicht genug Befriedigung für unsere Augen, für unsre
Einbildungskraft. Die spanischen Mantelkleider, die großen Federhüte
der Gesandten und hie und da noch einiges andere gaben wohl ein echt
altertümliches Ansehen; manches dagegen war wieder so halb neu oder
ganz modern, daß überall nur ein buntes unbefriedigendes, öfter sogar
geschmackloses Wesen hervortrat. Sehr glücklich machte es uns daher, zu
vernehmen, daß wegen der Herreise des Kaisers und des künftigen Königs
große Anstalten gemacht wurden, daß die kurfürstlichen
Kollegialhandlungen, bei welchen die letzte Wahlkapitulation zum Grunde
lag, eifrig vorwärts gingen, und daß der Wahltag auf den 27. März
festgesetzt sei. Nun ward an die Herbeischaffung der Reichsinsignien von
Nürnberg und Aachen gedacht, und man erwartete zunächst den Einzug des
Kurfürsten von Mainz, während mit seiner Gesandtschaft die Irrungen
wegen der Quartiere immer fortdauerten. Indessen
betrieb ich meine Kanzelistenarbeit zu Hause sehr lebhaft, und wurde
dabei freilich mancherlei kleinliche Monita gewahr, die von vielen
Seiten einliefen, und bei der neuen Kapitulation berücksichtigt werden
sollten. Jeder Stand wollte in diesem Dokument seine Gerechtsame gewahrt
und sein Ansehen vermehrt wissen. Gar viele solcher Bemerkungen und Wünsche
wurden jedoch beiseite geschoben; vieles blieb, wie es gewesen war:
gleichwohl erhielten die Monenten die bündigsten Versicherungen, daß
ihnen jene Übergehung keineswegs zum Präjudiz gereichen solle. Sehr
vielen und beschwerlichen Geschäften mußte sich indessen das
Reichsmarschallamt unterziehen: die Masse der Fremden wuchs, es wurde
immer schwieriger, sie unterzubringen. Über die Grenzen der
verschiedenen kurfürstlichen Bezirke war man nicht einig. Der Magistrat
wollte von den Bürgern die Lasten abhalten, zu denen sie nicht
verpflichtet schienen, und so gab es, bei Tag und bei Nacht, stündlich
Beschwerden, Rekurse, Streit und Mißhelligkeiten. Der Einzug des Kurfürsten
von Mainz erfolgte den 21. März. Hier fing nun das Kanonieren an, mit
dem wir auf lange Zeit mehrmals betäubt werden sollten. Wichtig in der
Reihe der Zeremonien war diese Festlichkeit: denn alle die Männer, die
wir bisher auftreten sahen, waren, so hoch sie auch standen, doch immer
nur Untergeordnete, hier aber erschien ein Souverän, ein selbständiger
Fürst, der Erste nach dem Kaiser, von einem großen, seiner würdigen
Gefolge eingeführt und begleitet. Von dem Pompe dieses Einzugs wurde
ich hier manches zu erzählen haben, wenn ich nicht später wieder
darauf zurückzukommen gedächte, und zwar bei einer Gelegenheit, die
niemand leicht erraten sollte. An
demselben Tage nämlich kam Lavater, auf seinem Rückwege von Berlin
nach Hause begriffen, durch Frankfurt, und sah diese Feierlichkeit mit
an. Ob nun gleich solche weltliche Äußerlichkeiten für ihn nicht den
mindesten Wert hatten, so mochte doch dieser Zug mit seiner Pracht und
allem Beiwesen deutlich in seine sehr lebhafte Einbildungskraft sich
eingedrückt haben: denn nach mehreren Jahren, als mir dieser vorzügliche,
aber eigene Mann eine poetische Paraphrase, ich glaube der Offenbarung
Sankt Johannis, mitteilte, fand ich den Einzug des Antichrist Schritt
vor Schritt, Gestalt vor Gestalt, Umstand vor Umstand dem Einzug des
Kurfürsten von Mainz in Frankfurt nachgebildet, dergestalt, daß sogar
die Quasten an den Köpfen der Isabellpferde nicht fehlten. Es wird sich
mehr davon sagen lassen, wenn ich zur Epoche jener wunderlichen
Dichtungsart gelange, durch welche man die alt- und neutestamentlichen
Mythen dem Anschauen und Gefühl näher zu bringen glaubte, wenn man sie
völlig ins Moderne travestierte, und ihnen aus dem gegenwärtigen
Leben, es sei nun gemeiner oder vornehmer, ein Gewand umhinge. Wie diese
Behandlungsart sich nach und nach beliebt gemacht, davon muß
gleichfalls künftig die Rede sein; doch bemerke ich hier so viel, daß
sie weiter als durch Lavater und seine Nacheiferer wohl nicht getrieben
worden, indem einer derselben die heiligen drei Könige, wie sie zu
Betlehem einreiten, so modern schilderte, daß die Fürsten und Herren,
welche Lavatern zu besuchen pflegten, persönlich darin nicht zu
verkennen waren. Wir
lassen also für diesmal den Kurfürsten Emmerich Joseph sozusagen
inkognito im Kompostell eintreffen, und wenden uns zu Gretchen, die ich,
eben als die Volksmenge sich verlief, von Pylades und seiner Schönen
begleitet (denn diese drei schienen nun unzertrennlich zu sein) im Getümmel
erblickte. Wir hatten uns kaum erreicht und begrüßt, als schon
ausgemacht war, daß wir diesen Abend zusammen zubringen wollten, und
ich fand mich bei Zeiten ein. Die gewöhnliche Gesellschaft war
beisammen, und jedes hatte etwas zu erzählen, zu sagen, zu bemerken;
wie denn dem einen dies, dem andern jenes am meisten aufgefallen war.
"Eure Reden", sagte Gretchen zuletzt, "machen mich fast
noch verworrner als die Begebenheiten dieser Tage selbst. Was ich
gesehen, kann ich nicht zusammenreimen, und möchte von manchem gar zu
gern wissen, wie es sich verhält." Ich versetzte, daß es mir ein
leichtes sei, ihr diesen Dienst zu erzeigen, sie solle nur sagen, wofür
sie sich eigentlich interessiere. Dies tat sie, und indem ich ihr
einiges erklären wollte, fand sich's, daß es besser wäre, in der
Ordnung zu verfahren. Ich verglich nicht unschicklich diese
Feierlichkeiten und Funktionen mit einem Schauspiel, wo der Vorhang nach
Belieben heruntergelassen würde, indessen die Schauspieler
fortspielten, dann werde er wieder aufgezogen und der Zuschauer könne
an jenen Verhandlungen einigermaßen wieder teilnehmen. Weil ich nun
sehr redselig war, wenn man mich gewähren ließ, so erzählte ich alles
von Anfang an bis auf den heutigen Tag, in der besten Ordnung, und versäumte
nicht, um meinen Vortrag anschaulicher zu machen, mich des vorhandenen
Griffels und der großen Schieferplatte zu bedienen. Nur durch einige
Fragen und Rechthabereien der andern wenig gestört, brachte ich meinen
Vortrag zu allgemeiner Zufriedenheit ans Ende, indem mich Gretchen durch
ihre fortgesetzte Aufmerksamkeit höchlich ermuntert hatte. Sie dankte
mir zuletzt und beneidete, nach ihrem Ausdruck, alle diejenigen, die von
den Sachen dieser Welt unterrichtet seien und wüßten, wie dieses und
jenes zugehe und was es zu bedeuten habe. Sie wünschte sich ein Knabe
zu sein, und wußte mit vieler Freundlichkeit anzuerkennen, daß sie mir
schon manche Belehrung schuldig geworden. "Wenn ich ein Knabe wäre",
sagte sie, "so wollten wir auf Universitäten zusammen etwas
Rechtes lernen." Das Gespräch ward in der Art fortgeführt, sie
setzte sich bestimmt vor, Unterricht im Französischen zu nehmen, dessen
Unerläßlichkeit sie im Laden der Putzhändlerin wohl gewahr worden.
Ich fragte sie, warum sie nicht mehr dorthin gehe: denn in der letzten
Zeit, da ich des Abends nicht viel abkommen konnte, war ich manchmal bei
Tage, ihr zu Gefallen, am Laden vorbeigegangen, um sie nur einen
Augenblick zu sehen. Sie erklärte mir, daß sie in dieser unruhigen
Zeit sich dort nicht hätte aussetzen wollen. Befände sich die Stadt
wieder in ihrem vorigen Zustande, so denke sie auch wieder hinzugehen. Nun
war von dem nächst bevorstehenden Wahltag die Rede. Was und wie es
vorgehe, wußte ich weitläufig zu erzählen, und meine Demonstration
durch umständliche Zeichnungen auf der Tafel zu unterstützen; wie ich
denn den Raum des Konklave mit seinen Altären, Thronen, Sesseln und
Sitzen vollkommen gegenwärtig hatte. - Wir schieden zu rechter Zeit und
mit sonderlichem Wohlbehagen. Denn
einem jungen Paare, das von der Natur einigermaßen harmonisch gebildet
ist, kann nichts zu einer schönern Vereinigung gereichen, als wenn das
Mädchen lehrbegierig und der Jüngling lehrhaft ist. Es entsteht daraus
ein so gründliches als angenehmes Verhältnis. Sie erblickt in ihm den
Schöpfer ihres geistigen Daseins, und er in ihr ein Geschöpf, das
nicht der Natur, dem Zufall, oder einem einseitigen Wollen, sondern
einem beiderseitigen Willen seine Vollendung verdankt; und diese
Wechselwirkung ist so süß, daß wir uns nicht wundern dürfen, wenn
seit dem alten und neuen Abälard, aus einem solchen Zusammentreffen
zweier Wesen, die gewaltsamsten Leidenschaften und so viel Glück als
Unglück entsprungen sind. Gleich
den nächsten Tag war große Bewegung in der Stadt, wegen der Visiten
und Gegenvisiten, welche nunmehr mit dem größten Zeremoniell
abgestattet wurden. Was mich aber als einen Frankfurter Bürger
besonders interessierte und zu vielen Betrachtungen veranlaßte, war die
Ablegung des Sicherheitseides, den der Rat, das Militär, die Bürgerschaft,
nicht etwa durch Repräsentanten, sondern persönlich und in Masse,
leisteten: erst auf dem großen Römersaale der Magistrat und die
Stabsoffiziere, dann auf dem großen Platze, dem Römerberg, die sämtliche
Bürgerschaft nach ihren verschiedenen Graden, Abstufungen und
Quartieren, und zuletzt das übrige Militär. Hier konnte man das ganze
Gemeinwesen mit einem Blick überschauen, versammelt zu dem ehrenvollen
Zweck, dem Haupt und den Gliedern des Reichs Sicherheit, und bei dem
bevorstehenden großen Werke unverbrüchliche Ruhe anzugeloben. Nun
waren auch Kurtrier und Kurköln in Person angekommen. Am Vorabend des
Wahltags werden alle Fremden aus der Stadt gewiesen, die Tore sind
geschlossen, die Juden in ihrer Gasse eingesperrt, und der Frankfurter Bürger
dünkt sich nicht wenig, daß er allein Zeuge einer so großen
Feierlichkeit bleiben darf. Bisher
war alles noch ziemlich modern hergegangen: die höchsten und hohen
Personen bewegten sich nur in Kutschen hin und wider; nun aber sollten
wir sie, nach uralter Weise, zu Pferde sehen. Der Zulauf und das Gedränge
war außerordentlich. Ich wußte mich in dem Römer, den ich, wie eine
Maus den heimischen Kornboden, genau kannte, so lange herumzuschmiegen,
bis ich an den Haupteingang gelangte, vor welchem die Kurfürsten und
Gesandten, die zuerst in Prachtkutschen herangefahren und sich oben
versammelt hatten, nunmehr zu Pferde steigen sollten. Die stattlichsten,
wohlzugerittenen Rosse waren mit reich gestickten Waldrappen überhangen
und auf alle Weise geschmückt. Kurfürst Emmerich Joseph, ein schöner
behaglicher Mann, nahm sich zu Pferde gut aus. Der beiden andern
erinnere ich mich weniger, als nur überhaupt, daß uns diese roten mit
Hermelin ausgeschlagenen Fürstenmäntel, die wir sonst nur auf Gemälden
zu sehen gewohnt waren, unter freiem Himmel sehr romantisch vorkamen.
Auch die Botschafter der abwesenden weltlichen Kurfürsten in ihren
goldstoffnen, mit Gold überstickten, mit goldnen Spitzentressen reich
besetzten spanischen Kleidern taten unsern Augen wohl; besonders wehten
die großen Federn von den altertümlich aufgekrempten Hüten aufs prächtigste.
Was mir aber gar nicht dabei gefallen wollte, waren die kurzen modernen
Beinkleider, die weißseidenen Strümpfe und modischen Schuhe. Wir hätten
Halbstiefelchen, so golden als man gewollt, Sandalen oder dergleichen
gewünscht, um nur ein etwas konsequenteres Kostüm zu erblicken. Im
Betragen unterschied sich auch hier der Gesandte von Plotho wieder vor
allen andern. Er zeigte sich lebhaft und munter, und schien vor der
ganzen Zeremonie nicht sonderlichen Respekt zu haben. Denn als sein
Vordermann, ein ältlicher Herr, sich nicht sogleich aufs Pferd
schwingen konnte, und er deshalb eine Weile an dem großen Eingang
warten mußte, enthielt er sich des Lachens nicht, bis sein Pferd auch
vorgeführt wurde, auf welches er sich denn sehr behend hinaufschwang
und von uns abermals als ein würdiger Abgesandter Friedrichs des
Zweiten bewundert wurde. Nun
war für uns der Vorhang wieder gefallen. Ich hatte mich zwar in die
Kirche zu drängen gesucht; allein es fand sich auch dort mehr
Unbequemlichkeit als Lust. Die Wählenden hatten sich ins Allerheiligste
zurückgezogen, in welchem weitläufige Zeremonien die Stelle einer bedächtigen
Wahlüberlegung vertraten. Nach langem Harren, Drängen und Wogen
vernahm denn zuletzt das Volk den Namen Josephs des Zweiten, der zum Römischen
König ausgerufen wurde. Der
Zudrang der Fremden in die Stadt ward nun immer stärker. Alles fuhr und
ging in Galakleidern, so daß man zuletzt nur die ganz goldenen Anzüge
bemerkenswert fand. Kaiser und König waren schon in Heusenstamm, einem
gräflich Schönbornischen Schlosse, angelangt und wurden dort herkömmlich
begrüßt und willkommen geheißen; die Stadt aber feierte diese
wichtige Epoche durch geistliche Feste sämtlicher Religionen, durch
Hochämter und Predigten, und von weltlicher Seite, zu Begleitung des
Tedeum, durch unablässiges Kanonieren. Hätte
man alle diese öffentlichen Feierlichkeiten von Anfang bis hieher als
ein überlegtes Kunstwerk angesehen, so würde man nicht viel daran
auszusetzen gefunden haben. Alles war gut vorbereitet; sachte fingen die
öffentlichen Auftritte an und wurden immer bedeutender; die Menschen
wuchsen an Zahl, die Personen an Würde, ihre Umgebungen wie sie selbst
an Pracht, und so stieg es mit jedem Tage, so daß zuletzt auch ein
vorbereitetes gefaßtes Auge in Verwirrung geriet. Der
Einzug des Kurfürsten von Mainz, welchen ausführlicher zu beschreiben
wir abgelehnt, war prächtig und imposant genug, um in der
Einbildungskraft eines vorzüglichen Mannes die Ankunft eines großen
geweissagten Weltherrschers zu bedeuten. Auch wir waren dadurch nicht
wenig geblendet worden. Nun aber spannte sich unsere Erwartung aufs höchste,
als es hieß, der Kaiser und der künftige König näherten sich der
Stadt. In einiger Entfernung von Sachsenhausen war ein Zelt errichtet,
in welchem der ganze Magistrat sich aufhielt, um dem Oberhaupte des
Reichs die gehörige Verehrung zu bezeigen und die Stadtschlüssel
anzubieten. Weiter hinaus, auf einer schönen geräumigen Ebene, stand
ein anderes, ein Prachtgezelt, wohin sich die sämtlichen Kurfürsten
und Wahlbotschafter zum Empfang der Majestäten verfügten, indessen ihr
Gefolge sich den ganzen Weg entlang erstreckte, um nach und nach, wie
die Reihe an sie käme, sich wieder gegen die Stadt in Bewegung zu
setzen und gehörig in den Zug einzutreten. Nunmehr fuhr der Kaiser bei
dem Zelt an, betrat solches, und nach ehrfurchtsvollem Empfange
beurlaubten sich die Kurfürsten und Gesandten, um ordnungsgemäß dem höchsten
Herrscher den Weg zu bahnen. Wir
andern, die wir in der Stadt geblieben, um diese Pracht innerhalb der
Mauern und Straßen noch mehr zu bewundern, als es auf freiem Felde hätte
geschehen können, wir waren durch das von der Bürgerschaft in den
Gassen aufgestellte Spalier, durch den Zudrang des Volks, durch
mancherlei dabei vorkommende Späße und Unschicklichkeiten einstweilen
gar wohl unterhalten, bis uns das Geläute der Glocken und der
Kanonendonner die unmittelbare Nähe des Herrschers ankündigten. Was
einem Frankfurter besonders wohltun mußte, war, daß bei dieser
Gelegenheit, bei der Gegenwart so vieler Souveräne und ihrer Repräsentanten,
die Reichsstadt Frankfurt auch als ein kleiner Souverän erschien: denn
ihr Stallmeister eröffnete den Zug, Reitpferde mit Wappendecken, worauf
der weiße Adler im roten Felde sich gar gut ausnahm, folgten ihm,
Bediente und Offizianten, Pauker und Trompeter, Deputierte des Rats, von
Ratsbedienten in der Stadtlivree zu Fuße begleitet. Hieran schlossen
sich die drei Kompanien der Bürgerkavallerie, sehr wohl beritten,
dieselbigen, die wir von Jugend auf bei Einholung des Geleits und andern
öffentlichen Gelegenheiten gekannt hatten. Wir erfreuten uns an dem
Mitgefühl dieser Ehre und an dem Hunderttausendteilchen einer Souveränität,
welche gegenwärtig in ihrem vollen Glanz erschien. Die verschiedenen
Gefolge des Reichserbmarschalls und der von den sechs weltlichen Kurfürsten
abgeordneten Wahlgesandten zogen sodann schrittweise daher. Keins
derselben bestand aus weniger denn zwanzig Bedienten und zwei
Staatswagen; bei einigen aus einer noch größern Anzahl. Das Gefolge
der geistlichen Kurfürsten war nun immer im steigen; die Bedienten und
Hausoffizianten schienen unzählig, Kurköln und Kurtrier hatten über
zwanzig Staatswagen, Kurmainz allein ebenso viel. Die Dienerschaft zu
Pferde und zu Fuß war durchaus aufs prächtigste gekleidet, die Herren
in den Equipagen, geistliche und weltliche, hatten es auch nicht fehlen
lassen, reich und ehrwürdig angetan und geschmückt mit allen
Ordenszeichen, zu erscheinen. Das Gefolg der kaiserlichen Majestät übertraf
nunmehr, wie billig, die übrigen. Die Bereiter, die Handpferde, die
Reitzeuge, Schabracken und Decken zogen aller Augen auf sich, und
sechzehn sechsspännige Galawägen der kaiserlichen Kammerherren,
Geheimenräte, des Oberkämmerers, Oberhofmeisters, Oberstallmeisters
beschlossen mit großem Prunk diese Abteilung des Zugs, welche,
ungeachtet ihrer Pracht und Ausdehnung, doch nur der Vortrab sein
sollte. Nun
aber konzentrierte sich die Reihe, indem sich Würde und Pracht
steigerten, immer mehr. Denn unter einer ausgewählten Begleitung
eigener Hausdienerschaft, die meisten zu Fuß, wenige zu Pferde,
erschienen die Wahlbotschafter sowie die Kurfürsten in Person, nach
aufsteigender Ordnung, jeder in einem prächtigen Staatswagen.
Unmittelbar hinter Kurmainz kündigten zehn kaiserliche Laufer,
einundvierzig Lakaien und acht Heiducken die Majestäten selbst an. Der
prächtigste Staatswagen, auch im Rücken mit einem ganzen Spiegelglas
versehen, mit Malerei, Lackierung, Schnitzwerk und Vergoldung
ausgeziert, mit rotem gestickten Samt obenher und inwendig bezogen, ließ
uns ganz bequem Kaiser und König, die längst erwünschten Häupter, in
aller ihrer Herrlichkeit betrachten. Man hatte den Zug einen weiten
Umweg geführt, teils aus Notwendigkeit, damit er sich nur entfalten könne,
teils um ihn der großen Menge Menschen sichtbar zu machen. Er war durch
Sachsenhausen, über die Brücke, die Fahrgasse, sodann die Zeile
hinunter gegangen, und wendete sich nach der innern Stadt durch die
Katharinenpforte, ein ehmaliges Tor und seit Erweiterung der Stadt ein
offner Durchgang. Hier hatte man glücklich bedacht, daß die äußere
Herrlichkeit der Welt, seit einer Reihe von Jahren, sich immer mehr in
die Höhe und Breite ausgedehnt. Man hatte gemessen und gefunden, daß
durch diesen Torweg, durch welchen so mancher Fürst und Kaiser aus- und
eingezogen, der jetzige kaiserliche Staatswagen, ohne mit seinem
Schnitzwerk und andern Äußerlichkeiten anzustoßen, nicht
hindurchkommen könne. Man beratschlagte, und zu Vermeidung eines
unbequemen Umwegs entschloß man sich, das Pflaster aufzuheben, und eine
sanfte Ab- und Auffahrt zu veranstalten. In eben dem Sinne hatte man
auch alle Wetterdächer der Läden und Buden in den Straßen ausgehoben,
damit weder die Krone, noch der Adler, noch die Genien Anstoß und
Schaden nehmen möchten. So
sehr wir auch, als dieses kostbare Gefäß mit so kostbarem Inhalt sich
uns näherte, auf die hohen Personen unsere Augen gerichtet hatten, so
konnten wir doch nicht umhin, unsern Blick auf die herrlichen Pferde,
das Geschirr und dessen Posamentschmuck zu wenden; besonders aber fielen
uns die wunderlichen, beide auf den Pferden sitzenden Kutscher und
Vorreiter auf. Sie sahen wie aus einer andern Nation, ja wie aus einer
andern Welt, in langen schwarz- und gelbsamtnen Röcken und Kappen mit
großen Federbüschen, nach kaiserlicher Hofsitte. Nun drängte sich so
viel zusammen, daß man wenig mehr unterscheiden konnte. Die
Schweizergarde zu beiden Seiten des Wagens, der Erbmarschall, das sächsische
Schwert aufwärts in der rechten Hand haltend, die Feldmarschälle als
Anführer der kaiserlichen Garden hinter dem Wagen reitend, die
kaiserlichen Edelknaben in Masse und endlich die Hatschiergarde selbst,
in schwarzsamtnen Flügelröcken, alle Nähte reich mit Gold galoniert,
darunter rote Leibröcke und lederfarbne Kamisole, gleichfalls reich mit
Gold besetzt. Man kam vor lauter Sehen, Deuten und Hinweisen gar nicht
zu sich selbst, so daß die nicht minder prächtig gekleideten
Leibgarden der Kurfürsten kaum beachtet wurden; ja wir hätten uns
vielleicht von den Fenstern zurückgezogen, wenn wir nicht noch unsern
Magistrat, der in fünfzehn zweispännigen Kutschen den Zug beschloß,
und besonders in der letzten den Ratsschreiber mit den Stadtschlüsseln
auf rotsamtenem Kissen hätten in Augenschein nehmen wollen. Daß unsere
Stadtgrenadierkompanie das Ende deckte, deuchte uns auch ehrenvoll
genug, und wir fühlten uns als Deutsche und als Frankfurter von diesem
Ehrentag doppelt und höchlich so erbaut. Wir
hatten in einem Hause Platz genommen, wo der Aufzug, wenn er aus dem Dom
zurückkam, ebenfalls wieder an uns vorbei mußte. Des Gottesdienstes,
der Musik, der Zeremonien und Feierlichkeiten, der Anreden und
Antworten, der Vorträge und Vorlesungen waren in Kirche, Chor und
Konklave so viel, bis es zur Beschwörung der Wahlkapitulation kam, daß
wir Zeit genug hatten, eine vortreffliche Kollation einzunehmen, und auf
die Gesundheit des alten und jungen Herrschers manche Flasche zu leeren.
Das Gespräch verlor sich indes, wie es bei solchen Gelegenheiten zu
gehen pflegt, in die vergangene Zeit, und es fehlte nicht an bejahrten
Personen, welche jener vor der gegenwärtigen den Vorzug gaben,
wenigstens in Absicht auf ein gewisses menschliches Interesse und einer
leidenschaftlichen Teilnahme, welche dabei vorgewaltet. Bei Franz' des
Ersten Krönung war noch nicht alles so ausgemacht, wie gegenwärtig;
der Friede war noch nicht abgeschlossen, Frankreich, Kurbrandenburg und
Kurpfalz widersetzten sich der Wahl; die Truppen des künftigen Kaisers
standen bei Heidelberg, wo er sein Hauptquartier hatte, und fast wären
die von Aachen heraufkommenden Reichsinsignien von den Pfälzern
weggenommen worden. Indessen unterhandelte man doch, und nahm von beiden
Seiten die Sache nicht aufs strengste. Maria Theresia selbst, obgleich
in gesegneten Umständen, kommt, um die endlich durchgesetzte Krönung
ihres Gemahls in Person zu sehen. Sie traf in Aschaffenburg ein und
bestieg eine Jacht, um sich nach Frankfurt zu begeben. Franz, von
Heidelberg aus, denkt seiner Gemahlin zu begegnen, allein er kommt zu spät,
sie ist schon abgefahren. Ungekannt wirft er sich in einen kleinen
Nachen, eilt ihr nach, erreicht ihr Schiff, und das liebende Paar
erfreut sich dieser überraschenden Zusammenkunft. Das Märchen davon
verbreitet sich sogleich, und alle Welt nimmt teil an diesem zärtlichen,
mit Kindern reich gesegneten Ehepaar, das seit seiner Verbindung so
unzertrennlich gewesen, daß sie schon einmal auf einer Reise von Wien
nach Florenz zusammen an der venezianischen Grenze Quarantäne halten müssen.
Maria Theresia wird in der Stadt mit Jubel bewillkommt, sie betritt den
Gasthof "Zum Römischen Kaiser", indessen auf der Bornheimer
Heide das große Zelt, zum Empfang ihres Gemahls, errichtet ist. Dort
findet sich von den geistlichen Kurfürsten nur Mainz allein, von den
Abgeordneten der weltlichen nur Sachsen, Böhmen und Hannover. Der
Einzug beginnt, und was ihm an Vollständigkeit und Pracht abgehen mag,
ersetzt reichlich die Gegenwart einer schönen Frau. Sie steht auf dem
Balkon des wohlgelegnen Hauses und begrüßt mit Vivatruf und Händeklatschen
ihren Gemahl: das Volk stimmt ein, zum größten Enthusiasmus aufgeregt.
Da die Großen nun auch einmal Menschen sind, so denkt sie der Bürger,
wenn er sie lieben will, als seinesgleichen, und das kann er am füglichsten,
wenn er sie als liebende Gatten, als zärtliche Eltern, als anhängliche
Geschwister, als treue Freunde sich vorstellen darf. Man hatte damals
alles Gute gewünscht und prophezeit, und heute sah man es erfüllt an
dem erstgebornen Sohne, dem jedermann wegen seiner schönen Jünglingsgestalt
geneigt war, und auf den die Welt, bei den hohen Eigenschaften, die er
ankündigte, die größten Hoffnungen setzte. Wir
hatten uns ganz in die Vergangenheit und Zukunft verloren, als einige
hereintretende Freunde uns wieder in die Gegenwart zurückriefen. Sie
waren von denen, die den Wert einer Neuigkeit einsehen, und sich
deswegen beeilen, sie zuerst zu verkündigen. Sie wußten auch einen schönen
menschlichen Zug dieser hohen Personen zu erzählen, die wir soeben in
dem größten Prunk vorbeiziehen gesehn. Es war nämlich verabredet
worden, daß unterwegs, zwischen Heusenstamm und jenem großen Gezelte,
Kaiser und König den Landgrafen von Darmstadt im Wald antreffen
sollten. Dieser alte, dem Grabe sich nähernde Fürst wollte noch einmal
den Herrn sehen, dem er in früherer Zeit sich gewidmet. Beide mochten
sich jenes Tages erinnern, als der Landgraf das Dekret der Kurfürsten,
das Franzen zum Kaiser erwählte, nach Heidelberg überbrachte, und die
erhaltenen kostbaren Geschenke mit Beteuerung einer unverbrüchlichen
Anhänglichkeit erwiderte. Diese hohen Personen standen in einem
Tannicht, und der Landgraf, vor Alter schwach, hielt sich an eine
Fichte, um das Gespräch noch länger fortsetzen zu können, das von
beiden Teilen nicht ohne Rührung geschah. Der Platz ward nachher auf
eine unschuldige Weise bezeichnet, und wir jungen Leute sind einigemal
hingewandert. So
hatten wir mehrere Stunden mit Erinnerung des Alten mit Erwägung des
Neuen hingebracht, als der Zug abermals, jedoch abgekürzt und gedrängter,
vor unsern Augen vorbeiwogte; und wir konnten das einzelne näher
beobachten, bemerken und uns für die Zukunft einprägen. Von
dem Augenblick an war die Stadt in ununterbrochener Bewegung: denn bis
alle und jede, denen es zukommt und von denen es gefordert wird, den höchsten
Häuptern ihre Aufwartung gemacht und sich einzeln denselben dargestellt
hatten, war des Hin- und Widerziehens kein Ende, und man konnte den
Hofstaat eines jeden der hohen Gegenwärtigen ganz bequem im einzelnen
wiederholen. Nun
kamen auch die Reichsinsignien heran. Damit es aber auch hier nicht an
hergebrachten Händeln fehlen möge, so mußten sie auf freiem Felde den
halben Tag bis in die späte Nacht zubringen, wegen einer Territorial-
und Geleitsstreitigkeit zwischen Kurmainz und der Stadt. Die letzte gab
nach, die Mainzischen geleiteten die Insignien bis an den Schlagbaum,
und somit war die Sache für diesmal abgetan. In
diesen Tagen kam ich nicht zu mir selbst. Zu Hause gab es zu schreiben
und zu kopieren; sehen wollte und sollte man alles, und so ging der März
zu Ende, dessen zweite Hälfte für uns so festreich gewesen war. Von
dem, was zuletzt vorgegangen und was am Krönungstag zu erwarten sei,
hatte ich Gretchen eine treuliche und ausführliche Belehrung
versprochen. Der große Tag nahte heran; ich hatte mehr im Sinne, wie
ich es ihr sagen wollte, als was eigentlich zu sagen sei; ich
verarbeitete alles, was mir unter die Augen und unter die Kanzleifeder
kam, nur geschwind zu diesem nächsten und einzigen Gebrauch. Endlich
erreichte ich noch eines Abends ziemlich spät ihre Wohnung, und tat mir
schon im voraus nicht wenig darauf zugute, wie mein diesmaliger Vortrag
noch viel besser als der erste, unvorbereitete gelingen sollte. Allein
gar oft bringt uns selbst, und andern durch uns, ein augenblicklicher
Anlaß mehr Freude, als der entschiedenste Vorsatz nicht gewähren kann.
Zwar fand ich ziemlich dieselbe Gesellschaft, allein es waren einige
Unbekannte darunter. Sie setzten sich hin zu spielen; nur Gretchen und
der jüngere Vetter hielten sich zu mir und der Schiefertafel. Das liebe
Mädchen äußerte gar anmutig ihr Behagen, daß sie, als eine Fremde,
am Wahltage für eine Bürgerin gegolten habe, und ihr dieses einzige
Schauspiel zuteil geworden sei. Sie dankte mir aufs verbindlichste, daß
ich für sie zu sorgen gewußt, und ihr zeither durch Pylades allerlei
Einlässe mittels Billette, Anweisungen, Freunde und Vorsprache zu
verschaffen die Aufmerksamkeit gehabt. Von
den Reichskleinodien hörte sie gern erzählen. Ich versprach ihr, daß
wir diese wo möglich zusammen sehen wollten. Sie machte einige
scherzhafte Anmerkungen, als sie erfuhr, daß man Gewänder und Krone
dem jungen König anprobiert habe. Ich wußte, wo sie den
Feierlichkeiten des Krönungstages zusehen würde, und machte sie
aufmerksam auf alles, was bevorstand und was besonders von ihrem Platze
genau beobachtet werden konnte. So
vergaßen wir an die Zeit zu denken; es war schon über Mitternacht
geworden, und ich fand, daß ich unglücklicherweise den Hausschlüssel
nicht bei mir hatte. Ohne das größte Aufsehen zu erregen, konnte ich
nicht ins Haus. Ich teilte ihr meine Verlegenheit mit. "Am
Ende", sagte sie, "ist es das beste, die Gesellschaft bleibt
beisammen." Die Vettern und jene Fremden hatten schon den Gedanken
gehabt, weil man nicht wußte, wo man diese für die Nacht unterbringen
sollte. Die Sache war bald entschieden; Gretchen ging, um Kaffee zu
kochen, nachdem sie, weil die Lichter auszubrennen drohten, eine große
messingene Familienlampe mit Docht und Öl versehen und angezündet
hereingebracht hatte. Der
Kaffee diente für einige Stunden zur Ermunterung; nach und nach aber
ermattete das Spiel, das Gespräch ging aus; die Mutter schlief im großen
Sessel; die Fremden, von der Reise müde, nickten da und dort, Pylades
und seine Schöne saßen in einer Ecke. Sie hatte ihren Kopf auf seine
Schulter gelegt und schlief; auch er wachte nicht lange. Der jüngere
Vetter, gegen uns über am Schiefertische sitzend, hatte seine Arme vor
sich über einander geschlagen und schlief mit aufliegendem Gesichte.
Ich saß in der Fensterecke hinter dem Tische und Gretchen neben mir.
Wir unterhielten uns leise; aber endlich übermannte auch sie der
Schlaf, sie lehnte ihr Köpfchen an meine Schulter und war gleich
eingeschlummert. So saß ich nun allein, wachend, in der wunderliebsten
Lage, in der auch mich der freundliche Bruder des Todes zu beruhigen wußte.
Ich schlief ein, und als ich wieder erwachte, war es schon heller Tag.
Gretchen stand vor dem Spiegel und rückte ihr Häubchen zurechte; sie
war liebenswürdiger als je, und drückte mir, als ich schied, gar
herzlich die Hände. Ich schlich durch einen Umweg nach unserm. Hause:
denn an der Seite, nach dem kleinen Hirschgraben zu, hatte sich mein
Vater in der Mauer ein kleines Guckfenster, nicht ohne Widerspruch des
Nachbarn, angelegt. Diese Seite vermieden wir, wenn wir nach Hause
kommend von ihm nicht bemerkt sein wollten. Meine Mutter, deren
Vermittelung uns immer zugute kam, hatte meine Abwesenheit des Morgens
beim Tee durch ein frühzeitiges Ausgehen meiner zu beschönigen
gesucht, und ich empfand also von dieser unschuldigen Nacht keine
unangenehmen Folgen. Überhaupt
und im ganzen genommen machte diese unendlich mannigfaltige Welt, die
mich umgab, auf mich nur sehr einfachen Eindruck. Ich hatte kein
Interesse, als das Äußere der Gegenstände genau zu bemerken, kein
Geschäft, als das mir mein Vater und Herr von Königsthal auftrugen,
wodurch ich freilich den innern Gang der Dinge gewahr ward. Ich hatte
keine Neigung als zu Gretchen, und keine andre Absicht, als nur alles
recht gut zu sehen und zu fassen, um es mit ihr wiederholen und ihr erklären
zu können. Ja, ich beschrieb oft, indem ein solcher Zug vorbeiging,
diesen Zug halb laut vor mir selbst, um mich alles einzelnen zu
versichern, und dieser Aufmerksamkeit und Genauigkeit wegen von meiner
Schönen gelobt zu werden; und nur als eine Zugabe betrachtete ich den
Beifall und die Anerkennung der anderen. Zwar
ward ich manchen hohen und vornehmen Personen vorgestellt; aber teils
hatte niemand Zeit, sich um andere zu bekümmern, und teils wissen auch
Ältere nicht gleich, wie sie sich mit einem jungen Menschen unterhalten
und ihn prüfen sollen. Ich von meiner Seite war auch nicht sonderlich
geschickt, mich den Leuten bequem darzustellen. Gewöhnlich erwarb ich
ihre Gunst, aber nicht ihren Beifall. Was mich beschäftigte, war mir
vollkommen gegenwärtig; aber ich fragte nicht, ob es auch andern gemäß
sein könne. Ich war meist zu lebhaft oder zu still, und schien entweder
zudringlich oder stockig, je nachdem die Menschen mich anzogen oder
abstießen; und so wurde ich zwar für hoffnungsvoll gehalten, aber
dabei für wunderlich erklärt. Der
Krönungstag brach endlich an, den 3. April 1764; das Wetter war günstig
und alle Menschen in Bewegung. Man hatte mir, nebst mehrern Verwandten
und Freunden, in dem Römer selbst, in einer der obern Etagen, einen
guten Platz angewiesen, wo wir das Ganze vollkommen übersehen konnten.
Mit dem frühsten begaben wir uns an Ort und Stelle, und beschauten
nunmehr von oben, wie in der Vogelperspektive, die Anstalten, die wir
tags vorher in näheren Augenschein genommen hatten. Da war der
neuerrichtete Springbrunnen mit zwei großen Kufen rechts und links, in
welche der Doppeladler auf dem Ständer weißen Wein hüben und roten
Wein drüben aus seinen zwei Schnäbeln ausgießen sollte. Aufgeschüttet
zu einem Haufen lag dort der Haber, hier stand die große Bretterhütte,
in der man schon einige Tage den ganzen fetten Ochsen an einem
ungeheuren Spieße bei Kohlenfeuer braten und schmoren sah. Alle Zugänge,
die vom Römer aus dahin, und von andern Straßen nach dem Römer führen,
waren zu beiden Seiten durch Schranken und Wachen gesichert. Der große
Platz füllte sich nach und nach, und das Wogen und Drängen ward immer
stärker und bewegter, weil die Menge wo möglich immer nach der Gegend
hinstrebte, wo ein neuer Auftritt erschien und etwas Besonderes angekündigt
wurde. Bei
alledem herrschte eine ziemliche Stille, und als die Sturmglocke geläutet
wurde, schien das ganze Volk von Schauer und Erstaunen ergriffen. Was
nun zuerst die Aufmerksamkeit aller, die von oben herab den Platz übersehen
konnten, erregte, war der Zug, in welchem die Herren von Aachen und Nürnberg
die Reichskleinodien nach dem Dome brachten. Diese hatten als
Schutzheiligtümer den ersten Platz im Wagen eingenommen, und die
Deputierten saßen vor ihnen in anständiger Verehrung auf dem Rücksitz.
Nunmehr begeben sich die drei Kurfürsten in den Dom. Nach Überreichung
der Insignien an Kurmainz werden Krone und Schwert sogleich nach dem
kaiserlichen Quartier gebracht. Die weiteren Anstalten und mancherlei
Zeremoniell beschäftigen mittlerweile die Hauptpersonen sowie die
Zuschauer in der Kirche, wie wir andern Unterrichteten uns wohl denken
konnten. Vor
unsern Augen fuhren indessen die Gesandten auf den Römer, aus welchem
der Baldachin von Unteroffizieren in das kaiserliche Quartier getragen
wird. Sogleich besteigt der Erbmarschall Graf von Pappenheim sein Pferd;
ein sehr schöner schlankgebildeter Herr, den die spanische Tracht, das
reiche Wams, der goldne Mantel, der hohe Federhut und die gestrählten
fliegenden Haare sehr wohl kleideten. Er setzt sich in Bewegung, und
unter dem Geläute aller Glocken folgen ihm zu Pferde die Gesandten nach
dem kaiserlichen Quartier in noch größerer Pracht als am Wahltage.
Dort hätte man auch sein mögen, wie man sich an diesem Tage zu
vervielfältigen wünschte. Wir erzählten einander indessen, was dort
vorgehe. "Nun zieht der Kaiser seinen Hausornat an", sagten
wir, "eine neue Bekleidung nach dem Muster der alten Karolingischen
verfertigt. Die Erbämter erhalten die Reichsinsignien und setzen sich
damit zu Pferde. Der Kaiser im Ornat, der Römische König im spanischen
Habit besteigen gleichfalls ihre Rosse, und indem dieses geschieht, hat
sie uns der vorausbeschrittene unendliche Zug bereits angemeldet." Das
Auge war schon ermüdet durch die Menge der reichgekleideten
Dienerschaft und der übrigen Behörden, durch den stattlich
einherwandelnden Adel; und als nunmehr die Wahlbotschafter, die Erbämter
und zuletzt unter dem reichgestickten, von zwölf Schöffen und
Ratsherrn getragenen Baldachin der Kaiser in romantischer Kleidung, zur
Linken, etwas hinter ihm, sein Sohn in spanischer Tracht, langsam auf prächtig
geschmückten Pferden einherschwebten, war das Auge nicht mehr sich
selbst genug. Man hätte gewünscht, durch eine Zauberformel die
Erscheinung nur einen Augenblick zu fesseln, aber die Herrlichkeit zog
unaufhaltsam vorbei, und den kaum verlassenen Raum erfüllte sogleich
wieder das hereinwogende Volk. Nun
aber entstand ein neues Gedränge: denn es mußte ein anderer Zugang,
von dem Markte her, nach der Römertüre eröffnet und ein Bretterweg
aufgebrückt werden, welchen der aus dem Dom zurückkehrende Zug
beschreiten sollte. Was in dem Dame vorgegangen, die unendlichen
Zeremonien, welche die Salbung, die Krönung, den Ritterschlag
vorbereiten und begleiten, alles dieses ließen wir uns in der Folge gar
gern von denen erzählen, die manches andere aufgeopfert hatten, um in
der Kirche gegenwärtig zu sein. Wir
andern verzehrten mittlerweile auf unsern Plätzen eine frugale
Mahlzeit: denn wir mußten an dem festlichsten Tage, den wir erlebten,
mit kalter Küche vorlieb nehmen. Dagegen aber war der beste und älteste
Wein aus allen Familienkellern herangebracht worden, so daß wir von
dieser Seite wenigstens dies altertümliche Fest altertümlich feierten. Auf
dem Platze war jetzt das Sehenswürdigste die fertig gewordene und mit
rot, gelb und weißem Tuch überlegte Brücke, und wir sollten den
Kaiser, den wir zuerst im Wagen, dann zu Pferde sitzend angestaunt, nun
auch zu Fuße wandelnd bewundern; und sonderbar genug, auf das letzte
freuten wir uns am meisten; denn uns deuchte diese Weise sich
darzustellen so wie die natürlichste, so auch die würdigste. Ältere
Personen, welche der Krönung Franz' des Ersten beigewohnt, erzählten:
Maria Theresia, über die Maßen schön, habe jener Feierlichkeit an
einem Balkonfenster des Hauses Frauenstein, gleich neben dem Römer,
zugesehen. Als nun ihr Gemahl in der seltsamen Verkleidung aus dem Dome
zurückgekommen, und sich ihr sozusagen als ein Gespenst Karls des Großen
dargestellt, habe er wie zum Scherz beide Hände erhoben und ihr den
Reichsapfel, den Szepter und die wundersamen Handschuh hingewiesen, worüber
sie in ein unendliches Lachen ausgebrochen; welches dem ganzen
zuschauenden Volke zur größten Freude und Erbauung gedient, indem es
darin das gute und natürliche Ehgattenverhältnis des allerhöchsten
Paares der Christenheit mit Augen zu sehen gewürdiget worden. Als aber
die Kaiserin, ihren Gemahl zu begrüßen, das Schnupftuch geschwungen
und ihm selbst ein lautes Vivat zugerufen, sei der Enthusiasmus und der
Jubel des Volks aufs höchste gestiegen, so daß das Freudengeschrei gar
kein Ende finden können. Nun
verkündigte der Glockenschall und nun die Vordersten des langen Zuges,
welche über die bunte Brücke ganz sachte einherschritten, daß alles
getan sei. Die Aufmerksamkeit war größer denn je, der Zug deutlicher
als vorher, besonders für uns, da er jetzt gerade nach uns zuging. Wir
sahen ihn sowie den ganzen volkserfüllten Platz beinah im Grundriß.
Nur zu sehr drängte sich am Ende die Pracht: denn die Gesandten, die
Erbämter, Kaiser und König unter dem Baldachin, die drei geistlichen
Kurfürsten, die sich anschlossen, die schwarz gekleideten Schöffen und
Ratsherren, der goldgestickte Himmel, alles schien nur eine Masse zu
sein, die, nur von einem Willen bewegt, prächtig harmonisch, und soeben
unter dem Geläute der Glocken aus dem Tempel tretend, als ein Heiliges
uns entgegenstrahlte. Eine
politisch-religiöse Feierlichkeit hat einen unendlichen Reiz. Wir sehen
die irdische Majestät vor Augen, umgeben von allen Symbolen ihrer
Macht; aber indem sie sich vor der himmlischen beugt, bringt sie uns die
Gemeinschaft beider vor die Sinne. Denn auch der einzelne vermag seine
Verwandtschaft mit der Gottheit nur dadurch zu betätigen, daß er sich
unterwirft und anbetet. Der
von dem Markt her ertönende Jubel verbreitete sich nun auch über den
großen Platz, und ein ungestümes Vivat erscholl aus tausend und aber
tausend Kehlen, und gewiß auch aus den Herzen. Denn dieses große Fest
sollte ja das Pfand eines dauerhaften Friedens werden, der auch wirklich
lange Jahre hindurch Deutschland beglückte. Mehrere
Tage vorher war durch öffentlichen Ausruf bekannt gemacht, daß weder
die Brücke noch der Adler über dem Brunnen preisgegeben, und also
nicht vom Volke wie sonst angetastet werden solle. Es geschah dies, um
manches bei solchen Anstürmen unvermeidliche Unglück zu verhüten.
Allein um doch einigermaßen dem Genius des Pöbels zu opfern, gingen
eigens bestellte Personen hinter dem Zuge her, lösten das Tuch von der
Brücke, wickelten es bahnenweise zusammen und warfen es in die Luft.
Hiedurch entstand nun zwar kein Unglück, aber ein lächerliches Unheil:
denn das Tuch entrollte sich in der Luft und bedeckte, wie es
niederfiel, eine größere oder geringere Anzahl Menschen. Diejenigen
nun, welche die Enden faßten und solche an sich zogen, rissen alle die
Mittleren zu Boden, umhüllten und ängstigten sie so lange, bis sie
sich durchgerissen oder durchgeschnitten, und jeder nach seiner Weise
einen Zipfel dieses durch die Fußtritte der Majestäten geheiligten
Gewebes davongetragen hatte. Dieser
wilden Belustigung sah ich nicht lange zu, sondern eilte von meinem
hohen Standorte durch allerlei Treppchen und Gänge hinunter an die große
Römerstiege, wo die aus der Ferne angestaunte so vornehme als herrliche
Masse heraufwallen sollte. Das Gedräng war nicht groß, weil die Zugänge
des Rathauses wohl besetzt waren, und ich kam glücklich unmittelbar
oben an das eiserne Geländer. Nun stiegen die Hauptpersonen an mir vorüber,
indem das Gefolge in den untern Gewölbgängen zurückblieb, und ich
konnte sie auf der dreimal gebrochnen Treppe von allen Seiten und
zuletzt ganz in der Nähe betrachten. Endlich
kamen auch die beiden Majestäten herauf. Vater und Sohn waren wie Menächmen
überein gekleidet. Des Kaisers Hausornat von purpurfarbner Seide, mit
Perlen und Steinen reich geziert, sowie Krone, Szepter und Reichsapfel
fielen wohl in die Augen: denn alles war neu daran, und die Nachahmung
des Altertums geschmackvoll. So bewegte er sich auch in seinem Anzuge
ganz bequem, und sein treuherzig würdiges Gesicht gab zugleich den
Kaiser und den Vater zu erkennen. Der junge König hingegen schleppte
sich in den ungeheuren Gewandstücken mit den Kleinodien Karls des Großen,
wie in einer Verkleidung, einher, so daß er selbst, von Zeit zu Zeit
seinen Vater ansehend, sich des Lächelns nicht enthalten konnte. Die
Krone, welche man sehr hatte füttern müssen, stand wie ein übergreifendes
Dach vom Kopf ab. Die Dalmatika, die Stola, so gut sie auch angepaßt
und eingenäht worden, gewährte doch keineswegs ein vorteilhaftes
Aussehen. Szepter und Reichsapfel setzten in Verwunderung; aber man
konnte sich nicht leugnen, daß man lieber eine mächtige, dem Anzuge
gewachsene Gestalt, um der günstigem Wirkung willen, damit bekleidet
und ausgeschmückt gesehen hätte. Kaum
waren die Pforten des großen Saales hinter diesen Gestalten wieder
geschlossen, so eilte ich auf meinen vorigen Platz, der, von andern
bereits eingenommen, nur mit einiger Not mir wieder zuteil wurde. Es
war eben die rechte Zeit, daß ich von meinem Fenster wieder Besitz
nahm: denn das Merkwürdigste, was öffentlich zu erblicken war, sollte
eben vorgehen. Alles Volk hatte sich gegen den Römer zu gewendet, und
ein abermaliges Vivatschreien gab uns zu erkennen, daß Kaiser und König
an dem Balkonfenster des großen Saales in ihrem Ornate sich dem Volke
zeigten. Aber sie sollten nicht allein zum Schauspiel dienen, sondern
vor ihren Augen sollte ein seltsames Schauspiel vorgehen. Vor allen
schwang sich nun der schöne schlanke Erbmarschall auf sein Roß; er
hatte das Schwert abgelegt, in seiner Rechten hielt er ein silbernes
gehenkeltes Gemäß, und ein Streichblech in der Linken, so ritt er in
den Schranken auf den großen Haferhaufen zu, sprengte hinein, schöpfte
das Gefäß übervoll, strich es ab und trug es mit großem Anstande
wieder zurück. Der kaiserliche Marstall war nunmehr versorgt. Der Erbkämmerer
ritt sodann gleichfalls auf jene Gegend zu und brachte ein Handbecken
nebst Gießfaß und Handquehle zurück. Unterhaltender aber für die
Zuschauer war der Erbtruchseß, der ein Stück von dem gebratnen Ochsen
zu holen kam. Auch er ritt mit einer silbernen Schüssel durch die
Schranken bis zu der großen Bretterküche, und kam bald mit verdecktem
Gericht wieder hervor, um seinen Weg nach dem Römer zu nehmen. Die
Reihe traf nun den Erbschenken, der zu dem Springbrunnen ritt und Wein
holte. So war nun auch die kaiserliche Tafel bestellt, und aller Augen
warteten auf den Erbschatzmeister, der das Geld auswerfen sollte. Auch
er bestieg ein schönes Roß, dem zu beiden Seiten des Sattels anstatt
der Pistolenhalftern ein paar prächtige mit dem kurpfälzischen Wappen
gestickte Beutel befestigt hingen. Kaum hatte er sich in Bewegung
gesetzt, als er in diese Taschen griff und rechts und links Gold- und
Silbermünzen freigebig ausstreute, welche jedesmal in der Luft als ein
metallner Regen gar lustig glänzten. Tausend Hände zappelten
augenblicklich in der Höhe, um die Gaben aufzufangen; kaum aber waren
die Münzen niedergefallen, so wühlte die Masse in sich selbst gegen
den Boden und rang gewaltig um die Stücke, welche zur Erde mochten
gekommen sein. Da nun diese Bewegung von beiden Seiten sich immer
wiederholte, wie der Geber vorwärts ritt, so war es für die Zuschauer
ein sehr belustigender Anblick. Zum Schlusse ging es am
allerlebhaftesten her, als er die Beutel selbst auswarf, und ein jeder
noch diesen höchsten Preis zu erhaschen trachtete. Die
Majestäten hatten sich vom Balkon zurückgezogen, und nun sollte dem Pöbel
abermals ein Opfer gebracht werden, der in solchen Fällen lieber die
Gaben rauben als sie gelassen und dankbar empfangen will. In rohem und
derberen Zeiten herrschte der Gebrauch, den Hafer, gleich nachdem der
Erbmarschall das Teil weggenommen, den Springbrunnen, nachdem der
Erbschenk, die Küche, nachdem der Erbtruchseß sein Amt verrichtet, auf
der Stelle preiszugeben. Diesmal aber hielt man, um alles Unglück zu
verhüten, so viel es sich tun ließ, Ordnung und Maß. Doch fielen die
alten schadenfrohen Späße wieder vor, daß, wenn einer einen Sack
Hafer aufgepackt hatte, der andre ihm ein Loch hineinschnitt, und was
dergleichen Artigkeiten mehr waren. Um den gebratnen Ochsen aber wurde
diesmal wie sonst ein ernsterer Kampf geführt. Man konnte sich
denselben nur in Masse streitig machen. Zwei Innungen, die Metzger und
Weinschröter, hatten sich hergebrachtermaßen wieder so postiert, daß
einer von beiden dieser ungeheure Braten zuteil werden mußte. Die
Metzger glaubten das größte Recht an einen Ochsen zu haben, den sie
unzerstückt in die Küche geliefert; die Weinschröter dagegen machten
Anspruch, weil die Küche in der Nähe ihres zunftmäßigen Aufenthalts
erbaut war, und weil sie das letztemal obgesiegt hatten; wie denn aus
dem vergitterten Giebelfenster ihres Zunft- und Versammlungshauses die Hörner
jenes erbeuteten Stiers als Siegeszeichen hervorstarrend zu sehen waren.
Beide zahlreichen Innungen hatten sehr kräftige und tüchtige
Mitglieder; wer aber diesmal den Sieg davongetragen, ist mir nicht mehr
erinnerlich. Wie
nun aber eine Feierlichkeit dieser Art mit etwas Gefährlichem und
Schreckhaften schließen soll, so war es wirklich ein fürchterlicher
Augenblick, als die bretterne Küche selbst preisgemacht wurde. Das Dach
derselben wimmelte sogleich von Menschen, ohne daß man wußte, wie sie
hinaufgekommen; die Bretter wurden losgerissen und heruntergestürzt, so
daß man, besonders in der Ferne denken mußte, ein jedes werde ein paar
der Zudringenden totschlagen. In einem Nu war die Hütte abgedeckt, und
einzelne Menschen hingen an Sparren und Balken, um auch diese aus den
Fugen zu reißen, ja manche schwebten noch oben herum, als schon unten
die Pfosten abgesägt waren, das Gerippe hin und wider schwankte und jähen
Einsturz drohte. Zarte Personen wandten die Augen hinweg, und jedermann
erwartete sich ein großes Unglück; allein man hörte nicht einmal von
irgend einer Beschädigung, und alles war, obgleich heftig und
gewaltsam, doch glücklich vorübergegangen. Jedermann
wußte nun, daß Kaiser und König aus dem Kabinett, wohin sie vom
Balkon abgetreten, sich wieder hervorbegeben und in dem großen Römersaale
speisen würden. Man hatte die Anstalten dazu Tages vorher bewundern können,
und mein sehnlichster Wunsch war, heute wo möglich nur einen Blick
hinein zu tun. Ich begab mich daher auf gewohnten Pfaden wieder an die
große Treppe, welcher die Türe des Saales gerade gegenüber steht.
Hier staunte ich nun die vornehmen Personen an, welche sich heute als
Diener des Reichsoberhauptes bekannten. Vierundvierzig Grafen, die
Speisen aus der Küche herantragend, zogen an mir vorbei, alle prächtig
gekleidet, so daß der Kontrast ihres Anstandes mit der Handlung für
einen Knaben wohl sinnverwirrend sein konnte. Das Gedränge war nicht
groß, doch wegen des kleinen Raums merklich genug. Die Saaltüre war
bewacht, indes gingen die Befugten häufig aus und ein. Ich erblickte
einen pfälzischen Hausoffizianten, den ich anredete, ob er mich nicht
mit hineinbringen könne. Er besann sich nicht lange, gab mir eins der
silbernen Gefäße, die er eben trug, welches er um so eher konnte, als
ich sauber gekleidet war; und so gelangte ich denn in das Heiligtum. Das
pfälzische Büffet stand links, unmittelbar an der Türe, und mit
einigen Schritten befand ich mich auf der Erhöhung desselben hinter den
Schranken. Am
andern Ende des Saals, unmittelbar an den Fenstern, saßen auf
Thronstufen erhöht, unter Baldachinen, Kaiser und König in ihren
Ornaten; Krone und Szepter aber lagen auf goldnen Kissen rückwärts in
einiger Entfernung. Die drei geistlichen Kurfürsten hatten, ihre Büffette
hinter sich, auf einzelnen Estraden Platz genommen: Kurmainz den Majestäten
gegenüber, Kurtrier zur Rechten und Kurköln zur Linken. Dieser obere
Teil des Saals war würdig und erfreulich anzusehen, und erregte die
Bemerkung, daß die Geistlichkeit sich so lange als möglich mit dem
Herrscher halten mag. Dagegen ließen die zwar prächtig aufgeputzten
aber herrenleeren Büffette und Tische der sämtlichen weltlichen Kurfürsten
an das Mißverhältnis denken, welches zwischen ihnen und dem
Reichsoberhaupt durch Jahrhunderte allmählich entstanden war. Die
Gesandten derselben hatten sich schon entfernt, um in einem Seitenzimmer
zu speisen; und wenn dadurch der größte Teil des Saales ein
gespensterhaftes Ansehn bekam, daß so viele unsichtbare Gäste auf das
prächtigste bedient wurden, so war eine große unbesetzte Tafel in der
Mitte noch trüber anzusehen: denn hier standen auch so viele Couverte
leer, weil alle die, welche allenfalls ein Recht hatten sich daran zu
setzen, anstandshalber, um an dem größten Ehrentage ihrer Ehre nichts
zu vergeben, ausblieben, wenn sie sich auch dermalen in der Stadt
befanden. Viele
Betrachtungen anzustellen erlaubten mir weder meine Jahre noch das Getränk
der Gegenwart. Ich bemühte mich, alles möglichst ins Auge zu fassen,
und wie der Nachtisch aufgetragen wurde, da die Gesandten, um ihren Hof
zu machen, wieder hereintraten, suchte ich das Freie, und wußte mich
bei guten Freunden in der Nachbarschaft nach dem heutigen Halbfasten
wieder zu erquicken und zu den Illuminationen des Abends vorzubereiten. Diesen
glänzenden Abend gedachte ich auf eine gemütliche Weise zu feiern:
denn ich hatte mit Gretchen, mit Pylades und der Seinigen angeredet, daß
wir uns zur nächtigen Stunde irgendwo treffen wollten. Schon leuchtete
die Stadt an allen Ecken und Enden, als ich meine Geliebten antraf. Ich
reichte Gretchen den Arm, wir zogen von einem Quartier zum andern, und
befanden uns zusammen sehr glücklich. Die Vettern waren anfangs auch
bei der Gesellschaft, verloren sich aber nachher unter der Masse des
Volks. Vor den Häusern einiger Gesandten, wo man prächtige
Illuminationen angebracht hatte (die kurpfälzische zeichnete sich vorzüglich
aus), war es so hell, wie es am Tage nur sein kann. Um nicht erkannt zu
werden, hatte ich mich einigermaßen vermummt, und Gretchen fand es
nicht übel. Wir bewunderten die verschiedenen glänzenden Darstellungen
und die feenmäßigen Flammengebäude, womit immer ein Gesandter den
andern zu überbieten gedacht hatte. Die Anstalt des Fürsten Esterhazy
jedoch übertraf alle die übrigen. Unsere kleine Gesellschaft war von
der Erfindung und Ausführung entzückt, und wir wollten eben das
einzelne recht genießen, als uns die Vettern wieder begegneten und von
der herrlichen Erleuchtung sprachen, womit der brandenburgische Gesandte
sein Quartier ausgeschmückt habe. Wir ließen uns nicht verdrießen,
den weiten Weg von dem Roßmarkte bis zum Saalhof zu machen, fanden
aber, daß man uns auf eine frevle Weise zum besten gehabt hatte. Der
Saalhof ist nach dem Main zu ein regelmäßiges und ansehnliches Gebäude,
dessen nach der Stadt gerichteter Teil aber uralt, unregelmäßig und
unscheinbar. Kleine, weder in Form noch Größe übereinstimmende, noch
auf eine Linie, noch in gleicher Entfernung gesetzte Fenster,
unsymmetrisch angebrachte Tore und Türen, ein meist in Kramläden
verwandeltes Untergeschoß bilden eine verworrene Außenseite, die von
niemand jemals betrachtet wird. Hier war man nun der zufälligen,
unregelmäßigen, unzusammenhängenden Architektur gefolgt, und hatte
jedes Fenster, jede Türe, jede Öffnung für sich mit Lampen umgeben,
wie man es allenfalls bei einem wohlgebauten Hause tun kann, wodurch
aber hier die schlechteste und mißgebildetste aller Fassaden ganz
unglaublich in das hellste Licht gesetzt wurde. Hatte man sich nun
hieran wie etwa an den Späßen des Pagliasso ergetzt, obgleich nicht
ohne Bedenklichkeiten, weil jedermann etwas Vorsätzliches darin
erkennen mußte; wie man denn schon vorher über das sonstige äußre
Benehmen des übrigens sehr geschätzten Plotho glossiert, und, da man
ihm nun einmal gewogen war, auch Schalk in ihm bewundert hatte, der sich
über alles Zeremoniell wie sein König hinauszusetzen pflege: so ging
man doch lieber in das Esterhazysche Feenreich wieder zurück. Dieser
hohe Botschafter hatte, diesen Tag zu ehren, sein ungünstig gelegenes
Quartier ganz übergangen, und dafür die große Lindenesplanade am Roßmarkt
vorn mit einem farbig erleuchteten Portal, im Hintergrund aber mit einem
wohl noch prächtigern Prospekte verzieren lassen. Die ganze Einfassung
bezeichneten Lampen. Zwischen den Bäumen standen Lichtpyramiden und
Kugeln auf durchscheinenden Piedestalen; von einem Baum zum andern zagen
sich leuchtende Girlanden, an welchen Hängeleuchter schwebten. An
mehreren Orten verteilte man Brot und Würste unter das Volk und ließ
es an Wein nicht fehlen. Hier
gingen wir nun zu vieren an einander geschlossen höchst behaglich auf
und ab, und ich an Gretchens Seite deuchte mir wirklich in jenen glücklichen
Gefilden Elysiums zu wandeln, wo man die kristallnen Gefäße vom Baume
wo bricht, die sich mit dem gewünschten Wein sogleich füllen, und wo
man Früchte schüttelt, die sich in jede beliebige Speise verwandeln.
Ein solches Bedürfnis fühlten wir denn zuletzt auch, und geleitet von
Pylades fanden wir ein ganz artig eingerichtetes Speisehaus; und da wir
keine Gäste weiter antrafen, indem alles auf den Straßen umherzog, ließen
wir es uns um so wohler sein, und verbrachten den größten Teil der
Nacht im Gefühl von Freundschaft, Liebe und Neigung auf das heiterste
und glücklichste. Als ich Gretchen bis an ihre Türe begleitet hatte, küßte
sie mich auf die Stirn. Es war das erste und letzte Mal, daß sie mir
diese Gunst erwies: denn leider sollte ich sie nicht wiedersehen. Den
andern Morgen lag ich noch im Bette, als meine Mutter verstört und ängstlich
hereintrat. Man konnte es ihr gar leicht ansehen, wenn sie sich irgend
bedrängt fühlte. - "Steh auf", sagte sie, "und mache
dich auf etwas Unangenehmes gefaßt. Es ist herausgekommen, daß du sehr
schlechte Gesellschaft besuchst und dich in die gefährlichsten und
schlimmsten Händel verwickelt hast. Der Vater ist außer sich, und wir
haben nur so viel von ihm erlangt, daß er die Sache durch einen Dritten
untersuchen will. Bleib auf deinem Zimmer und erwarte, was bevorsteht.
Der Rat Schneider wird zu dir kommen, er hat sowohl vom Vater als von
der Obrigkeit den Auftrag: denn die Sache ist schon anhängig und kann
eine sehr böse Wendung nehmen." Ich
sah wohl, daß man die Sache viel schlimmer nahm, als sie war; doch fühlte
ich mich nicht wenig beunruhigt, wenn auch nur das eigentliche Verhältnis
entdeckt werden sollte. Der alte messianische Freund trat endlich
herein, die Tränen standen ihm in den Augen; er faßte mich beim Arm
und sagte: "Es tut mir herzlich leid, daß ich in solcher
Angelegenheit zu Ihnen komme. Ich hätte nicht gedacht, daß Sie sich so
weit verirren könnten. Aber was tut nicht schlechte Gesellschaft und böses
Beispiel; und so kann ein junger unerfahrner Mensch Schritt vor Schritt
bis zum Verbrechen geführt werden." - "Ich bin mir keines
Verbrechens bewußt", versetzte ich darauf, "so wenig, als
schlechte Gesellschaft besucht zu haben." - "Es ist jetzt
nicht von einer Verteidigung die Rede", fiel er mir ins Wort,
"sondern von einer Untersuchung, und Ihrerseits von einem
aufrichtigen Bekenntnis." - "Was verlangen sie zu
wissen?" sagte ich dagegen. Er setzte sich und zog ein Blatt hervor
und fing zu fragen an: "Haben sie nicht den N. N. Ihrem Großvater
als einen Klienten zu einer *** Stelle empfohlen?" Ich antwortete:
"Ja." - "Wo haben sie ihn kennen gelernt?" -
"Auf Spaziergängen." - "In welcher Gesellschaft?" -
Ich stutzte: denn ich wollte nicht gern meine Freunde verraten. -
"Das Verschweigen wird nichts helfen", fuhr er fort,
"denn es ist alles schon genugsam bekannt." - "Was ist
denn bekannt?" sagte ich. - "Daß Ihnen dieser Mensch durch
andere seinesgleichen ist vorgeführt worden, und zwar durch ***."
Hier nannte er die Namen von drei Personen, die ich niemals gesehen noch
gekannt hatte; welches ich dem Fragenden denn auch sogleich erklärte. -
"Sie wollen", fuhr jener fort, "diese Menschen nicht
kennen, und haben doch mit ihnen öftre Zusammenkünfte gehabt!" -
"Auch nicht die geringste", versetzte ich; "denn wie
gesagt, außer dem ersten kenne ich keinen und habe auch den niemals in
einem Hause gesehen." - "Sind sie nicht oft in der *** Straße
gewesen?" - "Niemals", versetzte ich. Dies war nicht ganz
der Wahrheit gemäß. Ich hatte Pylades einmal zu seiner Geliebten
begleitet, die in der Straße wohnte; wir waren aber zur Hintertüre
hereingegangen und im Gartenhause geblieben. Daher glaubte ich mir die
Ausflucht erlauben zu können, in der Straße selbst nicht gewesen zu
sein. Der
gute Mann tat noch mehr Fragen, die ich alle verneinen konnte: denn es
war mir von alledem, was er zu wissen verlangte, nichts bekannt. Endlich
schien er verdrießlich zu werden und sagte: " Sie belohnen mein
Vertrauen und meinen guten Willen sehr schlecht; ich komme, um sie zu
retten. Sie können nicht leugnen, daß sie für diese Leute selbst oder
für ihre Mitschuldigen Briefe verfaßt, Aufsätze gemacht und so zu
ihren schlechten Streichen behülflich gewesen. Ich komme, um sie zu
retten: denn es ist von nichts Geringerem als nachgemachten
Handschriften, falschen Testamenten, untergeschobnen Schuldscheinen und
ähnlichen Dingen die Rede. Ich komme nicht allein als Hausfreund; ich
komme im Namen und auf Befehl der Obrigkeit, die in Betracht Ihrer
Familie und Ihrer Jugend sie und einige andre Jünglinge verschonen
will, die gleich Ihnen ins Netz gelockt worden." - Es war mir
auffallend, daß unter den Personen, die er nannte, sich gerade die
nicht befanden, mit denen ich Umgang gepflogen. Die Verhältnisse trafen
nicht zusammen, aber sie berührten sich, und ich konnte noch immer
hoffen, meine jungen Freunde zu schonen. Allein der wackre Mann ward
immer dringender. Ich konnte nicht leugnen, daß ich manche Nächte spät
nach Hause gekommen war, daß ich mir einen Hausschlüssel zu
verschaffen gewußt, daß ich mit Personen von geringem Stand und verdächtigem
Aussehen an Lustorten mehr als einmal bemerkt worden, daß Mädchen mit
in die Sache verwickelt seien; genug, alles schien entdeckt bis auf die
Namen. Dies gab mir Mut, standhaft im Schweigen zu sein. - "Lassen
sie mich", sagte der brave Freund, "nicht von Ihnen weggehen.
Die Sache leidet keinen Aufschub; unmittelbar nach mir wird ein andrer
kommen, der Ihnen nicht so viel Spielraum läßt. Verschlimmern sie die
ohnehin böse Sache nicht durch Ihre Hartnäckigkeit." Nun
stellte ich mir die guten Vettern, und Gretchen besonders, recht lebhaft
vor; ich sah sie gefangen, verhört, bestraft, geschmäht, und mir fuhr
wie ein Blitz durch die Seele, daß die Vettern denn doch, ob sie gleich
gegen mich alle Rechtlichkeit beobachtet, sich in so böse Händel
konnten eingelassen haben, wenigstens der älteste, der mir niemals
recht gefallen wollte, der immer später nach Hause kam und wenig
Heiters zu erzählen wußte. Noch immer hielt ich mein Bekenntnis zurück.
- "Ich bin mir", sagte ich, "persönlich nichts Böses
bewußt, und kann von der Seite ganz ruhig sein; aber es wäre nicht unmöglich,
daß diejenigen, mit denen ich umgegangen bin, sich einer verwegnen oder
gesetzwidrigen Handlung schuldig gemacht hätten. Man mag sie suchen,
man mag sie finden, sie überführen und bestrafen, ich habe mir bisher
nichts vorzuwerfen, und will auch gegen die nichts verschulden, die sich
freundlich und gut gegen mich benommen haben." - Er ließ mich
nicht ausreden, sondern rief mit einiger Bewegung: "Ja, man wird
sie finden. In drei Häusern kamen diese Bösewichter zusammen."
(Er nannte die Straßen, er bezeichnete die Häuser, und zum Unglück
befand sich auch das darunter, wohin ich zu gehen pflegte.) "Das
erste Nest ist schon aus gehoben", fuhr er fort, "und in
diesem Augenblick werden es die beiden andern. In wenig Stunden wird
alles im klaren sein. Entziehen sie sich, durch ein redliches
Bekenntnis, einer gerichtlichen Untersuchung, einer Konfrontation und
wie die garstigen Dinge alle heißen." - Das Haus war genannt und
bezeichnet. Nun hielt ich alles Schweigen für unnütz; ja, bei der
Unschuld unsrer Zusammenkünfte konnte ich hoffen, jenen noch mehr als
mir nützlich zu sein. - "Setzen sie sich", rief ich aus, und
holte ihn von der Türe zurück; "ich will Ihnen alles erzählen,
und zugleich mir und Ihnen das Herz erleichtern: nur das eine bitte ich,
von nun an keine Zweifel in meine Wahrhaftigkeit." Ich
erzählte nun dem Freunde den ganzen Hergang der Sache, anfangs ruhig
und gefaßt; doch je mehr ich mir die Personen, Gegenstände,
Begebenheiten ins Gedächtnis rief und vergegenwärtigte, und so manche
unschuldige Freude, so manchen heitern Genuß gleichsam vor einem
Kriminalgericht deponieren sollte, desto mehr wuchs die schmerzlichste
Empfindung, so daß ich zuletzt in Tränen ausbrach und mich einer unbändigen
Leidenschaft überließ. Der Hausfreund, welcher hoffte, daß eben jetzt
das rechte Geheimnis auf dem Wege sein möchte sich zu offenbaren (denn
er hielt meinen Schmerz für ein Symptom, daß ich im Begriff stehe, mit
Widerwillen ein Ungeheures zu bekennen), suchte mich, da ihm an der
Entdeckung alles gelegen war, aufs beste zu beruhigen; welches ihm zwar
nur zum Teil gelang, aber doch insofern, daß ich meine Geschichte notdürftig
auserzählen konnte. Er war, obgleich zufrieden über die Unschuld der
Vorgänge, doch noch einigermaßen zweifelhaft, und erließ neue Fragen
an mich, die mich abermals aufregten und in Schmerz und Wut versetzten.
Ich versicherte endlich, daß ich nichts weiter zu sagen habe, und wohl
wisse, daß ich nichts zu fürchten brauche: denn ich sei unschuldig,
von gutem Hause und wohl empfohlen; aber jene könnten ebenso unschuldig
sein, ohne daß man sie dafür anerkenne oder sonst begünstige. Ich
erklärte zugleich, daß, wenn man jene nicht wie mich schonen, ihren
Torheiten nachsehen und ihre Fehler verzeihen wolle, wenn ihnen nur im
mindesten hart und ungerecht geschehe, so würde ich mir ein Leids
antun, und daran solle mich niemand hindern. Auch hierüber suchte mich
der Freund zu beruhigen; aber ich traute ihm nicht, und war, als er mich
zuletzt verließ, in der entsetzlichsten Lage. Ich machte mir nun doch
Vorwürfe, die Sache erzählt und alle die Verhältnisse ans Licht
gebracht zu haben. Ich sah voraus, daß man die kindlichen Handlungen,
die jugendlichen Neigungen und Vertraulichkeiten ganz anders auslegen würde,
und daß ich vielleicht den guten Pylades mit in diesen Handel
verwickeln und sehr unglücklich machen könnte. Alle diese
Vorstellungen drängten sich lebhaft hinter einander vor meiner Seele,
schärften und spornten meinen Schmerz, so daß ich mir vor Jammer nicht
zu helfen wußte, mich die Länge lang auf die Erde warf, und den Fußboden
mit meinen Tränen benetzte. Ich
weiß nicht, wie lange ich mochte gelegen haben, als meine Schwester
hereintrat, über meine Gebärde erschrak und alles mögliche tat, mich
aufzurichten. Sie erzählte mir, daß eine Magistratsperson unten beim
Vater die Rückkunft des Hausfreundes erwartet, und nachdem sie sich
eine Zeitlang eingeschlossen gehalten, seien die beiden Herren
weggegangen, und hätten unter einander sehr zufrieden, ja mit Lachen
geredet, und sie glaube die Worte verstanden zu haben: es ist recht gut,
die Sache hat nichts zu bedeuten. - "Freilich", fuhr ich auf,
"hat die Sache nichts zu bedeuten, für mich, für uns: denn ich
habe nichts verbrochen, und wenn ich es hätte, so würde man mir
durchzuhelfen wissen; aber jene, jene", rief ich aus, "wer
wird ihnen beistehn!" - Meine Schwester suchte mich umständlich
mit dem Argumente zu trösten, daß, wenn man die Vornehmeren retten
wolle, man auch über die Fehler der Geringern einen Schleier werfen müsse.
Das alles half nichts. Sie war kaum weggegangen, als ich mich wieder
meinem Schmerz überließ, und sowohl die Bilder meiner Neigung und
Leidenschaft als auch des gegenwärtigen und möglichen Unglücks immer
wechselsweise hervorrief. Ich erzählte mir Märchen auf Märchen, sah
nur Unglück auf Unglück, und ließ es besonders daran nicht fehlen,
Gretchen und mich recht elend zu machen. Der
Hausfreund hatte mir geboten, auf meinem Zimmer zu bleiben und mit
niemand mein Geschäft zu pflegen, außer den Unsrigen. Es war mir ganz
recht, denn ich befand mich am liebsten allein. Meine Mutter und
Schwester besuchten mich von Zeit zu Zeit, und ermangelten nicht, mir
mit allerlei gutem Trost auf das kräftigste beizustehen; ja, sie kamen
sogar schon den zweiten Tag, im Namen des nun besser unterrichteten
Vaters mir eine völlige Amnestie anzubieten, die ich zwar dankbar
annahm, allein den Antrag, daß ich mit ihm ausgehen und die
Reichsinsignien, welche man nunmehr den Neugierigen vorzeigte, beschauen
sollte, hartnäckig ablehnte, und versicherte, daß ich weder von der
Welt, noch von dem Römischen Reiche etwas weiter wissen wolle, bis mir
bekannt geworden, wie jener verdrießliche Handel, der für mich weiter
keine Folgen haben würde, für meine armen Bekannten ausgegangen. Sie
wußten hierüber selbst nichts zu sagen und ließen mich allein. Doch
machte man die folgenden Tage noch einige Versuche, mich aus dem Hause
und zur Teilnahme an den öffentlichen Feierlichkeiten zu bewegen.
Vergebens! weder der große Galatag, noch was bei Gelegenheit so vieler
Standeserhöhungen vorfiel, noch die öffentliche Tafel des Kaisers und
Königs, nichts konnte mich rühren. Der Kurfürst von der Pfalz mochte
kommen, um den beiden Majestäten aufzuwarten, diese mochten die Kurfürsten
besuchen, man mochte zur letzten kurfürstlichen Sitzung zusammenfahren,
um die rückständigen Punkte zu erledigen und den Kurverein zu
erneuern, nichts konnte mich aus meiner leidenschaftlichen Einsamkeit
hervorrufen. Ich ließ am Dankfeste die Glocken läuten, den Kaiser sich
in die Kapuzinerkirche begeben, die Kurfürsten und den Kaiser abreisen,
ohne deshalb einen Schritt von meinem Zimmer zu tun. Das letzte
Kanonieren, so unmäßig es auch sein mochte, regte mich nicht auf, und
wie der Pulverdampf sich verzog und der Schall verhallte, war auch alle
diese Herrlichkeit vor meiner Seele weggeschwunden. Ich
empfand nun keine Zufriedenheit, als im Wiederkäuen meines Elends und
in der tausendfachen imaginären Vervielfältigung desselben. Meine
ganze Erfindungsgabe, meine Poesie und Rhetorik hatten sich auf diesen
kranken Fleck geworfen, und drohten, gerade durch diese Lebensgewalt,
Leib und Seele in eine unheilbare Krankheit zu verwickeln. In diesem
traurigen Zustande kam mir nichts mehr wünschenswert, nichts
begehrenswert mehr vor. Zwar ergriff mich manchmal ein unendliches
Verlangen zu wissen, wie es meinen armen Freunden und Geliebten ergehe,
was sich bei näherer Untersuchung ergeben, inwiefern sie mit in jene
Verbrechen verwickelt oder unschuldig möchten erfunden sein. Auch dies
malte ich mir auf das mannigfaltigste umständlich aus, und ließ es
nicht fehlen, sie für unschuldig und recht unglücklich zu halten. Bald
wünschte ich mich von dieser Ungewißheit befreit zu sehen, und schrieb
heftig drohende Briefe an den Hausfreund, daß er mir den weitern Gang
der Sache nicht vorenthalten solle. Bald zerriß ich sie wieder, aus
Furcht, mein Unglück recht deutlich zu erfahren und des phantastischen
Trostes zu entbehren, mit dem ich mich bis jetzt wechselsweise gequält
und aufgerichtet hatte. So
verbrachte ich Tag und Nacht in großer Unruhe, in Rasen und Ermattung,
so daß ich mich zuletzt glücklich fühlte, als eine körperliche
Krankheit mit ziemlicher Heftigkeit eintrat, wobei man den Arzt zu Hülfe
rufen und darauf denken mußte, mich auf alle Weise zu beruhigen. Man
glaubte es im allgemeinen tun zu können, indem man mir heilig
versicherte, daß alle in jene Schuld mehr oder weniger Verwickelten mit
der größten Schonung behandelt worden, daß meine nächsten Freunde,
so gut wie ganz schuldlos, mit einem leichten Verweise entlassen worden,
und daß Gretchen sich aus der Stadt entfernt habe und wieder in ihre
Heimat gezogen sei. Mit dem letztem zauderte man am längsten, und ich
nahm es auch nicht zum besten auf: denn ich konnte darin keine
freiwillige Abreise, sondern nur eine schmähliche Verbannung entdecken.
Mein körperlicher und geistiger Zustand verbesserte sich dadurch nicht:
die Not ging nun erst recht an, und ich hatte Zeit genug, mir den
seltsamsten Roman von traurigen Ereignissen und einer unvermeidlich
tragischen Katastrophe selbstquälerisch auszumalen.
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Wolfgang
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