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Johann Wolfgang
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Zweiter Teil
Sechstes BuchSo
trieb es mich wechselsweise, meine Genesung zu befördern und zu
verhindern, und ein gewisser heimlicher Ärger gesellte sich noch zu
meinen übrigen Empfindungen: denn ich bemerkte wohl, daß man mich
beobachtete, daß man mir nicht leicht etwas Versiegeltes zustellte,
ohne darauf achtzuhaben, was es für Wirkungen hervorbringe, ob ich es
geheim hielt oder ob ich es offen hinlegte, und was dergleichen mehr
war. Ich vermutete daher, daß Pylades, ein Vetter, oder wohl gar
Gretchen selbst den Versuch möchte gemacht haben mir zu schreiben, um
Nachricht zu geben oder zu erhalten. Ich war nun erst recht verdrießlich
neben meiner Bekümmernis, und hatte wieder neue Gelegenheit, meine
Vermutungen zu üben und mich in die seltsamsten Verknüpfungen zu
verirren. Es
dauerte nicht lange, so gab man mir noch einen besondern Aufseher. Glücklicherweise
war es ein Mann, den ich liebte und schätzte: er hatte eine
Hofmeisterstelle in einem befreundeten Hause bekleidet, sein bisheriger
Zögling war allein auf die Akademie gegangen. Er besuchte mich öfters
in meiner traurigen Lage, und man fand zuletzt nichts natürlicher, als
ihm ein Zimmer neben dem meinigen einzuräumen: da er mich denn beschäftigen,
beruhigen und, wie ich wohl merken konnte, im Auge behalten sollte. Weil
ich ihn jedoch von Herzen schätzte und ihm auch früher gar manches,
nur nicht die Neigung zu Gretchen, vertraut hatte, so beschloß ich um
so mehr, ganz offen und gerade gegen ihn zu sein, als es mir unerträglich
war, mit jemand täglich zu leben und auf einem unsicheren gespannten Fuß
mit ihm zu stehen. Ich säumte daher nicht lange, sprach ihm von der
Sache, erquickte mich in Erzählung und Wiederholung der kleinsten Umstände
meines vergangenen Glücks, und erreichte dadurch so viel, daß er, als
ein verständiger Mann, einsah, es sei besser, mich mit dem Ausgang der
Geschichte bekannt zu machen, und zwar im einzelnen und besonderen,
damit ich klar über das Ganze würde und man mir mit Ernst und Eifer
zureden könne, daß ich mich fassen, das Vergangene hinter mich werfen
und ein neues Leben anfangen müsse. Zuerst vertraute er mir, wer die
anderen jungen Leute von Stande gewesen, die sich anfangs zu verwegenen
Mystifikationen, dann zu possenhaften Polizeiverbrechen, ferner zu
lustigen Geldschneidereien und anderen solchen verfänglichen Dingen
hatten verleiten lassen. Es war dadurch wirklich eine kleine Verschwörung
entstanden, zu der sich gewissenlose Menschen gesellten, durch Verfälschung
von Papieren, Nachbildung von Unterschriften manches Strafwürdige
begingen und noch Strafwürdigeres vorbereiteten. Die Vettern, nach
denen ich zuletzt ungeduldig fragte, waren ganz unschuldig, nur im
allgemeinsten mit jenen andern bekannt, keineswegs aber vereinigt
befunden worden. Mein Klient, durch dessen Empfehlung an den Großvater
man mir eigentlich auf die Spur gekommen, war einer der Schlimmsten, und
bewarb sich um jenes Amt hauptsächlich, um gewisse Bubenstücke
unternehmen oder bedecken zu können. Nach allem diesem konnte ich mich
zuletzt nicht halten und fragte, was aus Gretchen geworden sei, zu der
ich ein für allemal die größte Neigung bekannte. Mein Freund schüttelte
den Kopf und lächelte: "Beruhigen Sie sich", versetzte er,
"dieses Mädchen ist sehr wohl bestanden und hat ein herrliches
Zeugnis davon getragen. Man konnte nichts als Gutes und Liebes an ihr
finden, die Herren Examinatoren selbst wurden ihr gewogen, und haben ihr
die Entfernung aus der Stadt, die sie wünschte, nicht versagen können.
Auch das, was sie in Rücksicht auf Sie, mein Freund, bekannt hat, macht
ihr Ehre; ich habe ihre Aussage in den geheimen Akten selbst gelesen und
ihre Unterschrift gesehen." "Die Unterschrift!" rief ich
aus, "die mich so glücklich und so unglücklich macht. Was hat sie
denn bekannt? was hat sie unterschrieben?" Der Freund zauderte zu
antworten, aber die Heiterkeit seines Gesichts zeigte mir an, daß er
nichts Gefährliches verberge. "Wenn Sie's denn wissen
wollen", versetzte er endlich, "als von Ihnen und Ihrem Umgang
mit ihr die Rede war, sagte sie ganz freimütig: 'Ich kann es nicht
leugnen, daß ich ihn oft und gern gesehen habe; aber ich habe ihn immer
als ein Kind betrachtet und meine Neigung zu ihm war wahrhaft
schwesterlich. In manchen Fällen habe ich ihn gut beraten, und anstatt
ihn zu einer zweideutigen Handlung aufzuregen, habe ich ihn verhindert,
an mutwilligen Streichen teilzunehmen, die ihm hätten Verdruß bringen
können.'" Der
Freund fuhr noch weiter fort, Gretchen als eine Hofmeisterin reden zu
lassen; ich hörte ihm aber schon lange nicht mehr zu: denn daß sie
mich für ein Kind zu den Akten erklärt, nahm ich ganz entsetzlich übel,
und glaubte mich auf einmal von aller Leidenschaft für sie geheilt, ja,
ich versicherte hastig meinen Freund, daß nun alles abgetan sei! Auch
sprach ich nicht mehr von ihr, nannte ihren Namen nicht mehr; doch
konnte ich die böse Gewohnheit nicht lassen, an sie zu denken, mir ihre
Gestalt, ihr Wesen, ihr Betragen zu vergegenwärtigen, das mir denn nun
freilich jetzt in einem ganz anderen Lichte erschien. Ich fand es unerträglich,
daß ein Mädchen, höchstens ein paar Jahre älter als ich, mich für
ein Kind halten sollte, der ich doch für einen ganz gescheuten und
geschickten Jungen zu gelten glaubte. Nun kam mir ihr kaltes abstoßendes
Wesen, das mich sonst so angereizt hatte, ganz widerlich vor, die
Familiaritäten, die sie sich gegen mich erlaubte, mir aber zu erwidern
nicht gestattete, waren mir ganz verhaßt. Das alles wäre jedoch noch
gut gewesen, wenn ich sie nicht wegen des Unterschreibens jener
poetischen Liebesepistel, wodurch sie mir denn doch eine förmliche
Neigung erklärte, für eine verschmitzte und selbstsüchtige Kokette zu
halten berechtigt gewesen wäre. Auch maskiert zur Putzmacherin kam sie
mir nicht mehr so unschuldig vor, und ich kehrte diese ärgerlichen
Betrachtungen so lange bei mir hin und wider, bis ich ihr alle liebenswürdigen
Eigenschaften sämtlich abgestreift hatte. Dem Verstande nach war ich überzeugt
und glaubte sie verwerfen zu müssen; nur ihr Bild strafte mich Lügen,
so oft es mir wieder vorschwebte, welches freilich noch oft genug
geschah. Indessen
war denn doch dieser Pfeil mit seinen Widerhaken aus dem Herzen
gerissen, und es fragte sich, wie man der inneren jugendlichen Heilkraft
zu Hülfe käme? Ich ermannte mich wirklich, und das erste, was sogleich
abgetan wurde, war das Weinen und Rasen, welches ich nun für höchst
kindisch ansah. Ein großer Schritt zur Besserung! Denn ich hatte, oft
halbe Nächte durch, mich mit dem größten Ungestüm diesen Schmerzen
überlassen, so daß es durch Tränen und Schluchzen zuletzt dahin kam,
daß ich kaum mehr schlingen konnte und der Genuß von Speise und Trank
mir schmerzlich ward, auch die so nah verwandte Brust zu leiden schien.
Der Verdruß, den ich über jene Entdeckung immerfort empfand, ließ
mich jede Weichheit verbannen; ich fand es schrecklich, daß ich um
eines Mädchens willen Schlaf und Ruhe und Gesundheit aufgeopfert hatte,
die sich darin gefiel, mich als einen Säugling zu betrachten und sich höchst
ammenhaft weise gegen mich zu dünken. Diese
kränkenden Vorstellungen waren, wie ich mich leicht überzeugte, nur
durch Tätigkeit zu verbannen; aber was sollte ich ergreifen? Ich hatte
in gar vielen Dingen freilich manches nachzuholen, und mich in mehr als
einem Sinne auf die Akademie vorzubereiten, die ich nun beziehen sollte;
aber nichts wollte mir schmecken noch gelingen. Gar manches erschien mir
bekannt und trivial; zu mehrerer Begründung fand ich weder eigne Kraft
noch äußere Gelegenheit, und ließ mich daher durch die Liebhaberei
meines braven Stubennachbarn zu einem Studium bewegen, das mir ganz neu
und fremd war und für lange Zeit ein weites Feld von Kenntnissen und
Betrachtungen darbot. Mein Freund fing nämlich an, mich mit den
philosophischen Geheimnissen bekannt zu machen. Er hatte unter Daries in
Jena studiert und als ein sehr wohlgeordneter Kopf den Zusammenhang
jener Lehre scharf gefaßt, und so suchte er sie auch mir beizubringen.
Aber leider wollten diese Dinge in meinem Gehirn auf eine solche Weise
nicht zusammenhängen. Ich tat Fragen, die er später zu beantworten,
ich machte Forderungen, die er künftig zu befriedigen versprach. Unsere
wichtigste Differenz war jedoch diese, daß ich behauptete, eine
abgesonderte Philosophie sei nicht nötig, indem sie schon in der
Religion und Poesie vollkommen enthalten sei. Dieses wollte er nun
keinesweges gelten lassen, sondern suchte mir vielmehr zu beweisen, daß
erst diese durch jene begründet werden müßten; welches ich hartnäckig
leugnete, und im Fortgange unserer Unterhaltung bei jedem Schritt
Argumente für meine Meinung fand. Denn da in der Poesie ein gewisser
Glaube an das Unmögliche, in der Religion ein ebensolcher Glaube an das
Unergründliche stattfinden muß, so schienen mir die Philosophen in
einer sehr üblen Lage zu sein, die auf ihrem Felde beides beweisen und
erklären wollten; wie sich denn auch aus der Geschichte der Philosophie
sehr geschwind dartun ließ, daß immer einer einen andern Grund suchte
als der andre, und der Skeptiker zuletzt alles für grund- und bodenlos
ansprach. Eben
diese Geschichte der Philosophie jedoch, die mein Freund mit mir zu
treiben sich genötigt sah, weil ich dem dogmatischen Vortrag gar nichts
abgewinnen konnte, unterhielt mich sehr, aber nur in dem Sinne, daß mir
eine Lehre, eine Meinung so gut wie die andre vorkam, insofern ich nämlich
in dieselbe einzudringen fähig war. An den ältesten Männern und
Schulen gefiel mir am besten, daß Poesie, Religion und Philosophie ganz
in eins zusammenfielen, und ich behauptete jene meine erste Meinung nur
um desto lebhafter, als mir das Buch Hiob, das Hohe Lied und die Sprüchwörter
Salomonis ebenso gut als die Orphischen und Hesiodischen Gesänge dafür
ein gültiges Zeugnis abzulegen schienen. Mein Freund hatte den Kleinen
Brucker zum Grunde seines Vortrags gelegt, und je weiter wir vorwärts
kamen, je weniger wußte ich daraus zu machen. Was die ersten
griechischen Philosophen wollten, konnte mir nicht deutlich werden.
Sokrates galt mir für einen trefflichen weisen Mann, der wohl, im Leben
und Tod, sich mit Christo vergleichen lasse. Seine Schüler hingegen
schienen mir große Ähnlichkeit mit den Aposteln zu haben, die sich
nach des Meisters Tode sogleich entzweiten und offenbar jeder nur eine
beschränkte Sinnesart für das Rechte erkannte. Weder die Schärfe des
Aristoteles, noch die Fülle des Plato fruchteten bei mir im mindesten.
Zu den Stoikern hingegen hatte ich schon früher einige Neigung gefaßt,
und schallte nun den Epiktet herbei, den ich mit vieler Teilnahme
studierte. Mein Freund ließ mich ungern in dieser Einseitigkeit
hingehen, von der er mich nicht abzuziehen vermochte: denn ohngeachtet
seiner mannigfaltigen Studien wußte er doch die Hauptfrage nicht ins
Enge zu bringen. Er hätte mir nur sagen dürfen, daß es im Leben bloß
aufs Tun ankomme, das Genießen und Leiden finde sich von selbst.
Indessen darf man die Jugend nur gewähren lassen; nicht sehr lange
haftet sie an falschen Maximen; das Leben reißt oder lockt sie bald
davon wieder los. Die
Jahrszeit war schön geworden, wir gingen oft zusammen ins Freie und
besuchten die Lustörter, die in großer Anzahl um die Stadt
umherliegen. Aber gerade hier konnte es mir am wenigsten wohl sein: denn
ich sah noch die Gespenster der Vettern überall, und fürchtete, bald
da bald dort einen hervortreten zu sehen. Auch waren mir die gleichgültigsten
Blicke der Menschen beschwerlich. Ich hatte jene bewußtlose Glückseligkeit
verloren, unbekannt und unbescholten umherzugehen und in dem größten
Gewühle an keinen Beobachter zu denken. Jetzt fing der hypochondrische
Dünkel an mich zu quälen, als erregte ich die Aufmerksamkeit der
Leute, als wären ihre Blicke auf mein Wesen gerichtet, es festzuhalten,
zu untersuchen und zu tadeln. Ich
zog daher meinen Freund in die Wälder, und indem ich die einförmigen
Fichten floh, sucht' ich jene schönen belaubten Haine, die sich zwar
nicht weit und breit in der Gegend erstrecken, aber doch immer von
solchem Umfange sind, daß ein armes verwundetes Herz sich darin
verbergen kann. In der größten Tiefe des Waldes hatte ich mir einen
ernsten Platz ausgesucht, wo die ältesten Eichen und Buchen einen
herrlich großen beschatteten Raum bildeten. Etwas abhängig war der
Boden und machte das Verdienst der alten Stämme nur desto bemerkbarer.
Rings an diesen freien Kreis schlossen sich die dichtesten Gebüsche,
aus denen bemooste Felsen mächtig und würdig hervorblickten und einem
wasserreichen Bach einen raschen Fall verschafften. Kaum
hatte ich meinen Freund, der sich lieber in freier Landschaft am Strom
unter Menschen befand, hierher genötiget, als er mich scherzend
versicherte, ich erweise mich wie ein wahrer Deutscher. Umständlich erzählte
er mir aus dem Tacitus, wie sich unsere Urväter an den Gefühlen begnügt,
welche uns die Natur in solchen Einsamkeiten mit ungekünstelter Bauart
so herrlich vorbereitet. Er hatte mir nicht lange davon erzählt, als
ich ausrief: "O! warum liegt dieser köstliche Platz nicht in
tiefer Wildnis, warum dürfen wir nicht einen Zaun umher führen, ihn
und uns zu heiligen und von der Welt abzusondern! Gewiß, es ist keine
schönere Gottesverehrung als die, zu der man kein Bild bedarf, die bloß
aus dem Wechselgespräch mit der Natur in unserem Busen
entspringt!" - Was ich damals fühlte, ist mir noch gegenwärtig;
was ich sagte, wüßte ich nicht wieder zu finden. So viel ist aber gewiß,
daß die unbestimmten, sich weit ausdehnenden Gefühle der Jugend und
ungebildeter Völker allein zum Erhabenen geeignet sind, das, wenn es
durch, äußere Dinge in uns erregt werden soll, formlos, oder zu unfaßlichen
Formen gebildet, uns mit einer Größe umgeben muß, der wir nicht
gewachsen sind. Eine
solche Stimmung der Seele empfinden mehr oder weniger alle Menschen,
sowie sie dieses edle Bedürfnis auf mancherlei Weise zu befriedigen
suchen. Aber wie das Erhabene von Dämmerung und Nacht, wo sich die
Gestalten vereinigen, gar leicht erzeugt wird, so wird es dagegen vom
Tage verscheucht, der alles sondert und trennt, und so muß es auch
durch jede wachsende Bildung vernichtet werden, wenn es nicht glücklich
genug ist, sich zu dem Schönen zu flüchten und sich innig mit ihm zu
vereinigen, wodurch denn beide gleich unsterblich und unverwüstlich
sind. Die
kurzen Augenblicke solcher Genüsse verkürzte mir noch mein denkender
Freund; aber ganz umsonst versuchte es ich, wenn ich heraus an die Welt
trat, in der lichten und mageren Umgebung ein solches Gefühl bei mir
wieder zu erregen: ja, kaum die Erinnerung davon vermochte ich zu
erhalten. Mein Herz war jedoch zu verwöhnt, als daß es sich hätte
beruhigen können: es hatte geliebt, der Gegenstand war ihm entrissen;
es hatte gelebt, und das Leben war ihm verkümmert. Ein Freund, der es
zu deutlich merken läßt, daß er an euch zu bilden gedenkt, erregt
kein Behagen; indessen eine Frau, die euch bildet, indem sie euch zu
verwöhnen scheint, wie ein himmlisches freudebringendes Wesen angebetet
wird. Aber jene Gestalt, an der sich der Begriff des Schönen mir
hervortat, war in die Ferne weggeschwunden; sie besuchte mich oft unter
den Schatten meiner Eichen aber ich konnte sie nicht festhalten, und ich
fühlte einen gewaltigen Trieb, etwas Ähnliches in der Weite zu suchen. Ich
hatte meinen Freund und Aufseher unvermerkt gewöhnt, ja genötigt, mich
allein zu lassen; denn selbst in meinem heiligen Walde taten mir jene
unbestimmten riesenhaften Gefühle nicht genug. Das Auge war vor allen
anderen das Organ, womit ich die Welt faßte. Ich hatte von Kindheit auf
zwischen Malern gelebt, und mich gewöhnt, die Gegenstände wie sie in
Bezug auf die Kunst anzusehen. Jetzt, da ich mir selbst und der
Einsamkeit überlassen war, trat diese Gabe, halb natürlich, halb
erworben, hervor; wo ich hinsah, erblickte ich ein Bild, und was mir
auffiel, was mich erfreute, wollte ich festhalten, und ich fing an, auf
die ungeschickteste Weise nach der Natur zu zeichnen. Es fehlte mir
hierzu nichts weniger als alles; doch blieb ich hartnäckig daran, ohne
irgend ein technisches Mittel, das Herrlichste nachbilden zu wollen, was
sich meinen Augen darstellte. Ich gewann freilich dadurch eine große
Aufmerksamkeit auf die Gegenstände, aber ich faßte sie nur im ganzen,
insofern sie Wirkung taten; und so wenig mich die Natur zu einem
deskriptiven Dichter bestimmt hatte, ebenso wenig wollte sie mir die Fähigkeit
eines Zeichners fürs einzelne verleihen. Da jedoch nur dies allein die
Art war, die mir übrig blieb, mich zu äußern, so hing ich mit ebenso
viel Hartnäckigkeit, ja mit Trübsinn daran, daß ich immer eifriger
meine Arbeiten fortsetzte, je weniger ich etwas dabei herauskommen sah. Leugnen
will ich jedoch nicht, daß sich eine gewisse Schelmerei mit einmischte:
denn ich hatte bemerkt, daß, wenn ich einen halbbeschatteten alten
Stamm, an dessen mächtig gekrümmte Wurzeln sich wohlbeleuchtete
Farrenkräuter anschmiegten, von blinkenden Graslichtern begleitet, mir
zu einem qualreichen Studium ausgesucht hatte, mein Freund, der aus
Erfahrung wußte, daß unter einer Stunde da nicht loszukommen sei, sich
gewöhnlich entschloß, mit einem Buche ein anderes gefälliges Plätzchen
zu suchen. Nun störte mich nichts, meiner Liebhaberei nachzuhängen,
die um desto emsiger war, als mir meine Blätter dadurch lieb wurden, daß
ich mich gewöhnte, an ihnen nicht sowohl das zu sehen, was darauf
stand, als dasjenige, was ich zu jeder Zeit und Stunde dabei gedacht
hatte. So können uns Kräuter und Blumen der gemeinsten Art ein liebes
Tagebuch bilden, weil nichts, was die Erinnerung eines glücklichen
Moments zurückruft, unbedeutend sein kann; und noch jetzt würde es mir
schwer fallen, manches dergleichen, was mir aus verschiedenen Epochen übrig
geblieben, als wertlos zu vertilgen, weil es mich unmittelbar in jene
Zeiten versetzt, deren ich mich zwar mit Wehmut, doch nicht ungern
erinnere. Wenn
aber solche Blätter irgend ein Interesse an und für sich haben könnten,
so wären sie diesen Vorzug der Teilnahme und Aufmerksamkeit meines
Vaters schuldig. Dieser, durch meinen Aufseher benachrichtiget, daß ich
mich nach und nach in meinen Zustand finde und besonders mich
leidenschaftlich auf das Zeichnen nach der Natur gewendet habe, war
damit gar wohl zufrieden, teils weil er selbst sehr viel auf Zeichnung
und Malerei hielt, teils weil Gevatter Seekatz ihm einigemal gesagt
hatte, es sei schade, daß ich nicht zum Maler bestimmt sei. Allein hier
kamen die Eigenheiten des Vaters und Sohns wieder zum Konflikt: denn es
war mir fast unmöglich, bei meinen Zeichnungen ein gutes, weißes, völlig
reines Papier zu gebrauchen; graue veraltete, ja schon von einer Seite
beschriebene Blätter reizten mich am meisten, eben als wenn meine Unfähigkeit
sich vor dem Prüfstein eines weißen Grundes gefürchtet hätte. So war
auch keine Zeichnung ganz ausgefüllt; und wie hätte ich denn ein
Ganzes leisten sollen, das ich wohl mit Augen sah, aber nicht begriff,
und wie ein Einzelnes, das ich zwar kannte, aber dem zu folgen ich weder
Fertigkeit noch Geduld hatte. Wirklich war auch in diesem Punkte die Pädagogik
meines Vaters zu bewundern. Er fragte wohlwollend nach meinen Versuchen,
und zog Linien um jede unvollkommene Skizze: er wollte mich dadurch zur
Vollständigkeit und Ausführlichkeit nötigen; die unregelmäßigen Blätter
schnitt er zurechte, und machte damit den Anfang zu einer Sammlung, in
der er sich dereinst der Fortschritte seines Sohnes freuen wollte. Es
war ihm daher keineswegs unangenehm, wenn mich mein wildes unstetes
Wesen in der Gegend umhertrieb, vielmehr zeigte er sich zufrieden, wenn
ich nur irgend ein Heft zurückbrachte, an dem er seine Geduld üben und
seine Hoffnungen einigermaßen stärken konnte. Man
sorgte nicht mehr, daß ich in meine früheren Neigungen und Verhältnisse
zurückfallen könnte, man ließ mir nach und nach vollkommene Freiheit.
Durch zufällige Anregung, sowie in zufälliger Gesellschaft stellte ich
manche Wanderungen nach dem Gebirge an, das von Kindheit auf so fern und
ernsthaft vor mir gestanden hatte. So besuchten wir Homburg, Kronberg,
bestiegen den Feldberg, von dem uns die weite Aussicht immer mehr in die
Ferne lockte. Da blieb denn Königstein nicht unbesucht; Wiesbaden,
Schwalbach mit seinen Umgebungen beschäftigten uns mehrere Tage; wir
gelangten an den Rhein, den wir, von den Höhen herab, weither schlängeln
gesehen. Mainz setzte uns in Verwunderung, doch konnte es den
jugendlichen Sinn nicht fesseln, der ins Freie ging; wir erheiterten uns
an der Lage von Biebrich, und nahmen zufrieden und froh unseren Rückweg. Diese
ganze Tour, von der sich mein Vater manches Blatt versprach, wäre
beinahe ohne Frucht gewesen: denn welcher Sinn, welches Talent, welche
Übung gehört nicht dazu, eine weite und breite Landschaft als Bild zu
begreifen! Unmerklich wieder zog es mich jedoch ins Enge, wo ich einige
Ausbeute fand: denn ich traf kein verfallenes Schloß, kein Gemäuer,
das auf die Vorzeit hindeutete, daß ich es nicht für einen würdigen
Gegenstand gehalten und so gut als möglich nachgebildet hätte. Selbst
den Drusenstein auf dem Walle zu Mainz zeichnete ich mit einiger Gefahr
und mit Unstatten, die ein jeder erleben muß, der sich von Reisen
einige bildliche Erinnerungen mit nach Hause nehmen will. Leider hatte
ich abermals nur das schlechteste Konzeptpapier mitgenommen, und mehrere
Gegenstände unschicklich auf ein Blatt gehäuft; aber mein väterlicher
Lehrer ließ sich dadurch nicht irre machen; er schnitt die Blätter
auseinander, ließ das Zusammenpassende durch den Buchbinder aufziehen,
faßte die einzelnen Blätter in Linien und nötigte mich dadurch
wirklich, die Umrisse verschiedener Berge bis an den Rand zu ziehen und
den Vordergrund mit einigen Kräutern und Steinen auszufüllen. Konnten
seine treuen Bemühungen auch mein Talent nicht steigern, so hatte doch
dieser Zug seiner Ordnungsliebe einen geheimen Einfluß auf mich, der
sich späterhin auf mehr als eine Weise lebendig erwies. Von
solchen halb lebenslustigen, halb künstlerischen Streifpartien, welche
sich in kurzer Zeit vollbringen und öfters wiederholen ließen, ward
ich jedoch wieder nach Hause gezogen, und zwar durch einen Magneten, der
von jeher stark auf mich wirkte; es war meine Schwester. Sie, nur ein
Jahr jünger als ich, hatte mein ganzes bewußtes Leben mit mir
herangelebt und sich dadurch mit mir aufs innigste verbunden. Zu diesen
natürlichen Anlässen gesellte sich noch ein aus unserer häuslichen
Lage hervorgehender Drang; ein zwar liebevoller und wohlgesinnter, aber
ernster Vater, der, weil er innerlich ein sehr zartes Gemüt hegte, äußerlich
mit unglaublicher Konsequenz eine eherne Strenge vorbildete, damit er zu
dem Zwecke gelangen möge, seinen Kindern die beste Erziehung zu geben,
sein wohlgegründetes Haus zu erbauen, zu ordnen und zu erhalten;
dagegen eine Mutter fast noch Kind, welche erst mit und in ihren beiden
Ältesten zum Bewußtsein heranwuchs; diese drei, so wie sie die Welt
mit gesundem Blicke gewahr wurden, lebensfähig und nach gegenwärtigem
Genuß verlangend. Ein solcher in der Familie schwebender Widerstreit
vermehrte sich mit den Jahren. Der Vater verfolgte seine Absicht unerschüttert
und ununterbrochen; Mutter und Kinder konnten ihre Gefühle, ihre
Anforderungen, ihre Wünsche nicht aufgeben. Unter
diesen Umständen war es natürlich, daß Bruder und Schwester sich fest
aneinanderschlossen und sich zur Mutter hielten, um die im ganzen
versagten Freuden wenigstens zu erhaschen. Da aber die Stunden der
Eingezogenheit und Mühe sehr lang und weit waren gegen die Augenblicke
der Erholung und des Vergnügens, besonders für meine Schwester, die
das Haus niemals auf so lange Zeit als ich verlassen konnte, so ward ihr
Bedürfnis, sich mit mir zu unterhalten, noch durch die Sehnsucht geschärft,
mit der sie mich in die Ferne begleitete. Und
so wie in den ersten Jahren Spiel und Lernen, Wachstum und Bildung den
Geschwistern völlig gemein war, so daß sie sich wohl für Zwillinge
halten konnten, so blieb auch unter ihnen diese Gemeinschaft, dieses
Vertrauen bei Entwickelung physischer und moralischer Kräfte. Jenes
Interesse der Jugend, jenes Erstaunen beim Erwachen sinnlicher Triebe,
die sich in geistige Formen, geistiger Bedürfnisse, die sich in
sinnliche Gestalten einkleiden, alle Betrachtungen darüber, die uns
eher verdüstern als aufklären, wie ein Nebel das Tal, woraus er sich
emporheben will, zudeckt und nicht erhellt, manche Irrungen und
Verirrungen, die daraus entspringen, teilten und bestanden die
Geschwister Hand in Hand, und wurden über ihre seltsamen Zustände um
desto weniger aufgeklärt, als die heilige Scheu der nahen
Verwandtschaft sie, indem sie sich einander mehr nähern, ins Klare
treten wollten, nur immer gewaltiger auseinander hielt. Ungern
spreche ich dies im allgemeinen aus, was ich vor Jahren darzustellen
unternahm, ohne daß ich es hätte ausführen können. Da ich dieses
geliebte unbegreifliche Wesen nur zu bald verlor, fühlte ich genügsamen
Anlaß, mir ihren Wert zu vergegenwärtigen, und so entstand bei mir der
Begriff eines dichterischen Ganzen, in welchem es möglich gewesen wäre,
ihre Individualität darzustellen: allein es ließ sich dazu keine
andere Form denken als die der Richardsonschen Romane. Nur durch das
genauste Detail, durch unendliche Einzelheiten, die lebendig alle den
Charakter des Ganzen tragen und, indem sie aus einer wundersamen Tiefe
hervorspringen, eine Ahndung von dieser Tiefe geben; nur auf solche
Weise hätte es einigermaßen gelingen können, eine Vorstellung dieser
merkwürdigen Persönlichkeit mitzuteilen: denn die Quelle kann nur
gedacht werden, insofern sie fließt. Aber von diesem schönen und
frommen Vorsatz zog mich, wie von so vielen anderen, der Tumult der Welt
zurück, und nun bleibt mir nichts übrig, als den Schatten jenes
seligen Geistes nur, wie durch Hülfe eines magischen Spiegels, auf
einen Augenblick heranzurufen. Sie
war groß, wohl und zart gebaut und hatte etwas Natürlich-Würdiges in
ihrem Betragen, das in eine angenehme Weichheit verschmolz. Die Züge
ihres Gesichts, weder bedeutend noch schön, sprachen von einem Wesen,
das weder mit sich einig war, noch werden konnte. Ihre Augen waren nicht
die schönsten, die ich jemals sah, aber die tiefsten, hinter denen man
am meisten erwartete, und, wenn sie irgend eine Neigung, eine Liebe
ausdrückten, einen Glanz hatten ohnegleichen; und doch war dieser
Ausdruck eigentlich nicht zärtlich, wie der, der aus dem Herzen kommt
und zugleich etwas Sehnsüchtiges und Verlangendes mit sich führt;
dieser Ausdruck kam aus der Seele, er war voll und reich, er schien nur
geben zu wollen, nicht des Empfangens zu bedürfen. Was
ihr Gesicht aber ganz eigentlich entstellte, so daß sie manchmal
wirklich häßlich aussehen konnte, war die Mode jener Zeit, welche
nicht allein die Stirn entblößte, sondern auch alles tat, um sie
scheinbar oder wirklich, zufällig oder vorsätzlich zu vergrößern. Da
sie nun die weiblichste reingewölbteste Stirn hatte und dabei ein Paar
starke schwarze Augenbrauen und vorliegende Augen, so entstand aus
diesen Verhältnissen ein Kontrast, der einen jeden Fremden für den
ersten Augenblick, wo nicht abstieß, doch wenigstens nicht anzog. Sie
empfand es früh, und dies Gefühl ward immer peinlicher, je mehr sie in
die Jahre trat, wo beide Geschlechter eine unschuldige Freude empfinden,
sich wechselseitig angenehm zu werden. Niemanden
kann seine eigne Gestalt zuwider sein, der Häßlichste wie der Schönste
hat das Recht, sich seiner Gegenwart zu freuen; und da das Wohlwollen
verschönt, und sich jedermann mit Wohlwollen im Spiegel besieht so kann
man behaupten, daß jeder sich auch mit Wohlgefallen erblicken müsse,
selbst wenn er sich dagegen sträuben wollte. Meine Schwester hatte
jedoch eine so entschiedene Anlage zum Verstand, daß sie hier unmöglich
blind und albern sein konnte; sie wußte vielmehr vielleicht deutlicher
als billig, daß sie hinter ihren Gespielinnen an äußerer Schönheit
sehr weit zurückstehe, ohne zu ihrem Troste zu fühlen, daß sie ihnen
an inneren Vorzügen unendlich überlegen sei. Kann
ein Frauenzimmer für den Mangel von Schönheit entschädigt werden, so
war sie es reichlich durch das unbegrenzte Vertrauen, die Achtung und
Liebe, welche sämtliche Freundinnen zu ihr trugen; sie mochten älter
oder jünger sein, alle hegten die gleichen Empfindungen. Eine sehr
angenehme Gesellschaft hatte sich um sie versammelt, es fehlte nicht an
jungen Männern, die sich einzuschleichen wußten, fast jedes Mädchen
fand einen Freund; nur sie war ohne Hälfte geblieben. Freilich, wenn
ihr Äußeres einigermaßen abstoßend war, so wirkte das Innere, das
hindurchblickte, mehr ablehnend als anziehend: denn die Gegenwart einer
jeden Würde weist den andern auf sich selbst zurück. Sie fühlte es
lebhaft, sie verbarg mir's nicht, und ihre Neigung wendete sich desto kräftiger
zu mir. Der Fall war eigen genug. So wie Vertraute, denen man ein
Liebesverständnis offenbart, durch aufrichtige Teilnahme wirklich
Mitliebende werden, ja zu Rivalen heranwachsen und die Neigung zuletzt
wohl auf sich selbst hinziehen, so war es mit uns Geschwistern: denn
indem mein Verhältnis zu Gretchen zerriß, tröstete mich meine
Schwester um desto ernstlicher, als sie heimlich die Zufriedenheit
empfand, eine Nebenbuhlerin losgeworden zu sein; und so mußte auch ich
mit einer stillen Halbschadenfreude empfinden, wenn sie mir
Gerechtigkeit widerfahren ließ, daß ich der einzige sei, der sie
wahrhaft liebe, sie kenne und sie verehre. Wenn sich nun bei mir von
Zeit zu Zeit der Schmerz über Gretchens Verlust erneuerte und ich aus
dem Stegreife zu weinen, zu klagen und mich ungebärdig zu stellen
anfing, so erregte meine Verzweifelung über das Verlorene bei ihr eine
gleichfalls verzweifelnde Ungeduld über das Niebesessene, Mißlungene
und Vorübergestrichene solcher jugendlichen Neigungen, daß wir uns
beide grenzenlos unglücklich hielten, und um so mehr, als in diesem
seltsamen Falle die Vertrauenden sich nicht in Liebende umwandeln
durften. Glücklicherweise
mischte sich jedoch der wunderliche Liebesgott, der ohne Not so viel
Unheil anrichtet, hier einmal wohltätig mit ein, um uns aus aller
Verlegenheit zu ziehen. Mit einem jungen Engländer, der sich in der
Pfeilischen Pension bildete, hatte ich viel Verkehr. Er konnte von
seiner Sprache gute Rechenschaft geben, ich übte sie mit ihm und erfuhr
dabei manches von seinem Lande und Volke. Er ging lange genug bei uns
aus und ein, ohne daß ich eine Neigung zu meiner Schwester an ihm
bemerkte, doch mochte er sie im stillen bis zur Leidenschaft genährt
haben: denn endlich erklärte sich's unversehens und auf einmal. Sie
kannte ihn, sie schätzte ihn, und er verdiente es. Sie war oft bei
unseren englischen Unterhaltungen die Dritte gewesen, wir hatten aus
seinem Munde uns beide die Wunderlichkeiten der englischen Aussprache
anzueignen gesucht, und uns dadurch nicht nur das Besondere ihres Tones
und Klanges, sondern sogar das Besonderste der persönlichen Eigenheiten
unseres Lehrers angewöhnt, so daß es zuletzt seltsam genug klang, wenn
wir zusammen wie aus einem Munde zu reden schienen. Seine Bemühung, von
uns auf gleiche Weise so viel vom Deutschen zu lernen, wollte nicht
gelingen, und ich glaube bemerkt zu haben, daß auch jener kleine
Liebeshandel, sowohl schriftlich als mündlich, in englischer Sprache
durchgeführt wurde. Beide junge Personen schickten sich recht gut für
einander: er war groß und wohlgebaut, wie sie, nur noch schlanker; sein
Gesicht, klein und eng beisammen, hätte wirklich hübsch sein können,
wäre es durch die Blattern nicht allzusehr entstellt gewesen; sein
Betragen war ruhig, bestimmt, man durfte es wohl manchmal trocken und
kalt nennen; aber sein Herz war voll Güte und Liebe, seine Seele voll
Edelmut und seine Neigungen so dauernd als entschieden und gelassen. Nun
zeichnete sich dieses ernste Paar, das sich erst neuerlich
zusammengefunden hatte, unter den anderen ganz eigen aus, die, schon
mehr mit einander bekannt, von leichteren Charakteren, sorglos wegen der
Zukunft, sich in jenen Verhältnissen leichtsinnig herumtrieben, die gewöhnlich
nur als ein fruchtloses Vorspiel künftiger ernsterer Verbindungen vorübergehen,
und sehr selten eine dauernde Folge auf das Leben bewirken. Die
gute Jahrszeit, die schöne Gegend blieb für eine so muntere
Gesellschaft nicht unbenutzt; Wasserfahrten stellte man häufig an, weil
diese die geselligsten von allen Lustpartien sind. Wir mochten uns
jedoch zu Wasser oder zu Lande bewegen, so zeigten sich gleich die
einzelnen anziehenden Kräfte; jedes Paar schloß sich zusammen, und für
einige Männer, die nicht versagt waren, worunter ich auch gehörte,
blieb entweder gar keine weibliche Unterhaltung, oder eine solche, die
man an einem lustigen Tage nicht würde gewählt haben. Ein Freund, der
sich in gleichem Falle befand, und dem es an einer Hälfte hauptsächlich
deswegen ermangeln mochte, weil es ihm, bei dem besten Humor, an Zärtlichkeit,
und bei viel Verstand an jener Aufmerksamkeit fehlte, ohne welche sich
Verbindungen solcher Art nicht denken lassen; dieser, nachdem er öfters
seinen Zustand launig und geistreich beklagt, versprach, bei der nächsten
Versammlung einen Vorschlag zu tun, wodurch ihm und dem Ganzen geholfen
werden sollte. Auch verfehlte er nicht, sein Versprechen zu erfüllen:
denn als wir, nach einer glänzenden Wasserfahrt und einem sehr
anmutigen Spaziergang, zwischen schattigen Hügeln gelagert im Gras,
oder sitzend auf bemoosten Felsen und Baumwurzeln, heiter und froh ein ländliches
Mahl verzehrt hatten und uns der Freund alle heiter und guter Dinge sah,
gebot er mit schalkhafter Würde einen Halbkreis sitzend zu schließen,
vor den er hintrat und folgendermaßen emphatisch zu perorieren anfing:
"Höchst werte Freunde und Freundinnen, Gepaarte und Ungepaarte! -
Schon aus dieser Anrede erhellet, wie nötig es sei daß ein Bußprediger
auftrete und der Gesellschaft das Gewissen schärfe. Ein Teil meiner
edlen Freunde ist gepaart, und mag sich dabei ganz wohl befinden, ein
anderer ungepaart, der befindet sich höchst schlecht, wie ich aus
eigner Erfahrung versichern kann; und wenn nun gleich die lieben
Gepaarten hier die Mehrzahl ausmachen, so gebe ich ihnen doch zu
bedenken, ob es nicht eben gesellige Pflicht sei, für alle zu sorgen?
Warum vereinigen wir uns zahlreich, als um an einander wechselseitig
teilzunehmen? und wie kann das geschehen, wenn sich in unserem Kreise
wieder so viele kleine Absonderungen bemerken lassen? Weit entfernt bin
ich, etwas gegen so schöne Verhältnisse meinen, oder nur daran rühren
zu wollen; aber alles hat seine Zeit! ein schönes großes Wort, woran
freilich niemand denkt, wenn ihm für Zeitvertreib hinreichend gesorgt
ist." Er
fuhr darauf immer lebhafter und lustiger fort, die geselligen Tugenden
den zärtlichen Empfindungen gegenüberzustellen. "Diese",
sagte er, "können uns niemals fehlen, wir tragen sie immer bei
uns, und jeder wird darin leicht ohne Übung ein Meister; aber jene müssen
wir aufsuchen, wir müssen uns um sie bemühen, und wir mögen darin, so
viel wir wollen, fortschreiten, so lernt man sie doch niemals ganz
aus." - Nun ging er ins Besondere. Mancher mochte sich getroffen fühlen,
und man konnte nicht unterlassen, sich unter einander anzusehen; doch
hatte der Freund das Privilegium, daß man ihm nichts übel nahm, und so
konnte er ungestört fortfahren. "Die
Mängel aufdecken ist nicht genug; ja, man hat unrecht solches zu tun,
wenn man nicht zugleich das Mittel zu dem besseren Zustande anzugeben
weiß. Ich will euch, meine Freunde, daher nicht etwa, wie ein
Karwochenprediger, zur Buße und Besserung im allgemeinen ermahnen,
vielmehr wünsche ich sämtlichen liebenswürdigen Paaren das längste
und dauerhafteste Glück, und um hiezu selbst auf das sicherste
beizutragen, tue ich den Vorschlag, für unsere geselligen Stunden diese
kleinen allerliebsten Absonderungen zu trennen und aufzuheben. Ich
habe", fuhr er fort, "schon für die Ausführung gesorgt, wenn
ich Beifall finden sollte. Hier ist ein Beutel, in dem die Namen der
Herren befindlich sind; ziehen Sie nun, meine Schönen, und lassen Sie
sich's gefallen, denjenigen auf acht Tage als Diener zu begünstigen,
den Ihnen das Los zuweist. Dies gilt nur innerhalb unseres Kreises;
sobald er aufgehoben ist, sind auch diese Verbindungen aufgehoben, und
wer Sie nach Hause führen soll, mag das Herz entscheiden." Ein
großer Teil der Gesellschaft war über diese Anrede und die Art, wie er
sie vortrug, froh geworden und schien den Einfall zu billigen; einige
Paare jedoch sahen vor sich hin, als glaubten sie dabei nicht ihre
Rechnung zu finden: deshalb rief er mit launiger Heftigkeit: "Fürwahr!
es überrascht mich, daß nicht jemand aufspringt, und, obgleich noch
andere zaudern, meinen Vorschlag anpreist, dessen Vorteile
auseinandersetzt, und mir erspart, mein eigner Lobredner zu sein. Ich
bin der Älteste unter Ihnen; das mir Gott verzeihe. Schon habe ich eine
Glatze, daran ist mein großes Nachdenkern schuld" Hier
nahm er den Hut ab - "aber
ich würde sie mit Freuden und Ehren zur Schau stellen, wenn meine
eignen Überlegungen, die mir die Haut austrocknen und mich des schönsten
Schmucks berauben, nur auch mir und anderen einigermaßen förderlich
sein könnten. Wir sind jung, meine Freunde, das ist schön; wir werden
älter werden, das ist dumm; wir nehmen uns unter einander wenig übel,
das ist hübsch und der Jahreszeit gemäß. Aber bald, meine Freunde,
werden die Tage kommen wo wir uns selbst manches übel zu nehmen haben:
da mag denn jeder sehen, wie er mit sich zurechte kommt; aber zugleich
werden uns andre manches übel nehmen, und zwar wo wir es gar nicht
begreifen; darauf müssen wir uns vorbereiten, und dieses soll nunmehr
geschehen." Er
hatte die ganze Rede, besonders aber die letzte Stelle, mit Ton und Gebärden
eines Kapuziners vorgetragen: denn da er katholisch war, so mochte er
genügsame Gelegenheit gehabt haben, die Redekunst dieser Väter zu
studieren. Nun schien er außer Atem, trocknete sein jung-kahles Haupt,
das ihm wirklich das Ansehen eines Pfaffen gab, und setzte durch diese
Possen die leichtgesinnte Sozietät in so gute Laune, daß jedermann
begierig war, ihn weiter zu hören. Allein anstatt fortzufahren, zog er
den Beutel und wendete sich zur nächsten Dame: "Es kommt auf einen
Versuch an!" rief er aus, "das Werk wird den Meister loben.
Wenn es in acht Tagen nicht gefällt, so geben wir es auf und es mag bei
dem alten bleiben." Halb
willig, halb genötigt zogen die Damen ihre Röllchen, und gar leicht
bemerkte man, daß bei dieser geringen Handlung mancherlei
Leidenschaften im Spiel waren. Glücklicherweise traf sich's, daß die
Heitergesinnten getrennt wurden, die Ernsteren zusammenblieben; und so
behielt auch meine Schwester ihren Engländer, welches sie beiderseits
dem Gott der Liebe und des Glücks sehr gut aufnahmen. Die neuen
Zufallspaare wurden sogleich von dem Antistes zusammengegeben, auf ihre
Gesundheit getrunken und allen um so mehr Freude gewünscht als ihre
Dauer nur kurz sein sollte. Gewiß aber war dies der heiterste Moment,
den unsere Gesellschaft seit langer Zeit genossen. Die jungen Männer,
denen kein Frauenzimmer zuteil geworden, erhielten nunmehr das Amt,
diese Woche über für Geist, Seele und Leib zu sorgen, wie sich unser
Redner ausdrückte, besonders aber, meinte er, für die Seele, weil die
beiden anderen sich schon eher selbst zu helfen wüßten. Die
Vorsteher, die sich gleich Ehre machen wollten, brachten ganz artige
neue Spiele schnell in Gang, bereiteten in einiger Ferne eine Abendkost,
auf die man nicht gerechnet hatte, illuminierten bei unserer nächtlichen
Rückkehr die Jacht, ob es gleich, bei dem hellen Mondschein, nicht nötig
gewesen wäre; sie entschuldigten sich aber damit, daß es der neuen
geselligen Einrichtung ganz gemäß sei, die zärtlichen Blicke des
himmlischen Mondes durch irdische Lichter zu überscheinen. In dem
Augenblick, als wir ans Land stiegen, rief unser Solon: "Ite, missa
est!" Ein jeder führte die ihm durchs Los zugefallene Dame noch
aus dem Schiffe und übergab sie alsdann ihrer eigentlichen Hälfte,
wogegen er sich wieder die seinige eintauschte. Bei der nächsten
Zusammenkunft ward diese wöchentliche Einrichtung für den Sommer
festgesetzt und die Verlosung abermals vorgenommen. Es war keine Frage,
daß durch diesen Scherz eine neue und unerwartete Wendung in die
Gesellschaft kam, und ein jeder angeregt ward, was ihm von Geist und
Anmut beiwohnte, an den Tag zu bringen und seiner augenblicklichen Schönen
auf das verbindlichste den Hof zu machen, indem er sich wohl zutraute,
wenigstens für eine Woche genügsamen Vorrat zu Gefälligkeiten zu
haben. Man
hatte sich kaum eingerichtet, als man unserem Redner, statt ihm zu
danken, den Vorwurf machte, er habe das Beste seiner Rede, den Schluß,
für sich behalten. Er versicherte darauf, das Beste einer Rede sei die
Überredung, und wer nicht zu überreden gedenke, müsse gar nicht
reden: denn mit der Überzeugung sei es eine mißliche Sache. Als man
ihm demohngeachtet keine Ruhe ließ, begann er sogleich eine Kapuzinade,
fratzenhafter als je, vielleicht gerade darum, weil er die
ernsthaftesten Dinge zu sagen gedachte. Er
führte nämlich mit Sprüchen aus der Bibel, die nicht zur Sache paßten,
mit Gleichnissen, die nicht trafen, mit Anspielungen, die nichts erläuterten,
den Satz aus, daß, wer seine Leidenschaften, Neigungen, Wünsche, Vorsätze,
Plane nicht zu verbergen wisse, in der Welt zu nichts komme, sondern
aller Orten und Enden gestört und zum besten gehabt werde; vorzüglich
aber, wenn man in der Liebe glücklich sein wolle, habe man sich des
tiefsten Geheimnisses zu befleißigen. Dieser
Gedanke schlang sich durch das Ganze durch, ohne daß eigentlich ein
Wort davon wäre gesprochen worden. Will man sich einen Begriff von
diesem seltsamen Menschen machen, so bedenke man, daß er, mit viel
Anlage geboren, seine Talente und besonders seinen Scharfsinn in
Jesuiterschulen ausgebildet und eine große Welt- und Menschenkenntnis,
aber nur von der schlimmen Seite, zusammengewonnen hatte. Er war etwa
zweiundzwanzig Jahr alt, und hätte mich gern zum Proselyten seiner
Menschenverachtung gemacht; aber es wollte nicht bei mir greifen, denn
ich hatte noch immer große Lust, gut zu sein und andere gut zu finden.
Indessen bin ich durch ihn auf vieles aufmerksam geworden. Das
Personal einer jeden heiteren Gesellschaft vollständig zu machen, gehört
notwendig ein Akteur, welcher Freude daran hat, wenn die übrigen, um so
manchen gleichgültigen Moment zu beleben, die Pfeile des Witzes gegen
ihn richten mögen. Ist er nicht bloß ein ausgestopfter Sarazene, wie
derjenige, an dem bei Lustkämpfen die Ritter ihre Lanzen übten,
sondern versteht er selbst zu scharmutzieren, zu necken und
aufzufordern, leicht zu verwunden und sich zurückzuziehen, und, indem
er sich preiszugeben scheint, anderen eins zu versetzen, so kann nicht
wohl etwas Anmutigeres gefunden werden. Einen solchen besaßen wir an
unserem Freund Horn, dessen Name schon zu allerlei Scherzen Anlaß gab
und der, wegen seiner kleinen Gestalt, immer nur Hörnchen genannt
wurde. Er war wirklich der Kleinste in der Gesellschaft, von derben,
aber gefälligen Formen; eine Stumpfnase, ein etwas aufgeworfener Mund,
kleine funkelnde Augen bildeten ein schwarzbraunes Gesicht, das immer
zum Lachen aufzufordern schien. Sein kleiner gedrungener Schädel war
mit krausen schwarzen Haaren reich besetzt, sein Bart frühzeitig blau,
den er gar zu gern hätte wachsen lassen, um als komische Maske die
Gesellschaft immer im Lachen zu erhalten. Übrigens war er nett und
behend, behauptete aber krumme Beine zu haben, welches man ihm zugab,
weil er es gern so wollte, worüber denn mancher Scherz entstand: denn
weil er als ein sehr guter Tänzer gesucht wurde, so rechnete er es
unter die Eigenheiten des Frauenzimmers, daß sie die krummen Beine
immer auf dem Plane sehen wollten. Seine Heiterkeit war unverwüstlich
und seine Gegenwart bei jeder Zusammenkunft unentbehrlich. Wir beide
schlossen uns um so enger an einander, als er mir auf die Akademie
folgen sollte; und er verdient wohl, daß ich seiner in allen Ehren
gedenke, da er viele Jahre mit unendlicher Liebe, Treue und Geduld an
mir gehalten hat. Durch
meine Leichtigkeit, zu reimen und gemeinen Gegenständen eine poetische
Seite abzugewinnen, hatte er sich gleichfalls zu solchen Arbeiten verführen
lassen. Unsere kleinen geselligen Reisen, Lustpartien und die dabei
vorkommenden Zufälligkeiten stutzten wir poetisch auf, und so entstand
durch die Schilderung einer Begebenheit immer eine neue Begebenheit.
Weil aber gewöhnlich dergleichen gesellige Scherze auf Verspottung
hinauslaufen, und Freund Horn mit seinen burlesken Darstellungen nicht
immer in den gehörigen Grenzen blieb, so gab es manchmal Verdruß, der
aber bald wieder gemildert und getilgt werden konnte. So
versuchte er sich auch in einer Dichtungsart, welche sehr an der
Tagesordnung war, im komischen Heldengedicht. Popes
"Lockenraub" hatte viele Nachahmungen erweckt; Zachariä
kultivierte diese Dichtart auf deutschem Grund und Boden, und jedermann
gefiel sie, weil der gewöhnliche Gegenstand derselben irgend ein läppischer
Mensch war, den die Genien zum besten hatten, indem sie den besseren begünstigten. Es
ist nicht wunderbar, aber es erregt doch Verwunderung, wenn man bei
Betrachtung einer Literatur, besonders der deutschen, beobachtet, wie
eine ganze Nation von einem einmal gegebenen und in einer gewissen Form
mit Glück behandelten Gegenstand nicht wieder loskommen kann, sondern
ihn auf alle Weise wiederholt haben will; da denn zuletzt, unter den
angehäuften Nachahmungen, das Original selbst verdeckt und erstickt
wird. Das
Heldengedicht meines Freundes war ein Beleg zu dieser Bemerkung. Bei
einer großen Schlittenfahrt wird einem täppischen Menschen ein
Frauenzimmer zuteil, das ihn nicht mag; ihm begegnet neckisch genug ein
Unglück nach dem andern, das bei einer solchen Gelegenheit sich
ereignen kann, bis er zuletzt, als er sich das Schlittenrecht erbittet,
von der Pritsche fällt, wobei ihm denn, wie natürlich, die Geister ein
Bein gestellt haben. Die Schöne ergreift die Zügel und fährt allein
nach Hause; ein begünstigter Freund empfängt sie und triumphiert über
den anmaßlichen Nebenbuhler. Übrigens war es sehr artig ausgedacht,
wie ihn die vier verschiedenen Geister nach und nach beschädigen, bis
ihn endlich die Gnomen gar aus dem Sattel heben. Das Gedicht, in
Alexandrinern geschrieben, auf eine wahre Geschichte gegründet,
ergetzte unser kleines Publikum gar sehr, und man war überzeugt, daß
es sich mit der "Walpurgisnacht" von Löwen oder dem
"Renommisten" von Zachariä gar wohl messen könne. Indem
nun unsere geselligen Freuden nur einen Abend und die Vorbereitungen
dazu wenige Stunden erforderten, so hatte ich Zeit genug zu lesen und,
wie ich glaubte, zu studieren. Meinem Vater zu Liebe repetierte ich fleißig
den Kleinen Hoppe, und konnte mich vorwärts und rückwärts darin
examinieren lassen, wodurch ich mir denn den Hauptinhalt der
"Institutionen" vollkommen zu eigen machte. Allein unruhige Wißbegierde
trieb mich weiter, ich geriet in die Geschichte der alten Literatur und
von da in einen Enzyklopädismus, indem ich Gesners "Isagoge"
und Morhofs "Polyhistor" durchlief, und mir dadurch einen
allgemeinen Begriff erwarb, wie manches Wunderliche in Lehr und Leben
schon mochte vorgekommen sein. Durch diesen anhaltenden und hastigen,
Tag und Nacht fortgesetzten Fleiß verwirrte ich mich eher, als ich mich
bildete; ich verlor mich aber in ein noch größeres Labyrinth, als ich
Baylen in meines Vaters Bibliothek fand und mich in denselben vertiefte.
Eine Hauptüberzeugung aber, die sich immer in mir erneuerte, war die
Wichtigkeit der alten Sprachen: denn so viel drängte sich mir aus dem
literarischen Wirrwarr immer wieder entgegen, daß in ihnen alle Muster
der Redekünste und zugleich alles andere Würdige, was die Welt jemals
besessen, aufbewahrt sei. Das Hebräische sowie die biblischen Studien
waren in den Hintergrund getreten, das Griechische gleichfalls, da meine
Kenntnisse desselben sich nicht über das Neue Testament hinaus
erstreckten. Desto ernstlicher hielt ich mich ans Lateinische, dessen
Musterwerke uns näher liegen und das uns, nebst so herrlichen
Originalproduktionen, auch den übrigen Erwerb aller Zeiten in Übersetzungen
und Werken der größten Gelehrten darbietet. Ich las daher viel in
dieser Sprache mit großer Leichtigkeit, und durfte glauben die Autoren
zu verstehen, weil mir am buchstäblichen Sinne nichts abging. Ja, es
verdroß mich gar sehr, als ich vernahm, Grotius habe übermütig geäußert,
er lese den Terenz anders als die Knaben. Glückliche Beschränkung der
Jugend! ja der Menschen überhaupt, daß sie sich in jedem Augenblicke
ihres Daseins für vollendet halten können, und weder nach Wahrem noch
Falschem, weder nach Hohem noch Tiefem fragen, sondern bloß nach dem,
was ihnen gemäß ist. So hatte ich denn das Lateinische gelernt wie das
Deutsche, das Französische, das Englische, nur aus dem Gebrauch, ohne
Regel und ohne Begriff. Wer den damaligen Zustand des Schulunterrichts
kennt, wird nicht seltsam finden, daß ich die Grammatik übersprang,
sowie die Redekunst: mir schien alles natürlich zuzugehen, ich behielt
die Worte, ihre Bildungen und Umbildungen in Ohr und Sinn, und bediente
mich der Sprache mit Leichtigkeit zum Schreiben und Schwätzen. Michael,
die Zeit, da ich die Akademie besuchen sollte, rückte heran, und mein
Inneres ward ebenso sehr vom Leben als von der Lehre bewegt. Eine
Abneigung gegen meine Vaterstadt ward mir immer deutlicher. Durch
Gretchens Entfernung war der Knaben - und Jünglingspflanze das Herz
ausgebrochen; sie brauchte Zeit, um an den Seiten wieder auszuschlagen
und den ersten Schaden durch neues Wachstum zu überwinden. Meine
Wanderungen durch die Straßen hatten aufgehört, ich ging nur, wie
andere, die notwendigen Wege. Nach Gretchens Viertel kam ich nie wieder,
nicht einmal in die Gegend; und wie mir meine alten Mauern und Türme
nach und nach verleideten, so mißfiel mir auch die Verfassung der
Stadt, alles, was mir sonst so ehrwürdig vorkam, erschien mir in
verschobenen Bildern. Als Enkel des Schultheißen waren mir die
heimlichen Gebrechen einer solchen Republik nicht unbekannt geblieben,
um so weniger, als Kinder ein ganz eignes Erstaunen fühlen und zu
emsigen Untersuchungen angereizt werden, sobald ihnen etwas, das sie
bisher unbedingt verehrt, einigermaßen verdächtig wird. Der
vergebliche Verdruß rechtschaffener Männer im Widerstreit mit solchen,
die von Parteien zu gewinnen, wohl gar zu bestechen sind, war mir nur zu
deutlich geworden, ich haßte jede Ungerechtigkeit über die Maßen:
denn die Kinder sind alle moralische Rigoristen. Mein Vater, in die
Angelegenheiten der Stadt nur als Privatmann verflochten, äußerte sich
im Verdruß über manches Mißlungene sehr lebhaft. Und sah ich ihn
nicht, nach so viel Studien, Bemühungen, Reisen und mannigfaltiger
Bildung, endlich zwischen seinen Brandmauern ein einsames Leben führen,
wie ich mir es nicht wünschen konnte? Dies zusammen lag als eine
entsetzliche Last auf meinem Gemüte, von der ich mich nur zu befreien
wußte, indem ich mir einen ganz anderen Lebensplan, als den mir
vorgeschriebenen, zu ersinnen trachtete. Ich warf in Gedanken die
juristischen Studien weg und widmete mich allein den Sprachen, den
Altertümern, der Geschichte und allem, was daraus hervorquillt. Zwar
machte mir jederzeit die poetische Nachbildung dessen, was ich an mir
selbst, an anderen und an der Natur gewahr geworden, das größte Vergnügen.
Ich tat es mit immer wachsender Leichtigkeit, weil es aus Instinkt
geschah und keine Kritik mich irre gemacht hatte; und wenn ich auch
meinen Produktionen nicht recht traute, so konnte ich sie wohl als
fehlerhaft, aber nicht als ganz verwerflich ansehen. Ward mir dieses
oder jenes daran getadelt, so blieb es doch im stillen meine Überzeugung,
daß es nach und nach immer besser werden müßte, und daß ich wohl
einmal neben Hagedorn, Gellert und anderen solchen Männern mit Ehre dürfte
genannt werden. Aber eine solche Bestimmung allein schien mir allzu leer
und unzulänglich; ich wollte mich mit Ernst zu jenen gründlichen
Studien bekennen, und, indem ich, bei einer vollständigeren Ansicht des
Altertums, in meinen eigenen Werken rascher vorzuschreiten dachte, mich
zu einer akademischen Lehrstelle fähig machen, welche mir das Wünschenswerteste
schien für einen jungen Mann, der sich selbst auszubilden und zur
Bildung anderer beizutragen gedachte. Bei
diesen Gesinnungen hatte ich immer Göttingen im Auge. Auf Männern wie
Heyne, Michaelis und so manchem anderen ruhte mein ganzes Vertrauen;
mein sehnlichster Wunsch war, zu ihren Füßen zu sitzen und auf ihre
Lehren zu merken. Aber mein Vater blieb unbeweglich. Was auch einige
Hausfreunde, die meiner Meinung waren, auf ihn zu wirken suchten: er
bestand darauf, daß ich nach Leipzig gehen müsse. Nun hielt ich den
Entschluß, daß ich, gegen seine Gesinnungen und Willen, eine eigne
Studien- und Lebensweise ergreifen wollte, erst recht für Notwehr. Die
Hartnäckigkeit meines Vaters, der, ohne es zu wissen, sich meinen Plänen
entgegensetzte, bestärkte mich in meiner Impietät, daß ich mir gar
kein Gewissen daraus machte, ihm Stunden lang zuzuhören, wenn er mir
den Kursus der Studien und des Lebens, wie ich ihn auf Akademien und in
der Welt zu durchlaufen hätte, vorerzählte und wiederholte. Da
mir alle Hoffnung nach Göttingen abgeschnitten war, wendete ich nun
meinen Blick nach Leipzig. Dort erschien mir Ernesti als ein helles
Licht, auch Morus erregte schon viel Vertrauen. Ich ersann mir im
stillen einen Gegenkursus, oder vielmehr ich baute ein Luftschloß auf
einen ziemlich soliden Grund; und es schien mir sogar romantisch
ehrenvoll, sich seine eigne Lebensbahn vorzuzeichnen, die mir um so
weniger phantastisch vorkam, als Griesbach auf dem ähnlichen Wege schon
große Fortschritte gemacht hatte und deshalb von jedermann gerühmt
wurde. Die heimliche Freude eines Gefangenen, wenn er seine Ketten abgelöst
und die Kerkergitter bald durchgefeilt hat, kann nicht größer sein,
als die meine war, indem ich die Tage schwinden und den Oktober
herannahen sah. Die unfreundliche Jahreszeit, die bösen Wege, von denen
jedermann zu erzählen wußte, schreckten mich nicht. Der Gedanke, an
einem fremden Orte zu Winterszeit Einstand geben zu müssen, machte mich
nicht trübe; genug, ich sah nur meine gegenwärtigen Verhältnisse düster,
und stellte mir die übrige unbekannte Welt licht und heiter vor. So
bildete ich mir meine Träume, denen ich ausschließlich nachhing, und
versprach mir in der Ferne nichts als Glück und Zufriedenheit. So
sehr ich auch gegen jedermann von diesen meinen Vorsätzen ein Geheimnis
machte, so konnte ich sie doch meiner Schwester nicht verbergen, die,
nachdem sie anfangs darüber sehr erschrocken war, sich zuletzt
beruhigte, als ich ihr versprach sie nachzuholen, damit sie sich meines
erworbenen glänzenden Zustandes mit mir erfreuen und an meinem
Wohlbehagen teilnehmen könnte. Michael
kam endlich, sehnlich erwartet, heran, da ich denn mit dem Buchhändler
Fleischer und dessen Gattin, einer geborenen Triller, welche ihren Vater
in Wittenberg besuchen wollte, mit Vergnügen abfuhr, und die werte
Stadt, die mich geboren und erzogen, gleichgültig hinter mir ließ, als
wenn ich sie nie wieder betreten wollte. So
lösen sich in gewissen Epochen Kinder von Eltern, Diener von Herren,
Begünstigte von Gönnern los, und ein solcher Versuch, sich auf seine Füße
zu stellen, sich unabhängig zu machen, für sein eigen Selbst zu leben,
er gelinge oder nicht, ist immer dem Willen der Natur gemäß. Wir
waren zur Allerheiligenpforte hinausgefahren und hatten bald Hanau
hinter uns, da ich denn zu Gegenden gelangte, die durch ihre Neuheit
meine Aufmerksamkeit erregten, wenn sie auch in der jetzigen Jahrszeit
wenig Erfreuliches darboten. Ein anhaltender Regen hatte die Wege äußerst
verdorben, welche überhaupt noch nicht in den guten Stand gesetzt
waren, in welchem wir sie nachmals finden; und unsere Reise war daher
weder angenehm noch glücklich. Doch verdankte ich dieser feuchten
Witterung den Anblick eines Naturphänomens, das wohl höchst selten
sein mag; denn ich habe nichts Ähnliches jemals wieder gesehen, noch
auch von anderen, daß sie es gewahrt hätten, vernommen. Wir fuhren nämlich
zwischen Hanau und Gelnhausen bei Nachtzeit eine Anhöhe hinauf, und
wollten, ob es gleich finster war, doch lieber zu Fuße gehen, als uns
der Gefahr und Beschwerlichkeit dieser Wegstrecke aussetzen. Auf einmal
sah ich an der rechten Seite des Wegs, in einer Tiefe, eine Art von
wundersam erleuchtetem Amphitheater. Es blinkten nämlich in einem
trichterförmigen Raume unzählige Lichtchen stufenweise über einander,
und leuchteten so lebhaft, daß das Auge davon geblendet wurde. Was aber
den Blick noch mehr verwirrte, war, daß sie nicht etwa still saßen,
sondern hin und wider hüpften, sowohl von oben nach unten, als
umgekehrt und nach allen Seiten. Die meisten jedoch blieben ruhig und
flimmerten fort. Nur höchst ungern ließ ich mich von diesem Schauspiel
abrufen, das ich genauer zu beobachten gewünscht hätte. Auf Befragen
wollte der Postillon zwar von einer solchen Erscheinung nichts wissen,
sagte aber, daß in der Nähe sich ein alter Steinbruch befinde, dessen
mittlere Vertiefung mit Wasser angefüllt sei. Ob dieses nun ein Pandämonium
von Irrlichtern oder eine Gesellschaft von leuchtenden Geschöpfen
gewesen, will ich nicht entscheiden. Durch Thüringen wurden die Wege
noch schlimmer, und leider blieb unser Wagen in der Gegend von Auerstädt
bei einbrechender Nacht stecken. Wir waren von allen Menschen entfernt,
und taten das mögliche, uns los zu arbeiten. Ich ermangelte nicht, mich
mit Eifer anzustrengen, und mochte mir dadurch die Bänder der Brust übermäßig
ausgedehnt haben; denn ich empfand bald nachher einen Schmerz, der
verschwand und wiederkehrte und erst nach vielen Jahren mich völlig
verließ. Doch
sollte ich noch in derselbigen Nacht, als wenn sie recht zu
abwechselnden Schicksalen bestimmt gewesen wäre, nach einem unerwartet
glücklichen Ereignis einen neckischen Verdruß empfinden. Wir trafen nämlich
in Auerstädt ein vornehmes Ehepaar, das, durch ähnliche Schicksale
verspätet, eben auch erst angekommen war; einen ansehnlichen würdigen
Mann in den besten Jahren mit einer sehr schönen Gemahlin. Zuvorkommend
veranlaßten sie uns, in ihrer Gesellschaft zu speisen, und ich fand
mich sehr glücklich, als die treffliche Dame ein freundliches Wort an
mich wenden wollte. Als ich aber hinausgesandt ward, die gehoffte Suppe
zu beschleunigen, überfiel mich, der ich freilich des Wachens und der
Reisebeschwerden nicht gewohnt war, eine so unüberwindliche
Schlafsucht, daß ich ganz eigentlich im Gehen schlief, mit dem Hut auf
dem Kopfe wieder in das Zimmer trat, mich, ohne zu bemerken, daß die
anderen ihr Tischgebet verrichteten, bewußtlos gelassen gleichfalls
hinter den Stuhl stellte, und mir nicht träumen ließ, daß ich durch
mein Betragen ihre Andacht auf eine sehr lustige Weise zu stören
gekommen sei. Madame Fleischer, der es weder an Geist und Witz, noch an
Zunge fehlte, ersuchte die Fremden, noch ehe man sich setzte, sie möchten
nicht auffallend finden, was sie hier mit Augen sähen; der junge
Reisegefährte habe große Anlage zum Quäker, welche Gott und den König
nicht besser zu verehren glaubten, als mit bedecktem Haupte. Die schöne
Dame, die sich des Lachens nicht enthalten konnte, ward dadurch nur noch
schöner, und ich hätte alles in der Welt darum gegeben, nicht Ursache
an einer Heiterkeit gewesen zu sein, die ihr so fürtrefflich zu Gesicht
stand. Ich hatte jedoch den Hut kaum beiseitegebracht, als die Personen,
nach ihrer Weltsitte, den Scherz sogleich fallen ließen, und durch den
besten Wein aus ihrem Flaschenkeller Schlaf, Mißmut und das Andenken an
alle vergangenen Übel völlig auslöschten. Als
ich in Leipzig ankam, war es gerade Meßzeit, woraus mir ein besonderes
Vergnügen entsprang: denn ich sah hier die Fortsetzung eines vaterländischen
Zustandes vor mir, bekannte Waren und Verkäufer, nur an anderen Plätzen
und in einer anderen Folge. Ich durchstrich den Markt und die Buden mit
vielem Anteil; besonders aber zogen meine Aufmerksamkeit an sich, in
ihren seltsamen Kleidern, jene Bewohner der östlichen Gegenden, die
Polen und Russen, vor allen aber die Griechen, deren ansehnlichen
Gestalten und würdigen Kleidungen ich gar oft zu Gefallen ging. Diese
lebhafte Bewegung war jedoch bald vorüber, und nun trat mir die Stadt
selbst mit ihren schönen, hohen und unter einander gleichen Gebäuden
entgegen. Sie machte einen sehr guten Eindruck auf mich, und es ist
nicht zu leugnen, daß sie überhaupt, besonders aber in stillen
Momenten der Sonn- und Feiertage, etwas Imposantes hat, so wie denn auch
im Mondschein die Straßen, halb beschattet, halb erleuchtet, mich oft
zu nächtlichen Promenaden einluden. Indessen
genügte mir gegen das, was ich bisher gewohnt war, dieser neue Zustand
keineswegs. Leipzig ruft dem Beschauer keine altertümliche Zeit zurück;
es ist eine neue, kurz vergangene, von Handelstätigkeit, Wohlhabenheit,
Reichtum zeugende Epoche, die sich uns in diesen Denkmalen ankündet.
Jedoch ganz nach meinem Sinn waren die mir ungeheuer scheinenden Gebäude,
die, nach zwei Straßen ihr Gesicht wendend, in großen, himmelhoch
umbauten Hofräumen eine bürgerliche Welt umfassend, großen Burgen, ja
Halbstädten ähnlich sind. In einem dieser seltsamen Räume quartierte
ich mich ein, und zwar in der "Feuerkugel" zwischen dem Alten
und Neuen Neumarkt. Ein paar artige Zimmer, die in den Hof sahen, der
wegen des Durchgangs nicht unbelebt war, bewohnte der Buchhändler
Fleischer während der Messe, und ich für die übrige Zeit um einen
leidlichen Preis. Als Stubennachbarn fand ich einen Theologen, der in
seinem Fache gründlich unterrichtet, wohldenkend, aber arm war, und,
was ihm große Sorge für die Zukunft machte, sehr an den Augen litt. Er
hatte sich dieses Übel durch übermäßiges Lesen bis in die tiefste Dämmerung,
ja sogar, um das wenige zu ersparen, bei Mondschein zugezogen. Unsere
alte Wirtin erzeigte sich wohltätig gegen ihn, gegen mich jederzeit
freundlich, und gegen beide sorgsam. Nun
eilte ich mit meinem Empfehlungsschreiben zu Hofrat Böhme, der, ein Zögling
von Mascov, nunmehr sein Nachfolger, Geschichte und Staatsrecht lehrte.
Ein kleiner, untersetzter, lebhafter Mann empfing mich freundlich genug
und stellte mich seiner Gattin vor. Beide, sowie die übrigen Personen,
denen ich aufwartete, gaben mir die beste Hoffnung wegen meines künftigen
Aufenthaltes; doch ließ ich mich anfangs gegen niemand merken, was ich
im Schilde führte, ob ich gleich den schicklichen Moment kaum erwarten
konnte, wo ich mich von der Jurisprudenz frei und dem Studium der Alten
verbunden erklären wollte. Vorsichtig wartete ich ab, bis Fleischers
wieder abgereist waren, damit mein Vorsatz nicht allzu geschwind den
Meinigen verraten würde. Sodann aber ging ich ohne Anstand zu Hofrat Böhmen,
dem ich vor allen die Sache glaubte vertrauen zu müssen, und erklärte
ihm, mit vieler Konsequenz und Parrhesie, meine Absicht. Allein ich fand
keineswegs eine gute Aufnahme meines Vortrags. Als Historiker und
Staatsrechtler hatte er einen erklärten Haß gegen alles, was nach schönen
Wissenschaften schmeckte. Unglücklicherweise stand er mit denen, welche
sie kultivierten nicht im besten Vernehmen, und Gellerten besonders, für
den ich, ungeschickt genug, viel Zutrauen geäußert hatte, konnte er
nun gar nicht leiden. Jenen Männern also einen treuen Zuhörer
zuzuweisen, sich selbst aber einen zu entziehen, und noch dazu unter
solchen Umständen, schien ihm ganz und gar unzulässig. Er hielt mir
daher aus dem Stegreif eine gewaltige Strafpredigt, worin er beteuerte,
daß er ohne Erlaubnis meiner Eltern einen solchen Schritt nicht zugeben
könne, wenn er ihn auch, wie hier der Fall nicht sei, selbst billigte.
Er verunglimpfte darauf leidenschaftlich Philologie und Sprachstudien,
noch mehr aber die poetischen Übungen, die ich freilich im Hintergrunde
hatte durchblicken lassen. Er schloß zuletzt, daß, wenn ich ja dem
Studium der Alten mich nähern wolle, solches viel besser auf dem Wege
der Jurisprudenz geschehen könne. Er brachte mir so manchen eleganten
Juristen, Everhard Otto und Heineccius, ins Gedächtnis, versprach mir
von den römischen Altertümern und der Rechtsgeschichte goldne Berge,
und zeigte mir sonnenklar, daß ich hier nicht einmal einen Umweg mache,
wenn ich auch späterhin noch jenen Vorsatz, nach reiferer Überlegung
und mit Zustimmung meiner Eltern, auszuführen gedächte. Er ersuchte
mich freundlich, die Sache nochmals zu überlegen und ihm meine
Gesinnungen bald zu eröffnen, weil es nötig sei, wegen bevorstehenden
Anfangs der Kollegien, sich zunächst zu entschließen. Es
war noch ganz artig von ihm, nicht auf der Stelle in mich zu dringen.
Seine Argumente und das Gewicht, womit er sie vortrug, hatten meine
biegsame Jugend schon überzeugt, und ich sah nun erst die
Schwierigkeiten und Bedenklichkeiten einer Sache, die ich mir im stillen
so tulich ausgebildet hatte. Frau Hofrat Böhme ließ mich kurz darauf
zu sich einladen. Ich fand sie allein. Sie war nicht mehr jung und sehr
kränklich, unendlich sanft und zart, und machte gegen ihren Mann,
dessen Gutmütigkeit sogar polterte, einen entschiedenen Kontrast. Sie
brachte mich auf das von ihrem Manne neulich geführte Gespräch, und
stellte mir die Sache nochmals so freundlich, liebevoll und verständig
im ganzen Umfange vor, daß ich mich nicht enthalten konnte nachzugeben;
die wenigen Reservationen, auf denen ich bestand, wurden von jener Seite
denn auch bewilligt. Der
Gemahl regulierte darauf meine Stunden: da sollte ich denn Philosophie,
Rechtsgeschichte und Institutionen und noch einiges andere hören. Ich
ließ mir das gefallen; doch setzte ich durch, Gellerts
Literargeschichte über Stockhausen und außerdem sein Praktikum zu
frequentieren. Die
Verehrung und Liebe, welche Gellert von allen jungen Leuten genoß, war
außerordentlich. Ich hatte ihn schon besucht und war freundlich von ihm
aufgenommen worden. Nicht groß von Gestalt, zierlich aber nicht hager,
sanfte, eher traurige Augen, eine sehr schöne Stirn, eine nicht übertriebene
Habichtsnase, ein feiner Mund, ein gefälliges Oval des Gesichts: alles
machte seine Gegenwart angenehm und wünschenswert. Es kostete einige Mühe,
zu ihm zu gelangen. Seine zwei Famuli schienen Priester, die ein
Heiligtum bewahren, wozu nicht jedem, noch zu jeder Zeit, der Zutritt
erlaubt ist; und eine solche Vorsicht war wohl notwendig: denn er würde
seinen ganzen Tag aufgeopfert haben, wenn er alle die Menschen, die sich
ihm vertraulich zu nähern gedachten, hätte aufnehmen und befriedigen
wollen. Meine
Kollegia besuchte ich anfangs emsig und treulich; die Philosophie wollte
mich jedoch keineswegs aufklären. In der Logik kam es mir wunderlich
vor, daß ich diejenigen Geistesoperationen, die ich von Jugend auf mit
der größten Bequemlichkeit verrichtete, so aus einander zerren,
vereinzelnen und gleichsam zerstören sollte, um den rechten Gebrauch
derselben einzusehen. Von dem Dinge, von der Welt, von Gott glaubte ich
ungefähr so viel zu wissen als der Lehrer selbst, und es schien mir an
mehr als einer Stelle gewaltig zu hapern. Doch ging alles noch in
ziemlicher Folge bis gegen Fastnacht, wo in der Nähe des Professor
Winckler auf dem Thomasplan, gerade um die Stunde, die köstlichsten Kräpfel
heiß aus der Pfanne kamen, welche uns denn dergestalt verspäteten, daß
unsere Hefte locker wurden, und das Ende derselben gegen das Frühjahr
mit dem Schnee zugleich verschmolz und sich verlor. Mit
den juristischen Kollegien ward es bald ebenso schlimm: denn ich wußte
gerade schon so viel, als uns der Lehrer zu überliefern für gut fand.
Mein erst hartnäckiger Fleiß im Nachschreiben wurde nach und nach gelähmt,
indem ich es höchst langweilig fand, dasjenige nochmals aufzuzeichnen,
was ich bei meinem Vater, teils fragend, teils antwortend, oft genug
wiederholt hatte, um es für immer im Gedächtnis zu behalten. Der
Schaden, den man anrichtet, wenn man junge Leute auf Schulen in manchen
Dingen zu weit führt, hat sich späterhin noch mehr ergeben, da man den
Sprachübungen und der Begründung in dem, was eigentliche Vorkenntnisse
sind, Zeit und Aufmerksamkeit abbrach, um sie an sogenannte Realitäten
zu wenden, welche mehr zerstreuen als bilden, wenn sie nicht methodisch
und vollständig überliefert werden. Noch
ein anderes Übel, wodurch Studierende sehr bedrängt sind, erwähne ich
hier beiläufig. Professoren, so gut wie andere in Ämtern angestellte Männer,
können nicht alle von einem Alter sein; da aber die jüngeren
eigentlich nur lehren, um zu lernen, und noch dazu, wenn sie gute Köpfe
sind, dem Zeitalter voreilen, so erwerben sie ihre Bildung durchaus auf
Unkosten der Zuhörer, weil diese nicht in dem unterrichtet werden, was
sie eigentlich brauchen, sondern in dem, was der Lehrer für sich zu
bearbeiten nötig findet. Unter den ältesten Professoren dagegen sind
manche schon lange Zeit stationär; sie überliefern im ganzen nur fixe
Ansichten, und, was das einzelne betrifft, vieles, was die Zeit schon
als unnütz und falsch verurteilt hat. Durch beides entsteht ein
trauriger Konflikt, zwischen welchem junge Geister hin und her gezerrt
werden, und welcher kaum durch die Lehrer des mittleren Alters, die,
obschon genugsam unterrichtet und gebildet, doch immer noch ein tätiges
Streben zum Wissen und Nachdenken bei sich empfinden, ins gleiche
gebracht werden kann. Wie
ich nun auf diesem Wege viel mehreres kennen als zurechte legen lernte,
wodurch sich ein immer wachsendes Mißbehagen in mir hervordrang, so
hatte ich auch vom Leben manche kleine Unannehmlichkeiten; wie man denn,
wenn man den Ort verändert und in neue Verhältnisse tritt, immer
Einstand geben muß. Das erste, was die Frauen an mir tadelten, bezog
sich auf die Kleidung; denn ich war vom Hause freilich etwas wunderlich
equipiert auf die Akademie gelangt. Mein
Vater, dem nichts so sehr verhaßt war, als wenn etwas vergeblich
geschah, wenn jemand seine Zeit nicht zu brauchen wußte, oder sie zu
benutzen keine Gelegenheit fand, trieb seine Ökonomie mit Zeit und Kräften
so weit, daß ihm nichts mehr Vergnügen machte, als zwei Fliegen mit
einer Klappe zu schlagen. Er hatte deswegen niemals einen Bedienten, der
nicht im Hause zu noch etwas nützlich gewesen wäre. Da er nun von
jeher alles mit eigener Hand schrieb und später die Bequemlichkeit
hatte, jenem jungen Hausgenossen in die Feder zu diktieren, so fand er
am vorteilhaftesten, Schneider zu Bedienten zu haben, welche die Stunden
gut anwenden mußten, indem sie nicht allein ihre Livreien, sondern auch
die Kleider für Vater und Kinder zu fertigen, nicht weniger alles
Flickwerk zu besorgen hatten. Mein Vater war selbst um die besten Tücher
und Zeuge bemüht, indem er auf den Messen von auswärtigen
Handelsherren feine Ware bezog und sie in seinen Vorrat legte; wie ich
mich denn noch recht wohl erinnere, daß er die Herrn von Loewenich von
Aachen jederzeit besuchte, und mich von meiner frühesten Jugend an mit
diesen und anderen vorzüglichen Handelsherren bekannt machte. Für
die Tüchtigkeit des Zeugs war also gesorgt und genugsamer Vorrat
verschiedener Sorten Tücher, Sarschen, Göttinger Zeug, nicht weniger
das nötige Unterfutter vorhanden, so daß wir, dem Stoff nach, uns wohl
hätten dürfen sehen lassen; aber die Form verdarb meist alles: denn
wenn ein solcher Hausschneider allenfalls ein guter Geselle gewesen wäre,
um einen meisterhaft zugeschnittenen Rock wohl zu nähen und zu
fertigen, so sollte er nun auch das Kleid selbst zuschneiden, und dieses
geriet nicht immer zum besten. Hiezu kam noch, daß mein Vater alles,
was zu seinem Anzuge gehörte, sehr gut und reinlich hielt und viele
Jahre mehr bewahrte als benutzte, daher eine Vorliebe für gewissen
alten Zuschnitt und Verzierungen trug, wodurch unser Putz mitunter ein
wunderliches Ansehen bekam. Auf
eben diesem Wege hatte man auch meine Garderobe, die ich mit auf die
Akademie nahm, zustande gebracht; sie war recht vollständig und
ansehnlich und sogar ein Tressenkleid darunter. Ich, diese Art von
Aufzug schon gewohnt, hielt mich für geputzt genug; allein es währte
nicht lange, so überzeugten mich meine Freundinnen, erst durch leichte
Neckereien, dann durch vernünftige Vorstellungen, daß ich wie aus
einer fremden Welt hereingeschneit aussehe. So viel Verdruß ich auch
hierüber empfand, sah ich doch anfangs nicht, wie ich mir helfen
sollte. Als aber Herr von Masuren, der so beliebte poetische Dorfjunker,
einst auf dem Theater in einer ähnlichen Kleidung auftrat, und mehr
wegen seiner äußeren als inneren Abgeschmacktheit herzlich belacht
wurde, faßte ich Mut und wagte, meine sämtliche Garderobe gegen eine
neumodische, dem Ort gemäße auf einmal umzutauschen, wodurch sie aber
freilich sehr zusammenschrumpfte. Nach
dieser überstandenen Prüfung sollte abermals eine neue eintreten,
welche mir weit unangenehmer auffiel, weil sie eine Sache betraf, die
man nicht so leicht ablegt und umtauscht. Ich
war nämlich in dem oberdeutschen Dialekt geboren und erzogen, und
obgleich mein Vater sich stets einer gewissen Reinheit der Sprache befliß
und uns Kinder auf das, was man wirklich Mängel jenes Idioms nennen
kann, von Jugend an aufmerksam gemacht und zu einem besseren sprechen
vorbereitet hatte, so blieben mir doch gar manche tiefer liegende
Eigenheiten, die ich, weil sie mir ihrer Naivetät wegen gefielen, mit
Behagen hervorhob, und mir dadurch von meinen neuen Mitbürgern jedesmal
einen strengen Verweis zuzog. Der Oberdeutsche nämlich, und vielleicht
vorzüglich derjenige, welcher dem Rhein und Main anwohnt (denn große
Flüsse haben, wie das Meeresufer, immer etwas Belebendes), drückt sich
viel in Gleichnissen und Anspielungen aus, und bei einer inneren
menschenverständigen Tüchtigkeit bedient er sich sprüchwörtlicher
Redensarten. In beiden Fällen ist er öfters derb, doch, wenn man auf
den Zweck des Ausdruckes sieht, immer gehörig; nur mag freilich
manchmal etwas mit unterlaufen, was gegen ein zarteres Ohr sich anstößig
erweist. Jede
Provinz liebt ihren Dialekt: denn er ist doch eigentlich das Element, in
welchem die Seele ihren Atem schöpft. Mit welchem Eigensinn aber die
meißnische Mundart die übrigen zu beherrschen, ja eine Zeitlang
auszuschließen gewußt hat, ist jedermann bekannt. Wir haben viele
Jahre unter diesem pedantischen Regimente gelitten, und nur durch
vielfachen Widerstreit haben sich die sämtlichen Provinzen in ihre
alten Rechte wieder eingesetzt. Was ein junger lebhafter Mensch unter
diesem beständigen Hofmeistern ausgestanden habe, wird derjenige leicht
ermessen, der bedenkt, daß nun mit der Aussprache, in deren Veränderung
man sich endlich wohl ergäbe, zugleich Denkweise, Einbildungskraft, Gefühl,
vaterländischer Charakter sollten aufgeopfert werden. Und diese unerträgliche
Forderung wurde von gebildeten Männern und Frauen gemacht, deren Überzeugung
ich mir nicht zueignen konnte, deren Unrecht ich zu empfinden glaubte,
ohne mir es deutlich machen zu können. Mir sollten die Anspielungen auf
biblische Kernstellen untersagt sein, sowie die Benutzung treuherziger
Chronikenausdrücke. Ich sollte vergessen, daß ich den Geiler von
Kaisersberg gelesen hatte, und des Gebrauchs der Sprüchwörter
entbehren, die doch, statt vieles Hin- und Herfackelns, den Nagel gleich
auf den Kopf treffen; alles dies, das ich mir mit jugendlicher
Heftigkeit angeeignet, sollte ich missen, ich fühlte mich in meinem
Innersten paralysiert und wußte kaum mehr, wie ich mich über die
gemeinsten Dinge zu äußern hatte. Daneben hörte ich, man solle reden
wie man schreibt, und schreiben wie man spricht; da mir Reden und
Schreiben ein für allemal zweierlei Dinge schienen, von denen jedes
wohl seine eignen Rechte behaupten möchte. Und hatte ich doch auch im
Meißner Dialekt manches zu hören, was sich auf dem Papier nicht
sonderlich würde ausgenommen haben. Jedermann,
der hier vernimmt, welchen Einfluß auf einen jungen Studierenden
gebildete Männer und Frauen, Gelehrte und sonst in einer feinen Sozietät
sich gefallende Personen so entschieden ausüben, würde, wenn es auch
nicht ausgesprochen wäre, sich sogleich überzeugt halten, daß wir uns
in Leipzig befinden. Jede der deutschen Akademien hat eine besondere
Gestalt: denn weil in unserem Vaterlande keine allgemeine Bildung
durchdringen kann, so beharrt jeder Ort auf seiner Art und Weise und
treibt seine charakteristischen Eigenheiten bis aufs letzte, eben dieses
gilt von den Akademien. In Jena und Halle war die Roheit aufs höchste
gestiegen, körperliche Stärke, Fechtergewandtheit, die wildeste
Selbsthülfe war dort an der Tagesordnung; und ein solcher Zustand kann
sich nur durch den gemeinsten Saus und Braus erhalten und fortpflanzen.
Das Verhältnis der Studierenden zu den Einwohnern jener Städte, so
verschieden es auch sein mochte, kam doch darin überein, daß der wilde
Fremdling keine Achtung vor dem Bürger hatte und sich als ein eignes,
zu aller Freiheit und Frechheit privilegiertes Wesen ansah. Dagegen
konnte in Leipzig ein Student kaum anders als galant sein, sobald er mit
reichen, wohl und genau gesitteten Einwohnern in einigem Bezug stehen
wollte. Alle
Galanterie freilich, wenn sie nicht als Blüte einer großen und weiten
Lebensweise hervortritt, muß beschränkt stationär und aus gewissen
Gesichtspunkten vielleicht albern erscheinen; und so glaubten jene
wilden Jäger von der Saale über die zahmen Schäfer an der Pleiße ein
großes Übergewicht zu haben. Zachariäs "Renommist" wird
immer ein schätzbares Dokument bleiben, woraus die damalige Lebens -
und Sinnesart anschaulich hervortritt; wie überhaupt seine Gedichte
jedem willkommen sein müssen, der sich einen Begriff von dem zwar
schwachen, aber wegen seiner Unschuld und Kindlichkeit liebenswürdigen
Zustande des damaligen geselligen Lebens und Wesens machen will. Alle
Sitten, die aus einem gegebenen Verhältnis eines gemeinen Wesens
entspringen, sind unverwüstlich, und zu meiner Zeit erinnerte noch
manches an Zachariäs Heldengedicht. Ein einziger unserer akademischen
Mitbürger hielt sich für reich und unabhängig genug, der öffentlichen
Meinung ein Schnippchen zu schlagen. Er trank Schwägerschaft mit allen
Lohnkutschern, die er, als wären's die Herren, sich in die Wagen setzen
ließ und selbst vom Bocke fuhr, sie einmal umzuwerfen für einen großen
Spaß hielt, die zerbrochenen Halbchaisen, sowie die zufälligen Beulen
zu vergüten wußte, übrigens aber niemanden beleidigte, sondern nur
das Publikum in Masse zu verhöhnen schien. Einst bemächtigte er und
ein Spießgesell sich, am schönsten Promenadentage, der Esel des
Thomasmüllers, sie ritten wohl gekleidet, in Schuhen und Strümpfen mit
dem größten Ernst um die Stadt, angestaunt von allen Spaziergängern,
wo von denen das Glacis wimmelte. Als ihm einige Wohldenkende hierüber
Vorstellungen taten, versicherte er ganz unbefangen, er habe nur sehen
wollen, wie sich der Herr Christus in einem ähnlichen Falle möchte
ausgenommen haben. Nachahmer fand er jedoch keinen und wenig Gesellen. Denn
der Studierende von einigem Vermögen und Ansehen hatte alle Ursache,
sich gegen den Handelsstand ergeben zu erweisen, und sich um so mehr
schicklicher äußerer Formen zu befleißigen, als die Kolonie ein
Musterbild französischer Sitten darstellte. Die Professoren, wohlhabend
durch eignes Vermögen und gute Pfründen, waren von ihren Schülern
nicht abhängig, und der Landeskinder mehrere, auf den Fürstenschulen
oder sonstigen Gymnasien gebildet und Beförderung hoffend, wagten es
nicht, sich von der herkömmlichen Sitte loszusagen. Die Nähe von
Dresden, die Aufmerksamkeit von daher, die wahre Frömmigkeit der
Oberaufseher des Studienwesens konnte nicht ohne sittlichen, ja religiösen
Einfluß bleiben. Mir
war diese Lebensart im Anfange nicht zuwider; meine Empfehlungsbriefe
hatten mich in gute Häuser eingeführt, deren verwandte Zirkel mich
gleichfalls wohl aufnahmen. Da ich aber bald empfinden mußte, daß die
Gesellschaft gar manches an mir auszusetzen hatte, und ich, nachdem ich
mich ihrem Sinne gemäß gekleidet, ihr nun auch nach dem Munde reden
sollte, und dabei doch deutlich sehen konnte, daß mir dagegen von
alledem wenig geleistet wurde, was ich mir von Unterricht und Sinnesförderung
bei meinem akademischen Aufenthalt versprochen hatte, so fing ich an lässig
zu werden und die geselligen Pflichten der Besuche und sonstigen
Attentionen zu versäumen, und ich wäre noch früher aus allen solchen
Verhältnissen herausgetreten, hätte mich nicht an Hofrat Böhmen Scheu
und Achtung und an seine Gattin Zutrauen und Neigung festgeknüpft. Der
Gemahl hatte leider nicht die glückliche Gabe, mit jungen Leuten
umzugehen, sich ihr Vertrauen zu erwerben und sie für den Augenblick
nach Bedürfnis zu leiten. Ich fand niemals Gewinn davon, wenn ich ihn
besuchte; seine Gattin dagegen zeigte ein aufrichtiges Interesse an mir.
Ihre Kränklichkeit hielt sie stets zu Hause. Sie lud mich manchen Abend
zu sich und wußte mich, der ich zwar gesittet war, aber doch
eigentlich, was man Lebensart nennt, nicht besaß, in manchen kleinen Äußerlichkeiten
zurecht zu führen und zu verbessern. Nur eine einzige Freundin brachte
die Abende bei ihr zu; diese war aber schon herrischer und
schulmeisterlicher, deswegen sie mir äußerst mißfiel und ich ihr zum
Trutz öfters jene Unarten wieder annahm, welche mir die andere schon
abgewöhnt hatte. Sie übten unterdessen noch immer Geduld genug an mir,
lehrten mich Piquet, L'hombre und was andere dergleichen Spiele sind,
deren Kenntnis und Ausübung in der Gesellschaft für unerläßlich
gehalten wird. Worauf
aber Madame Böhme den größten Einfluß bei mir hatte, war auf meinen
Geschmack, freilich auf eine negative Weise, worin sie jedoch mit den
Kritikern vollkommen übereintraf. Das Gottschedische Gewässer hatte
die deutsche Welt mit einer wahren Sündflut überschwemmt, welche sogar
über die höchsten Berge hinaufzusteigen drohte. Bis sich eine solche
Flut wieder verläuft, bis der Schlamm austrocknet, dazu gehört viele
Zeit, und da es der nachäffenden Poeten in jeder Epoche eine Unzahl
gibt, so brachte die Nachahmung des Seichten, Wäßrigen einen solchen
Wust hervor, von dem gegenwärtig kaum ein Begriff mehr geblieben ist.
Das Schlechte schlecht zu finden, war daher der größte Spaß, ja der
Triumph damaliger Kritiker. Wer nur einigen Menschenverstand besaß,
oberflächlich mit den Alten, etwas näher mit den Neueren bekannt war,
glaubte sich schon mit einem Maßstabe versehen, den er überall anlegen
könne. Madame Böhme war eine gebildete Frau, welcher das Unbedeutende,
Schwache und Gemeine widerstand; sie war noch überdies Gattin eines
Mannes, der mit der Poesie überhaupt in Unfrieden lebte und dasjenige
nicht gelten ließ, was sie allenfalls noch gebilligt hätte. Nun hörte
sie mir zwar einige Zeit mit Geduld zu, wenn ich ihr Verse oder Prose
von namhaften, schon in gutem Ansehen stehenden Dichtern zu rezitieren
mir herausnahm: denn ich behielt nach wie vor alles auswendig, was mir
nur einigermaßen gefallen mochte; allein ihre Nachgiebigkeit war nicht
von langer Dauer. Das erste, was sie mir ganz entsetzlich
heruntermachte, waren die "Poeten nach der Mode" von Weiße,
welche soeben mit großem Beifall öfters wiederholt wurden, und mich
ganz besonders ergetzt hatten. Besah ich nun freilich die Sache näher,
so konnte ich ihr nicht unrecht geben. Auch einigemal hatte ich gewagt,
ihr etwas von meinen eigenen Gedichten, jedoch anonym vorzutragen, denen
es denn nicht besser ging als der übrigen Gesellschaft. Und so waren
mir in kurzer Zeit die schönen bunten Wiesen in den Gründen des
deutschen Parnasses, wo ich so gern lustwandelte, unbarmherzig niedergemäht
und ich sogar genötigt, das trocknende Heu selbst mit umzuwenden und
dasjenige als tot zu verspotten, was mir kurz vorher eine so lebendige
Freude gemacht hatte. Diesen
ihren Lehren kam, ohne es zu wissen, der Professor Morus zu Hülfe, ein
ungemein sanfter und freundlicher Mann, den ich an dem Tische des
Hofrats Ludwig kennen lernte und der mich sehr gefällig aufnahm, wenn
ich mir die Freiheit ausbat, ihn zu besuchen. Indem ich mich nun bei ihm
um das Altertum erkundigte, so verbarg ich ihm nicht, was mich unter den
Neuern ergetzte; da er denn mit mehr Ruhe als Madame Böhme, was aber
noch schlimmer war, mit mehr Gründlichkeit über solche Dinge sprach
und mir, anfangs zum größten Verdruß, nachher aber doch zum Erstaunen
und zuletzt zur Erbauung die Augen öffnete. Hiezu
kamen noch die Jeremiaden, mit denen uns Gellert in seinem Praktikum von
der Poesie abzumahnen pflegte. Er wünschte nur prosaische Aufsätze und
beurteilte auch diese immer zuerst. Die Verse behandelte er nur als eine
traurige Zugabe, und, was das Schlimmste war, selbst meine Prose fand
wenig Gnade vor seinen Augen: denn ich pflegte, nach meiner alten Weise,
immer einen kleinen Roman zum Grunde zu legen, den ich in Briefen auszuführen
liebte. Die Gegenstände waren leidenschaftlich, der Stil ging über die
gewöhnliche Prose hinaus, und der Inhalt mochte freilich nicht sehr für
eine tiefe Menschenkenntnis des Verfassers zeugen, und so war ich denn
von unserem Lehrer sehr wenig begünstigt, ob er gleich meine Arbeiten,
so gut als die der andern, genau durchsah, mit roter Tinte korrigierte
und hie und da eine sittliche Anmerkung hinzufügte. Mehrere Blätter
dieser Art, welche ich lange Zeit mit Vergnügen bewahrte, sind leider
endlich im Lauf der Jahre aus meinen Papieren verschwunden. Wenn
ältere Personen recht pädagogisch verfahren wollten, so sollten sie
einem jungen Manne etwas, was ihm Freude macht, es sei von welcher Art
es wolle, weder verbieten noch verleiden, wenn sie nicht zu gleicher
Zeit ihm etwas anderes dafür einzusetzen hätten oder unterzuschieben wüßten. Jedermann
protestierte gegen meine Liebhabereien und Neigungen, und das, was man
mir dagegen anpries, lag teils so weit von mir ab, daß ich seine Vorzüge
nicht erkennen konnte, oder es stand mir so nah, daß ich es eben nicht
für besser hielt als das Gescholtene. Ich kam darüber durchaus in
Verwirrung, und hatte mir aus einer Vorlesung Ernestis über Ciceros
"Orator" das Beste versprochen; ich lernte wohl auch etwas in
diesem Kollegium, jedoch über das, woran mir eigentlich gelegen war,
wurde ich nicht aufgeklärt. Ich forderte einen Maßstab des Urteils,
und glaubte gewahr zu werden, daß ihn gar niemand besitze: denn keiner
war mit dem andern einig, selbst wenn sie Beispiele vorbrachten; und wo
sollten wir ein Urteil hernehmen, wenn man einem Manne wie Wieland so
manches Tadelhafte in seinen liebenswürdigen, uns Jüngere völlig
einnehmenden Schriften aufzuzählen wußte. In
solcher vielfachen Zerstreuung, ja Zerstückelung meines Wesens und
meiner Studien traf sich's, daß ich bei Hofrat Ludwig den Mittagstisch
hatte. Er war Medikus, Botaniker, und die Gesellschaft bestand, außer
Morus, in lauter angehenden oder der Vollendung näheren Ärzten. Ich hörte
nun in diesen Stunden gar kein ander Gespräch als von Medizin oder
Naturhistorie, und meine Einbildungskraft wurde in ein ganz ander Feld
hinübergezogen. Die Namen Haller, Linné, Buffon hörte ich mit großer
Verehrung nennen; und wenn auch manchmal wegen Irrtümer, in die sie
gefallen sein sollten, ein Streit entstand, so kam doch zuletzt, dem
anerkannten Übermaß ihrer Verdienste zu Ehren, alles wieder ins
gleiche. Die Gegenstände waren unterhaltend und bedeutend, und spannten
meine Aufmerksamkeit. Viele Benennungen und eine weitläuftige
Terminologie wurden mir nach und nach bekannt, die ich um so lieber
auffaßte, weil ich mich fürchtete einen Reim niederzuschreiben, wenn
er sich mir auch noch so freiwillig darbot, oder ein Gedicht zu lesen,
indem mir bange war, es möchte mir gegenwärtig gefallen und ich müsse
es denn doch, wie so manches andere, vielleicht nächstens für schlecht
erklären. Diese
Geschmacks- und Urteilsungewißheit beunruhigte mich täglich mehr, so
daß ich zuletzt in Verzweiflung geriet. Ich hatte von meinen
Jugendarbeiten, was ich für das Beste hielt, mitgenommen, teils weil
ich mir denn doch einige Ehre dadurch zu verschaffen hoffte, teils um
meine Fortschritte desto sicherer prüfen zu können; aber ich befand
mich in dem schlimmen Falle, in den man gesetzt ist, wenn eine
vollkommene Sinnesänderung verlangt wird, eine Entsagung alles dessen,
was man bisher geliebt und für gut befunden hat. Nach einiger Zeit und
nach manchem Kampfe warf ich jedoch eine so große Verachtung auf meine
begonnenen und geendigten Arbeiten, daß ich eines Tags Poesie und Prose,
Plane, Skizzen und Entwürfe sämtlich zugleich auf dem Küchenherd
verbrannte, und durch den das ganze Haus erfüllenden Rauchqualm unsre
gute alte Wirtin in nicht geringe Furcht und Angst versetzte.
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