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Johann Wolfgang
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Siebentes BuchÜber
den Zustand der deutschen Literatur jener Zeit ist so vieles und
Ausreichendes geschrieben worden, daß wohl jedermann, der einigen
Anteil hieran nimmt, vollkommen unterrichtet sein kann; wie denn auch
das Urteil darüber wohl ziemlich übereinstimmen dürfte; und was ich
gegenwärtig stück- und sprungweise davon zu sagen gedenke, ist nicht
sowohl wie sie an und für sich beschaffen sein mochte, als vielmehr wie
sie sich zu mir verhielt. Ich will deshalb zuerst von solchen Dingen
sprechen, durch welche das Publikum besonders aufgeregt wird, von den
beiden Erbfeinden alles behaglichen Lebens und aller heiteren, selbstgenügsamen,
lebendigen Dichtkunst: von der Satire und der Kritik. In
ruhigen Zeiten will jeder nach seiner Weise leben, der Bürger sein
Gewerb, sein Geschäft treiben und sich nachher vergnügen: so mag auch
der Schriftsteller gern etwas verfassen, seine Arbeiten bekannt machen,
und wo nicht Lohn doch Lob dafür hoffen, weil er glaubt, etwas Gutes
und Nützliches getan zu haben. In dieser Ruhe wird der Bürger durch
den Satiriker, der Autor durch den Kritiker gestört, und so die
friedliche Gesellschaft in eine unangenehme Bewegung gesetzt. Die
literarische Epoche, in der ich geboren bin, entwickelte sich aus der
vorhergehenden durch Widerspruch. Deutschland, so lange von auswärtigen
Völkern überschwemmt, von andern Nationen durchdrungen, in gelehrten
und diplomatischen Verhandlungen an fremde Sprachen gewiesen, konnte
seine eigne unmöglich ausbilden. Es drangen sich ihr, zu so manchen
neuen Begriffen, auch unzählige fremde Worte nötiger und unnötiger
Weise mit auf, und auch für schon bekannte Gegenstände ward man
veranlaßt sich ausländischer Ausdrücke und Wendungen zu bedienen. Der
Deutsche, seit beinahe zwei Jahrhunderten in einem unglücklichen
tumultuarischen Zustande verwildert, begab sich bei den Franzosen in die
Schule, um lebensartig zu werden, und bei den Römern, um sich würdig
auszudrücken. Dies sollte aber auch in der Muttersprache geschehen; da
denn die unmittelbare Anwendung jener Idiome und deren Halbverdeutschung
sowohl den Welt- als Geschäftsstil lächerlich machte. Überdies faßte
man die Gleichnisreden der südlichen Sprachen unmäßig auf und
bediente sich derselben höchst übertrieben. Ebenso zog man den
vornehmen Anstand der fürstengleichen römischen Bürger auf deutsche
kleinstädtische Gelehrtenverhältnisse herüber, und war eben nirgends,
am wenigsten bei sich zu Hause. Wie
aber schon in dieser Epoche genialische Werke entsprangen, so regte sich
auch hier der deutsche Frei- und Frohsinn. Dieser, begleitet von einem
aufrichtigen Ernste, drang darauf, daß rein und natürlich, ohne
Einmischung fremder Worte, und wie es der gemeine verständliche Sinn
gab, geschrieben würde. Durch diese löblichen Bemühungen ward jedoch
der vaterländischen breiten Plattheit Tür und Tor geöffnet, ja der
Damm durchstochen, durch welchen das große Gewässer zunächst
eindringen sollte. Indessen hielt ein steifer Pedantismus in allen vier
Fakultäten lange Stand, bis er sich endlich viel später aus einer in
die andere flüchtete. Gute
Köpfe, freiaufblickende Naturkinder hatten daher zwei Gegenstände, an
denen sie sich üben, gegen die sie wirken und, da die Sache von keiner
großen Bedeutung war, ihren Mutwillen auslassen konnten; diese waren
eine durch fremde Worte, Wortbildungen und Wendungen verunzierte
Sprache, und sodann die Wertlosigkeit solcher Schriften, die sich von
jenem Fehler frei zu erhalten besorgt waren; wobei niemanden einfiel, daß,
indem man ein Übel bekämpfte, das andere zu Hülfe gerufen ward. Liscow,
ein junger kühner Mensch, wagte zuerst, einen seichten, albernen
Schriftsteller persönlich anzufallen, dessen ungeschicktes Benehmen ihm
bald Gelegenheit gab, heftiger zu verfahren. Er griff sodann weiter um
sich und richtete seinen Spott immer gegen bestimmte Personen und
Gegenstände, die er verachtete und verächtlich zu machen suchte, ja
mit leidenschaftlichem Haß verfolgte. Allein seine Laufbahn war kurz;
er starb gar bald, verschollen als ein unruhiger, unregelmäßiger Jüngling.
In dem, was er getan, ob er gleich wenig geleistet, mochte seinen
Landsleuten das Talent, der Charakter schätzenswert vorkommen: wie denn
die Deutschen immer gegen frühabgeschiedene, Gutes versprechende
Talente eine besondere Frömmigkeit bewiesen haben; genug, uns ward
Liscow sehr früh als ein vorzüglicher Satiriker, der sogar den Rang
vor dem allgemein beliebten Rabener verlangen könnte, gepriesen und
anempfohlen. Hierbei sahen wir uns freilich nicht gefördert: denn wir
konnten in seinen Schriften weiter nichts erkennen, als daß er das
Alberne albern gefunden habe, welches uns eine ganz natürliche Sache
schien. Rabener,
wohl erzogen, unter gutem Schulunterricht aufgewachsen, von heiterer und
keineswegs leidenschaftlicher oder gehässiger Natur, ergriff die
allgemeine Satire. Sein Tadel der sogenannten Laster und Torheiten
entspringt aus reinen Ansichten des ruhigen Menschenverstandes und aus
einem bestimmten sittlichen Begriff, wie die Welt sein sollte. Die Rüge
der Fehler und Mängel ist harmlos und heiter; und damit selbst die
geringe Kühnheit seiner Schriften entschuldigt werde, so wird
vorausgesetzt, daß die Besserung der Toren durchs Lächerliche kein
fruchtloses Unternehmen sei. Rabeners
Persönlichkeit wird nicht leicht wieder erscheinen. Als tüchtiger
genauer Geschäftsmann tut er seine Pflicht, und erwirbt sich dadurch
die gute Meinung seiner Mitbürger und das Vertrauen seiner Oberen;
nebenher überläßt er sich zur Erholung einer heiteren Nichtachtung
alles dessen, was ihn zunächst umgibt. Pedantische Gelehrte, eitle Jünglinge,
jede Art von Beschränktheit und Dünkel bescherzt er mehr, als daß er
sie bespottete, und selbst sein Spott drückt keine Verachtung aus.
Ebenso spaßt er über seinen eignen Zustand, über sein Unglück, sein
Leben und seinen Tod. Die
Art, wie dieser Schriftsteller seine Gegenstände behandelt, hat wenig
Ästhetisches. In den äußeren Formen ist er zwar mannigfaltig genug,
aber durchaus bedient er sich der direkten Ironie zu viel, daß er nämlich
das Tadelnswürdige lobt und das Lobenswürdige tadelt, welches
rednerische Mittel nur höchst selten angewendet werden sollte: denn auf
die Dauer fällt es einsichtigen Menschen verdrießlich, die schwachen
macht es irre, und behagt freilich der großen Mittelklasse, welche,
ohne besondern Geistesaufwand, sich klüger dünken kann als andere. Was
er aber und wie er es auch vorbringt, zeugt von seiner Rechtlichkeit,
Heiterkeit und Gleichmütigkeit, wodurch wir uns immer eingenommen fühlen;
der unbegrenzte Beifall seiner Zeit war eine Folge solcher sittlichen
Vorzüge. Daß
man zu seinen allgemeinen Schilderungen Musterbilder suchte und fand,
war natürlich; daß einzelne sich über ihn beschwerten, folgte daraus;
seine allzulangen Verteidigungen, daß seine Satire keine persönliche
sei, zeugen von dem Verdruß, den man ihm erregt hat. Einige seiner
Briefe setzen ihm als Menschen und Schriftsteller den Kranz auf. Das
vertrauliche Schreiben, worin er die Dresdner Belagerung schildert, wie
er sein Haus, seine Habseligkeiten, seine Schriften und Perücken
verliert, ohne auch im mindesten seinen Gleichmut erschüttert, seine
Heiterkeit getrübt zu sehen, ist höchst schätzenswert, ob ihm gleich
seine Zeit- und Stadtgenossen diese glückliche Gemütsart nicht
verzeihen konnten. Der Brief, wo er von der Abnahme seiner Kräfte, von
seinem nahen Tode spricht, ist äußerst respektabel, und Rabener
verdient, von allen heiteren, verständigen, in die irdischen Ereignisse
froh ergebenen Menschen als Heiliger verehrt zu werden. Ungern
reiße ich mich von ihm los, nur das bemerke ich noch: seine Satire
bezieht sich durchaus auf den Mittelstand; er läßt hie und da
vermerken, daß er die höheren auch wohl kenne, es aber nicht für rätlich
halte, sie zu berühren. Man kann sagen, daß er keinen Nachfolger
gehabt, daß sich niemand gefunden, der sich ihm gleich oder ähnlich hätte
halten dürfen. Nun
zur Kritik! und zwar vorerst zu den theoretischen Versuchen. Wir holen
nicht zu weit aus, wenn wir sagen, daß damals das Ideelle sich aus der
Welt in die Religion geflüchtet hatte, ja sogar in der Sittenlehre kaum
zum Vorschein kam; von einem höchsten Prinzip der Kunst hatte niemand
eine Ahndung. Man gab uns Gottscheds "Kritische Dichtkunst" in
die Hände; sie war brauchbar und belehrend genug: denn sie überlieferte
von allen Dichtungsarten eine historische Kenntnis, sowie vom Rhythmus
und den verschiedenen Bewegungen desselben; das poetische Genie ward
vorausgesetzt! Übrigens aber sollte der Dichter Kenntnisse haben, ja
gelehrt sein, er sollte Geschmack besitzen, und was dergleichen mehr
war. Man wies uns zuletzt auf Horazens "Dichtkunst"; wir
staunten einzelne Goldsprüche dieses unschätzbaren Werks mit Ehrfurcht
an, wußten aber nicht im geringsten, was wir mit dem Ganzen machen,
noch wie wir es nutzen sollten. Die
Schweizer traten auf als Gottscheds Antagonisten; sie mußten doch also
etwas anderes tun, etwas Besseres leisten wollen: so hörten wir denn
auch, daß sie wirklich vorzüglicher seien. Breifingers "Kritische
Dichtkunst" ward vorgenommen. Hier gelangten wir nun in ein
weiteres Feld, eigentlich aber nur in einen größeren Irrgarten, der
desto ermüdender war, als ein tüchtiger Mann, dem wir vertrauten, uns
darin herumtrieb. Eine kurze Übersicht rechtfertige diese Worte. Für
die Dichtkunst an und für sich hatte man keinen Grundsatz finden können;
sie war zu geistig und flüchtig. Die Malerei, eine Kunst, die man mit
den Augen festhalten, der man mit den äußeren Sinnen Schritt vor
Schritt nachgehen konnte, schien zu solchem Ende günstiger; Engländer
und Franzosen hatten schon über die bildende Kunst theoretisiert, und
man glaubte nun durch ein Gleichnis von daher die Poesie zu begründen.
Jene stellte Bilder vor die Augen, diese vor die Phantasie; die
poetischen Bilder also waren das erste, was in Betrachtung gezogen
wurde. Man fing von den Gleichnissen an, Beschreibungen folgten, und was
nur immer den äußeren Sinnen darstellbar gewesen wäre, kam zur
Sprache. Bilder
also! Wo sollte man nun aber diese Bilder anders hernehmen als aus der
Natur? Der Maler ahmte die Natur offenbar nach; warum der Dichter nicht
auch? Aber die Natur, wie sie vor uns liegt, kann doch nicht nachgeahmt
werden: sie enthält so vieles Unbedeutende, Unwürdige, man muß also wählen;
was bestimmt aber die Wahl? man muß das Bedeutende aufsuchen; was ist
aber bedeutend? Hierauf
zu antworten mögen sich die Schweizer lange bedacht haben: denn sie
kommen auf einen zwar wunderlichen, doch artigen, ja lustigen Einfall,
indem sie sagen, am bedeutendsten sei immer das Neue; und nachdem sie
dies eine Weile überlegt haben, so finden sie, das Wunderbare sei immer
neuer als alles andere. Nun
hatten sie die poetischen Erfordernisse ziemlich beisammen; allein es
kam noch zu bedenken, daß ein Wunderbares auch leer sein könne und
ohne Bezug auf den Menschen. Ein solcher notwendig geforderter Bezug müsse
aber moralisch sein, woraus denn offenbar die Besserung des Menschen
folge, und so habe ein Gedicht das letzte Ziel erreicht, wenn es, außer
allem anderen Geleisteten, noch nützlich werde. Nach diesen sämtlichen
Erfordernissen wollte man nun die verschiedenen Dichtungsarten prüfen,
und diejenige, welche die Natur nachahmte, sodann wunderbar und zugleich
auch von sittlichem Zweck und Nutzen sei, sollte für die erste und
oberste gelten. Und nach vieler Überlegung ward endlich dieser große
Vorrang, mit höchster Überzeugung, der Äsopischen Fabel
zugeschrieben. So
wunderlich uns jetzt eine solche Ableitung vorkommen mag, so hatte sie
doch auf die besten Köpfe den entschiedensten Einfluß.. Daß Gellert
und nachher Lichtwer sich diesem Fache widmeten, daß selbst Lessing
darin zu arbeiten versuchte, daß so viele andere ihr Talent dahin
wendeten, spricht für das Zutrauen, welches sich diese Gattung erworben
hatte. Theorie und Praxis wirken immer auf einander; aus den Werken kann
man sehen, wie es die Menschen meinen, und aus den Meinungen
voraussagen, was sie tun werden. Doch
wir dürfen unsere Schweizertheorie nicht verlassen, ohne daß ihr von
uns auch Gerechtigkeit widerfahre. Bodmer, so viel er sich auch bemüht,
ist theoretisch und praktisch zeitlebens ein Kind geblieben. Breitinger
war ein tüchtiger, gelehrter, einsichtsvoller Mann, dem, als er sich
recht umsah, die sämtlichen Erfordernisse einer Dichtung nicht
entgingen, ja, es läßt sich nachweisen, daß er die Mängel seiner
Methode dunkel fühlen mochte. Merkwürdig ist z.B. seine Frage: ob ein
gewisses beschreibendes Gedicht von König auf das Lustlager Augusts des
Zweiten wirklich ein Gedicht sei? so wie die Beantwortung derselben
guten Sinn zeigt. Zu seiner völligen Rechtfertigung aber mag dienen, daß
er, von einem falschen Punkte ausgehend, nach beinahe schon
durchlaufenem Kreise, doch noch auf die Hauptsache stößt, und die
Darstellung der Sitten, Charaktere, Leidenschaften, kurz, des inneren
Menschen, auf den die Dichtkunst doch wohl vorzüglich angewiesen ist,
am Ende seines Buchs gleichsam als Zugabe anzuraten sich genötigt
findet. In
welche Verwirrung junge Geister durch solche ausgerenkte Maximen, halb
verstandene Gesetze und zersplitterte Lehren sich versetzt fühlten, läßt
sich wohl denken. Man hielt sich an Beispiele, und war auch da nicht
gebessert; die ausländischen standen zu weit ab, so sehr wie die alten,
und aus den besten inländischen blickte jedesmal eine entschiedene
Individualität hervor, deren Tugenden man sich nicht anmaßen konnte,
und in deren Fehler zu fallen man fürchten mußte. Für den, der etwas
Produktives in sich fühlte, war es ein verzweiflungsvoller Zustand. Betrachtet
man genau, was der deutschen Poesie fehlte, so war es ein Gehalt, und
zwar ein nationeller; an Talenten war niemals Mangel. Hier gedenken wir
nur Günthers, der ein Poet im vollen Sinne des Worts genannt werden
darf. Ein entschiedenes Talent, begabt mit Sinnlichkeit,
Einbildungskraft, Gedächtnis, Gabe des Fassens und Vergegenwärtigens,
fruchtbar im höchsten Grade, rhythmisch bequem, geistreich, witzig und
dabei vielfach unterrichtet; genug, er besaß alles, was dazu gehört,
im Leben ein zweites Leben durch Poesie hervorzubringen, und zwar in dem
gemeinen wirklichen Leben. Wir bewundern seine große Leichtigkeit, in
Gelegenheitsgedichten alle Zustände durchs Gefühl zu erhöhen und mit
passenden Gesinnungen, Bildern, historischen und fabelhaften Überlieferungen
zu schmücken. Das Rohe und Wilde daran gehört seiner Zeit, seiner
Lebensweise und besonders seinem Charakter, oder, wenn man will, seiner
Charakterlosigkeit. Er wußte sich nicht zu zähmen, und so zerrann ihm
sein Leben wie sein Dichten. Durch
ein unfertiges Betragen hatte sich Günther das Glück verscherzt, an
dem Hofe Augusts des Zweiten angestellt zu werden, wo man, zu allem übrigen
Prunk, sich auch nach einem Hofpoeten umsah, der den Festlichkeiten
Schwung und Zierde geben und eine vorübergehende Pracht verewigen könnte.
Von König war gesitteter und glücklicher, er bekleidete diese Stelle
mit Würde und Beifall. In
allen souveränen Staaten kommt der Gehalt für die Dichtkunst von oben
herunter, und vielleicht war das Lustlager bei Mühlberg der erste würdige,
wo nicht nationelle, doch provinzielle Gegenstand, der vor einem Dichter
auftrat. Zwei Könige, die sich in Gegenwart eines großen Heers begrüßen,
ihr sämtlicher Hof- und Kriegsstaat um sie her, wohlgehaltene Truppen,
ein Scheinkrieg, Feste aller Art; Beschäftigung genug für den äußeren
Sinn und überfließender Stoff für schildernde und beschreibende
Poesie. Freilich
hatte dieser Gegenstand einen inneren Mangel; eben daß es nur Prunk und
Schein war, aus dem keine Tat hervortreten konnte. Niemand, außer den
Ersten, machte sich bemerkbar, und wenn es ja geschehen wäre, durfte
der Dichter den einen nicht hervorheben, um andere nicht zu verletzen.
Er mußte den Hof- und Staatskalender zu Rate ziehen, und die Zeichnung
der Personen lief daher ziemlich trocken ab; ja schon die Zeitgenossen
machten ihm den Vorwurf, er habe die Pferde besser geschildert als die
Menschen. Sollte dies aber nicht gerade zu seinem Lobe gereichen, daß
er seine Kunst gleich da bewies, wo sich ein Gegenstand für dieselbe
darbot? Auch scheint die Hauptschwierigkeit sich ihm bald offenbart zu
haben: denn das Gedicht hat sich nicht über den ersten Gesang hinaus
erstreckt. Unter
solchen Studien und Betrachtungen überraschte mich ein unvermutetes
Ereignis und vereitelte das löbliche Vorhaben, unsere neuere Literatur
von vorne herein kennen zu lernen. Mein Landsmann Johann Georg Schlosser
hatte, nachdem er seine akademischen Jahre mit Fleiß und Anstrengung
zugebracht, sich zwar in Frankfurt am Main auf den gewöhnlichen Weg der
Advokatur begeben; allein sein strebender und das Allgemeine suchender
Geist konnte sich aus mancherlei Ursachen in diese Verhältnisse nicht
finden. Er nahm eine Stelle als Geheimsekretär bei dem Herzog Ludwig
von Württemberg, der sich in Treptow aufhielt, ohne Bedenken an: denn
der Fürst war unter denjenigen Großen genannt, die auf eine edle und
selbständige Weise sich, die Ihrigen und das Ganze aufzuklären, zu
bessern und zu höheren Zwecken zu vereinigen gedachten. Dieser Fürst
Ludwig ist es, welcher, um sich wegen der Kinderzucht Rats zu erholen,
an Rousseau geschrieben hatte, dessen bekannte Antwort mit der
bedenklichen Phrase anfängt: "Si j'avois le malheur d'etre né
prince." - Den
Geschäften des Fürsten nicht allein, sondern auch der Erziehung seiner
Kinder sollte nun Schlosser wo nicht vorstehen, doch mit Rat und Tat
willig zu Händen sein. Dieser junge, edle, den besten Willen hegende
Mann, der sich einer vollkommenen Reinigkeit der Sitten befliß, hätte
durch eine gewisse trockene Strenge die Menschen leicht von sich
entfernt, wenn nicht eine schöne und seltene literarische Bildung,
seine Sprachkenntnisse, seine Fertigkeit, sich schriftlich, sowohl in
Versen als in Prosa, auszudrücken, jedermann angezogen und das Leben
mit ihm erleichtert hätte. Daß dieser durch Leipzig kommen würde, war
mir angekündigt, und ich erwartete ihn mit Sehnsucht. Er kam und trat
in einem kleinen Gast- oder Weinhause ab, das im Brühl lag und dessen
Wirt Schönkopf hieß. Dieser hatte eine Frankfurterin zur Frau, und ob
er gleich die übrige Zeit des Jahres wenig Personen bewirtete, und in
das kleine Haus keine Gäste aufnehmen konnte, so war er doch
Messenzeits von vielen Frankfurtern besucht, welche dort zu speisen und
im Notfall auch wohl Quartier zu nehmen pflegten. Dorthin eilte ich, um
Schlossern aufzusuchen, als er mir seine Ankunft melden ließ. Ich
erinnerte mich kaum, ihn früher gesehen zu haben, und fand einen jungen
wohlgebauten Mann, mit einem runden zusammengefaßten Gesicht, ohne daß
die Züge deshalb stumpf gewesen wären. Die Form seiner gerundeten
Stirn, zwischen schwarzen Augenbrauen und Locken, deutete auf Ernst,
Strenge und vielleicht Eigensinn. Er war gewissermaßen das Gegenteil
von mir, und eben dies begründete wohl unsere dauerhafte Freundschaft.
Ich hatte die größte Achtung für seine Talente, um so mehr, als ich
gar wohl bemerkte, daß er mir in der Sicherheit dessen, was er tat und
leistete, durchaus überlegen war. Die Achtung und das Zutrauen, das ich
ihm bewies, bestätigten seine Neigung, und vermehrten die Nachsicht,
die er mit meinem lebhaften, fahrigen und immer regsamen Wesen, im
Gegensatz mit dem Seinigen, haben mußte. Er studierte die Engländer
fleißig, Pope war, wo nicht sein Muster, doch sein Augenmerk, und er
hatte, im Widerstreit mit dem "Versuch über den Menschen"
jenes Schriftstellers, ein Gedicht in gleicher Form und Silbenmaß
geschrieben, welches der christlichen Religion über jenen Deismus den
Triumph verschaffen sollte. Aus dem großen Vorrat von Papieren, die er
bei sich führte, ließ er mir sodann poetische und prosaische Aufsätze
in allen Sprachen sehen, die, indem sie mich zur Nachahmung aufriefen,
mich abermals unendlich beunruhigten. Doch wußte ich mir durch Tätigkeit
sogleich zu helfen. Ich schrieb an ihn gerichtete deutsche, französische,
englische, italienische Gedichte, wozu ich den Stoff aus unseren
Unterhaltungen nahm, welche durchaus bedeutend und unterrichtend waren. Schlosser
wollte nicht Leipzig verlassen, ohne die Männer, welche Namen hatten,
von Angesicht zu Angesicht gesehen zu haben. Ich führte ihn gern zu
denen mir bekannten; die von mir noch nicht besuchten lernte ich auf
diese Weise ehrenvoll kennen, weil er als ein unterrichteter, schon
charakterisierter Mann mit Auszeichnung empfangen wurde und den Aufwand
des Gesprächs recht gut zu bestreiten wußte. Unsern Besuch bei
Gottsched darf ich nicht übergehen, indem die Sinnes- und Sittenweise
dieses Mannes daraus hervortritt. Er wohnte sehr anständig in dem
ersten Stock des "Goldenen Bären", wo ihm der ältere
Breitkopf, wegen des großen Vorteils, den die Gottschedischen
Schriften, Übersetzungen und sonstigen Assistenzen der Handlung
gebracht, eine lebenslängliche Wohnung zugesagt hatte. Wir
ließen uns melden. Der Bediente führte uns in ein großes Zimmer,
indem er sagte, der Herr werde gleich kommen. Ob wir nun eine Gebärde,
die er machte, nicht recht verstanden, wüßte ich nicht zu sagen;
genug, wir glaubten, er habe uns in das anstoßende Zimmer gewiesen. Wir
traten hinein zu einer sonderbaren Szene: denn in dem Augenblick trat
Gottsched, der große, breite, riesenhafte Mann, in einem gründamastnen,
mit rotem Taft gefütterten Schlafrock zur entgegengesetzten Türe
herein; aber sein ungeheures Haupt war kahl und ohne Bedeckung. Dafür
sollte jedoch sogleich gesorgt sein: denn der Bediente sprang mit einer
großen Allongeperücke auf der Hand (die Locken fielen bis an den
Ellenbogen) zu einer Seitentüre herein und reichte den Hauptschmuck
seinem Herrn mit erschrockner Gebärde. Gottsched, ohne den mindesten
Verdruß zu äußern, hob mit der linken Hand die Perücke von dem Arme
des Dieners, und indem er sie sehr geschickt auf den Kopf schwang, gab
er mit seiner rechten Tatze dem armen Menschen eine Ohrfeige, so daß
dieser, wie es im Lustspiel zu geschehen pflegt, sich zur Türe hinaus
wirbelte, worauf der ansehnliche Altvater uns ganz gravitätisch zu
sitzen nötigte und einen ziemlich langen Diskurs mit gutem Anstand
durchführte. Solange
Schlosser in Leipzig blieb, speiste ich täglich mit ihm, und lernte
eine sehr angenehme Tischgesellschaft kennen. Einige Livländer und der
Sohn des Oberhofpredigers Hermann in Dresden, nachheriger Burgemeister
zu Leipzig, und ihre Hofmeister, Hofrat Pfeil, Verfasser des
"Grafen von P.", eines Pendants zu Gellerts "schwedischer
Gräfin", Zachariä, ein Bruder des Dichters, und Krebel, Redakteur
geographischer und genealogischer Handbücher, waren gesittete, heitre
und freundliche Menschen. Zachariä der stillste; Pfeil ein feiner,
beinahe etwas Diplomatisches an sich habender Mann, doch ohne Ziererei
und mit großer Gutmütigkeit; Krebel ein wahrer Falstaff, groß,
wohlbeleibt, blond, vorliegende, heitere, himmelhelle Augen, immer froh
und guter Dinge. Diese Personen begegneten mir sämtlich, teils wegen
Schlossers, teils auch wegen meiner eignen offenen Gutmütigkeit und Zutätigkeit,
auf das allerartigste, und es brauchte kein großes Zureden, künftig
mit ihnen den Tisch zu teilen. Ich blieb wirklich nach Schlossers
Abreise bei ihnen, gab den Ludwigischen Tisch auf, und befand mich in
dieser geschlossenen Gesellschaft um so wohler, als mir die Tochter vom
Hause, ein gar hübsches nettes Mädchen, sehr wohl gefiel, und mir
Gelegenheit ward, freundliche Blicke zu wechseln, ein Behagen, das ich
seit dem Unfall mit Gretchen weder gesucht noch zufällig gefunden
hatte. Die Stunden des Mittagsessens brachte ich mit meinen Freunden
heiter und nützlich zu. Krebel hatte mich wirklich lieb und wußte mich
mit Maßen zu necken und anzuregen; Pfeil hingegen bewies mir eine
ernste Neigung, indem er mein Urteil über manches zu leiten und zu
bestimmen suchte. Bei
diesem Umgange wurde ich durch Gespräche, durch Beispiele und durch
eignes Nachdenken gewahr, daß der erste Schritt, um aus der wäßrigen,
weitschweifigen, nullen Epoche sich herauszureiten, nur durch
Bestimmtheit, Präzision und Kürze getan werden könne. Bei dem
bisherigen Stil konnte man das Gemeine nicht vom Besseren unterscheiden,
weil alles unter einander ins Flache gezogen wird. Schon hatten
Schriftsteller diesem breiten Unheil zu entgehen gesucht, und es gelang
ihnen mehr oder weniger. Haller und Ramler waren von Natur zum Gedrängten
geneigt; Lessing und Wieland sind durch Reflexion dazu geführt worden.
Der erste wurde nach und nach ganz epigrammatisch in seinen Gedichten,
knapp in der "Minna", lakonisch in "Emilia Galotti",
später kehrte er erst zu einer heiteren Naivetät zurück, die ihn so
wohl kleidet im "Nathan". Wieland, der noch im
"Agathon", "Don Sylvio", den "Komischen Erzählungen"
mitunter prolix gewesen war, wird in "Musarion" und "Idris"
auf eine wundersame Weise gefaßt und genau, mit großer Anmut.
Klopstock, in den ersten Gesängen der "Messiade", ist nicht
ohne Weitschweifigkeit; in den Oden und anderen kleinen Gedichten
erscheint er gedrängt, so auch in seinen Tragödien. Durch seinen
Wettstreit mit den Alten, besonders dem Tacitus, sieht er sich immer
mehr ins Enge genötigt, wodurch er zuletzt unverständlich und ungenießbar
wird. Gerstenberg, ein schönes aber bizarres Talent, nimmt sich auch
zusammen, sein Verdienst wird geschätzt, macht aber im ganzen wenig
Freude. Gleim, weitschweifig, behaglich von Natur, wird kaum einmal
konzis in den Kriegsliedern. Ramler ist eigentlich mehr Kritiker als
Poet. Er fängt an, was Deutsche im Lyrischen geleistet, zu sammeln. Nun
findet er, daß ihm kaum ein Gedicht völlig genug tut; er muß
auslassen, redigieren, verändern, damit die Dinge nur einige Gestalt
bekommen. Hierdurch macht er sich fast so viel Feinde, als es Dichter
und Liebhaber gibt; da sich jeder eigentlich nur an seinen Mängeln
wiedererkennt, und das Publikum sich eher für ein fehlerhaftes
Individuelle interessiert als für das, was nach einer allgemeinen
Geschmacksregel hervorgebracht oder verbessert wird. Die Rhythmik lag
damals noch in der Wiege, und niemand wußte ein Mittel, ihre Kindheit
zu verkürzen. Die poetische Prosa nahm überhand. Geßner und Klopstock
erregten manche Nachahmer; andere wieder forderten doch ein Silbenmaß
und übersetzten diese Prose in faßliche Rhythmen. Aber auch diese
machten es niemand zu Dank: denn sie mußten auslassen und zusetzen, und
das prosaische Original galt immer für das Bessere. Je mehr aber bei
allem diesem das Gedrungene gesucht wird, desto mehr wird Beurteilung möglich,
weil das Bedeutende, enger zusammengebracht, endlich eine sichere
Vergleichung zuläßt. Es ergab sich auch zugleich, daß mehrere Arten
von wahrhaft poetischen Formen entstanden: denn indem man von einem
jeden Gegenstande, den man nachbilden wollte, nur das Notwendige
darzustellen suchte, so mußte man einem jeden Gerechtigkeit widerfahren
lassen, und auf diese Weise, ob es gleich niemand mit Bewußtsein tat,
vermannigfaltigten sich die Darstellungsweisen, unter welchen es
freilich auch fratzenhafte gab, und mancher Versuch unglücklich ablief. Ganz
ohne Frage besaß Wieland unter allen das schönste Naturell. Er hatte
sich früh in jenen ideellen Regionen ausgebildet, wo die Jugend so gern
verweilt; da ihm aber diese durch das, was man Erfahrung nennt, durch
Begegnisse an Welt und Weibern verleidet wurden, so warf er sich auf die
Seite des Wirklichen, und gefiel sich und andern im Widerstreit beider
Welten, wo sich zwischen Scherz und Ernst, im leichten Gefecht, sein
Talent am allerschönsten zeigte. Wie manche seiner glänzenden
Produktionen fallen in die Zeit meiner akademischen Jahre. "Musarion"
wirkte am meisten auf mich, und ich kann mich noch des Ortes und der
Stelle erinnern, wo ich den ersten Aushängebogen zu Gesicht bekam,
welchen mir Oeser mitteilte. Hier war es, wo ich das Antike lebendig und
neu wieder zu sehen glaubte. Alles, was in Wielands Genie plastisch ist,
zeigte sich hier aufs vollkommenste, und da jener zur unglücklichen Nüchternheit
verdammte Phanias-Timon sich zuletzt wieder mit seinem Mädchen und der
Welt versöhnt, so mag man die menschenfeindliche Epoche wohl auch mit
ihm durchleben. Übrigens gab man diesen Werken sehr gern einen heiteren
Widerwillen gegen erhöhte Gesinnungen zu, welche, bei leicht verfehlter
Anwendung aufs Leben, öfters der Schwärmerei verdächtig werden. Man
verzieh dem Autor, wenn er das, was man für wahr und ehrwürdig hielt,
mit Spott verfolgte, um so eher, als er dadurch zu erkennen gab, daß es
ihm selbst immerfort zu schaffen mache. Wie
kümmerlich die Kritik solchen Arbeiten damals entgegen kam, läßt sich
aus den ersten Bänden der "Allgemeinen deutschen Bibliothek"
ersehen. Der "Komischen Erzählungen" geschieht ehrenvolle Erwähnung;
aber hier ist keine Spur von Einsicht in den Charakter der Dichtart
selbst. Der Rezensent hatte seinen Geschmack, wie damals alle, an
Beispielen gebildet. Hier ist nicht bedacht, daß man vor allen Dingen
bei Beurteilung solcher parodistischen Werke den originalen, edlen, schönen
Gegenstand vor Augen haben müsse, um zu sehen, ob der Parodist ihm
wirklich eine schwache und komische Seite abgewonnen, ob er ihm etwas
geborgt, oder, unter dem Schein einer solchen Nachahmung, vielleicht gar
selbst eine treffliche Erfindung geliefert? Von allem dem ahndet man
nichts, sondern die Gedichte werden stellenweit gelobt und getadelt. Der
Rezensent hat, wie er selbst gesteht, so viel, was ihm gefallen,
angestrichen, daß er nicht einmal im Druck alles anführen kann. Kommt
man nun gar der höchst verdienstlichen Übersetzung Shakespeares mit
dem Ausruf entgegen: "Von Rechts wegen sollte man einen Mann wie
Shakespeare gar nicht übersetzt haben", so begreift sich ohne
weiteres, wie unendlich weit die "Allgemeine deutsche
Bibliothek" in Sachen des Geschmacks zurück war, und daß junge
Leute, von wahrem Gefühl belebt, sich nach anderen Leitsternen
umzusehen hatten. Den
Stoff, der auf diese Weise mehr oder weniger die Form bestimmte, suchten
die Deutschen überall auf. Sie hatten wenig oder keine Nationalgegenstände
behandelt. Schlegels "Herrmann" deutete nur darauf hin. Die
idyllische Tendenz verbreitete sich unendlich. Das Charakterlose der Geßnerschen,
bei großer Anmut und kindlicher Herzlichkeit, machte jeden glauben, daß
er etwas Ähnliches vermöge. Ebenso bloß aus dem Allgemeinmenschlichen
gegriffen waren jene Gedichte, die ein Fremdnationelles darstellen
sollten, z.B. die "Jüdischen Schäfergedichte", überhaupt
die patriarchalischen und was sich sonst auf das Alte Testament bezog.
Bodmers "Noachide" war ein vollkommenes Symbol der um den
deutschen Parnaß angeschwollenen Wasserflut, die sich nur langsam
verlief. Das Anakreontische Gegängel ließ gleichfalls unzählige
mittelmäßige Köpfe im Breiten herumschwanken. Die Präzision des
Horaz nötigte die Deutschen, doch nur langsam, sich ihm
gleichzustellen. Komische Heldengedichte, meist nach dem Vorbild von
Popes "Lockenraub", dienten auch nicht, eine bessere Zeit
herbeizuführen. Noch
muß ich hier eines Wahnes gedenken, der so ernsthaft wirkte, als er lächerlich
sein muß, wenn man ihn näher beleuchtet. Die Deutschen hatten nunmehr
genugsam historische Kenntnis von allen Dichtarten, worinne sich die
verschiedenen Nationen ausgezeichnet hatten. Von Gottsched war schon
dieses Fächerwerk, welches eigentlich den inneren Begriff von Poesie zu
Grunde richtet, in seiner "Kritischen Dichtkunst" ziemlich
vollständig zusammengezimmert und zugleich nachgewiesen, daß auch
schon deutsche Dichter mit vortrefflichen Werken alle Rubriken auszufüllen
gewußt. Und so ging es denn immer fort. Jedes Jahr wurde die Kollektion
ansehnlicher, aber auch jedes Jahr vertrieb eine Arbeit die andere aus
dem Lokal, in dem sie bisher geglänzt hatte. Wir besaßen nunmehr, wo
nicht Homere, doch Virgile und Miltone, wo nicht einen Pindar, doch
einen Horaz; an Theokriten war kein Mangel; und so wiegte man sich mit
Vergleichungen nach außen, indem die Masse poetischer Werke immer
wuchs, damit auch endlich eine Vergleichung nach innen stattfinden
konnte. Stand
es nun mit den Sachen des Geschmacks auf einem sehr schwankenden Fuße,
so konnte man jener Epoche auf keine Weise streitig machen, daß
innerhalb des protestantischen Teils von Deutschland und der Schweiz
sich dasjenige gar lebhaft zu regen anfing, was man Menschenverstand zu
nennen pflegt. Die Schulphilosophie, welche jederzeit das Verdienst hat,
alles dasjenige, wonach der Mensch nur fragen kann, nach angenommenen
Grundsätzen, in einer beliebten Ordnung, unter bestimmten Rubriken
vorzutragen, hatte sich durch das oft Dunkle und Unnützscheinende ihres
Inhalts, durch unzeitige Anwendung einer an sich respektabeln Methode
und durch die allzu große Verbreitung über so viele Gegenstände der
Menge fremd, ungenießbar und endlich entbehrlich gemacht. Mancher
gelangte zur Überzeugung, daß ihm wohl die Natur so viel guten und
geraden Sinn zur Ausstattung gegönnt habe, als er ungefähr bedürfe,
sich von den Gegenständen einen so deutlichen Begriff zu machen, daß
er mit ihnen fertig werden, und zu seinem und anderer Nutzen damit
gebaren könne, ohne gerade sich um das Allgemeinste mühsam zu bekümmern
und zu forschen, wie doch die entferntesten Dinge, die uns nicht
sonderlich berühren, wohl zusammenhangen möchten? Man machte den
Versuch, man tat die Augen auf, sah gerade vor sich hin, war aufmerksam,
fleißig, tätig, und glaubte, wenn man in seinem Kreis richtig urteile
und handle, sich auch wohl herausnehmen zu dürfen, über anderes, was
entfernter lag, mitzusprechen. Nach
einer solchen Vorstellung war nun jeder berechtiget, nicht allein zu
philosophieren, sondern sich auch nach und nach für einen Philosophen
zu halten. Die Philosophie war also ein mehr oder weniger gesunder und
geübter Menschenverstand, der es wagte, ins Allgemeine zu gehen und über
innere und äußere Erfahrungen abzusprechen. Ein heller Scharfsinn und
eine besondere Mäßigkeit, indem man durchaus die Mittelstraße und
Billigkeit gegen alle Meinungen für das Rechte hielt, verschaffte
solchen Schriften und mündlichen Äußerungen Ansehen und Zutrauen, und
so fanden sich zuletzt Philosophen in allen Fakultäten, ja in allen Ständen
und Hantierungen. Auf
diesem Wege mußten die Theologen sich zu der sogenannten natürlichen
Religion hinneigen, und wenn zur Sprache kam, inwiefern das Licht der
Natur uns in der Erkenntnis Gottes, der Verbesserung und Veredlung
unserer selbst zu fördern hinreichend sei, so wagte man gewöhnlich
sich zu dessen Gunsten ohne viel Bedenken zu entscheiden. Aus jenem Mäßigkeitsprinzip
gab man sodann sämtlichen positiven Religionen gleiche Rechte, wodurch
denn eine mit der andern gleichgültig und unsicher wurde. Übrigens ließ
man denn doch aber alles bestehen, und weil die Bibel so voller Gehalt
ist, daß sie mehr als jedes andere Buch Stoff zum Nachdenken und
Gelegenheit zu Betrachtungen über die menschlichen Dinge darbietet, so
konnte sie durchaus nach wie vor bei allen Kanzelreden und sonstigen
religiosen Verhandlungen zum Grunde gelegt werden. Allein
diesem Werke stand, so wie den sämtlichen Profanskribenten, noch ein
eigenes Schicksal bevor, welches im Laufe der Zeit nicht abzuwenden war.
Man hatte nämlich bisher auf Treu und Glauben angenommen, daß dieses
Buch der Bücher in einem Geiste verfaßt, ja daß es von dem göttlichen
Geiste eingehaucht und gleichsam diktiert sei. Doch waren schon längst
von Gläubigen und Ungläubigen die Ungleichheiten der verschiedenen
Teile desselben bald gerügt, bald verteidigt worden. Engländer,
Franzosen, Deutsche hatten die Bibel mit mehr oder weniger Heftigkeit,
Scharfsinn, Frechheit, Mutwillen angegriffen, und ebenso war sie wieder
von ernsthaften, wohldenkenden Menschen einer jeden Nation in Schutz
genommen worden. Ich für meine Person hatte sie lieb und wert: denn
fast ihr allein war ich meine sittliche Bildung schuldig, und die
Begebenheiten, die Lehren, die Symbole, die Gleichnisse, alles hatte
sich tief bei mir eingedrückt und war auf eine oder die andere Weise
wirksam gewesen. Mir mißfielen daher die ungerechten, spöttlichen und
verdrehenden Angriffe; doch war man damals schon so weit, daß man teils
als einen Hauptverteidigungsgrund vieler Stellen sehr willig annahm,
Gott habe sich nach der Denkweise und Fassungskraft der Menschen
gerichtet, ja, die vom Geiste Getriebenen hätten doch deswegen nicht
ihren Charakter, ihre Individualität verleugnen können, und Amos als
Kuhhirte führe nicht die Sprache Jesaias, welcher ein Prinz solle
gewesen sein. Aus
solchen Gesinnungen und Überzeugungen entwickelte sich, besonders bei
immer wachsenden Sprachkenntnissen, gar natürlich jene Art des
Studiums, daß man die orientalischen Lokalitäten, Nationalitäten,
Naturprodukte und Erscheinungen genauer zu studieren und sich auf diese
Weise jene alte Zeit zu vergegenwärtigen suchte. Michaelis legte die
ganze Gewalt seines Talents und seiner Kenntnisse auf diese Seite.
Reisebeschreibungen wurden ein kräftiges Hülfsmittel zu Erklärung der
Heiligen Schriften, und neuere Reisende, mit vielen Fragen ausgerüstet,
sollten durch Beantwortung derselben für die Propheten und Apostel
zeugen. Indessen
aber man von allen Seiten bemüht war, die Heiligen Schriften zu einem
natürlichen Anschauen heranzuführen, und die eigentliche Denk- und
Vorstellungsweise derselben allgemeiner faßlich zu machen, damit durch
diese historisch-kritische Ansicht mancher Einwurf beseitigt, manches
Anstößige getilgt und jede schale Spötterei unwirksam gemacht würde:
so trat in einigen Männern gerade die entgegengesetzte Sinnesart
hervor, indem solche die dunkelsten, geheimnisvollsten Schriften zum
Gegenstand ihrer Betrachtungen wählten, und solche aus sich selbst
durch Konjekturen, Rechnungen und andere geistreiche und seltsame
Kombinationen zwar nicht aufhellen, aber doch bekräftigen und, insofern
sie Weissagungen enthielten, durch den Erfolg begründen und dadurch
einen Glauben an das Nächstzuerwartende rechtfertigen wollten. Der
ehrwürdige Bengel hatte seinen Bemühungen um die Offenbarung Johannis
dadurch einen entschiedenen Eingang verschafft, daß er als ein verständiger,
rechtschaffener, gottesfürchtiger, als ein Mann ohne Tadel bekannt war.
Tiefe Gemüter sind genötigt, in der Vergangenheit so wie in der
Zukunft zu leben. Das gewöhnliche Treiben der Welt kann ihnen von
keiner Bedeutung sein, wenn sie nicht, in dem Verlauf der Zeiten bis zur
Gegenwart, enthüllte Prophezeiungen, und in der nächsten wie in der
fernsten Zukunft verhüllte Weissagungen verehren. Hierdurch entspringt
ein Zusammenhang, der in der Geschichte vermißt wird, die uns nur ein
zufälliges Hin- und Widerschwanken in einem notwendig geschlossenen
Kreise zu überliefern scheint. Doktor Crusius gehörte zu denen,
welchen der prophetische Teil der Heiligen Schriften am meisten zusagte,
indem er die zwei entgegengesetzten Eigenschaften des menschlichen
Wesens zugleich in Tätigkeit setzt, das Gemüt und den Scharfsinn.
Dieser Lehre hatten sich viele Jünglinge gewidmet, und bildeten schon
eine ansehnliche Masse, die um desto mehr in die Augen fiel, als Ernesti
mit den Seinigen das Dunkel, in welchem jene sich gefielen, nicht
aufzuhellen, sondern völlig zu vertreiben drohte. Daraus entstanden Händel,
Haß und Verfolgung und manches Unannehmliche. Ich hielt mich zur klaren
Partei und suchte mir ihre Grundsätze und Vorteile zuzueignen, ob ich
mir gleich zu ahnden erlaubte, daß durch diese höchst löbliche, verständige
Auslegungsweise zuletzt der poetische Gehalt jener Schriften mit dem
prophetischen verloren gehen müsse. Näher
aber lag denen, welche sich mit deutscher Literatur und schönen
Wissenschaften abgaben, die Bemühung solcher Männer, die, wie
Jerusalem, Zollikofer, Spalding, in Predigten und Abhandlungen, durch
einen guten und reinen Stil, der Religion und der ihr so nah verwandten
Sittenlehre, auch bei Personen von einem gewissen Sinn und Geschmack,
Beifall und Anhänglichkeit zu erwerben suchten. Eine gefällige
Schreibart fing an, durchaus nötig zu werden, und weil eine solche vor
allen Dingen faßlich sein muß, so standen von vielen Seiten
Schriftsteller auf, welche von ihren Studien, ihrem Metier klar,
deutlich, eindringlich, und sowohl für die Kenner als für die Menge zu
schreiben unternahmen. Nach
dem Vorgange eines Ausländers, Tissot, fingen nunmehr auch die Ärzte
mit Eifer an, auf die allgemeine Bildung zu wirken. Sehr großen Einfluß
hatten Haller, Unzer, Zimmermann, und was man im einzelnen gegen sie,
besonders gegen den letzten, auch sagen mag, sie waren zu ihrer Zeit
sehr wirksam. Und davon sollte in der Geschichte, vorzüglich aber in
der Biographie, die Rede sein: denn nicht insofern der Mensch etwas zurückläßt,
sondern insofern er wirkt und genießt und andere zu wirken und zu genießen
anregt, bleibt er von Bedeutung. Die
Rechtsgelehrten, von Jugend auf gewöhnt an einen abstrusen Stil,
welcher sich in allen Expeditionen, von der Kanzelei des unmittelbaren
Ritters bis auf den Reichstag zu Regensburg, auf die barockste Weise
erhielt, konnten sich nicht leicht zu einer gewissen Freiheit erheben,
um so weniger, als die Gegenstände, welche sie zu behandeln hatten, mit
der äußeren Form und folglich auch mit dem Stil aufs genaueste
zusammenhingen. Doch hatte der jüngere von Moser sich schon als ein
freier und eigentümlicher Schriftsteller bewiesen und Pütter durch die
Klarheit seines Vortrags auch Klarheit in seinen Gegenstand und den Stil
gebracht, womit er behandelt werden sollte. Alles, was aus seiner Schule
hervorging, zeichnete sich dadurch aus. Und nun fanden die Philosophen
selbst sich genötigt, um populär zu sein, auch deutlich und faßlich
zu schreiben. Mendelsohn, Garve traten auf und erregten allgemeine
Teilnahme und Bewunderung. Mit
der Bildung der deutschen Sprache und des Stils in jedem Fache wuchs
auch die Urteilsfähigkeit, und wir bewundern in jener Zeit Rezensionen
von Werken über religiose und sittliche Gegenstände, sowie über ärztliche;
wenn wir dagegen bemerken, daß die Beurteilungen von Gedichten und was
sich sonst auf schöne Literatur beziehen mag, wo nicht erbärmlich,
doch wenigstens sehr schwach befunden werden. Dieses gilt sogar von den
"Literaturbriefen" und von der "Allgemeinen deutschen
Bibliothek", wie von der "Bibliothek der schönen
Wissenschaften", wovon man gar leicht bedeutende Beispiele anführen
könnte. Dieses
alles mochte jedoch so bunt durch einander gehen, als es wollte, so
blieb einem jeden, der etwas aus sich zu produzieren gedachte, der nicht
seinen Vorgängern die Worte und Phrasen nur aus dem Munde nehmen
wollte, nichts weiter übrig, als sich früh und spät nach einem Stoffe
umzusehen, den er zu benutzen gedächte. Auch hier wurden wir sehr in
der Irre herumgeführt. Man trug sich mit einem Worte von Kleist, das
wir oft genug hören mußten. Er hatte nämlich gegen diejenigen, welche
ihn wegen seiner öftern einsamen Spaziergänge beriefen, scherzhaft,
geistreich und wahrhaft geantwortet: er sei dabei nicht müßig, er gehe
auf die Bilderjagd. Einem Edelmann und Soldaten ziemte dies Gleichnis
wohl, der sich dadurch Männern seines Standes gegenüberstellte, die
mit der Flinte im Arm auf die Hasen und Hühnerjagd, so oft sich nur
Gelegenheit zeigte, aus zugehen nicht versäumten. Wir finden daher in
Kleistens Gedichten von solchen einzelnen, glücklich aufgehaschten,
obgleich nicht immer glücklich verarbeiteten Bildern gar manches, was
uns freundlich an die Natur erinnert. Nun aber ermahnte man uns auch
ganz ernstlich, auf die Bilderjagd auszugehen, die uns denn doch zuletzt
nicht ganz ohne Frucht ließ, obgleich Apels Garten, die Kuchengärten,
das Rosental, Gohlis, Raschwitz und Connewitz das wunderlichste Revier
sein mochte, um poetisches Wildbret darin aufzusuchen. Und doch ward ich
aus jenem Anlaß öfters bewogen, meinen Spaziergang einsam anzustellen,
und weil weder von schönen, noch erhabenen Gegenständen dem Beschauer
viel entgegentrat, und in dem wirklich herrlichen Rosentale zur besten
Jahrszeit die Mücken keinen zarten Gedanken aufkommen ließen: so ward
ich, bei unermüdet fortgesetzter Bemühung, auf das Kleinleben der
Natur (ich möchte dieses Wort nach der Analogie von Stilleben
gebrauchen) höchst aufmerksam, und weil die zierlichen Begebenheiten,
die man in diesem Kreise gewahr wird, an und für sich wenig vorstellen,
so gewöhnte ich mich, in ihnen eine Bedeutung zu sehen, die sich bald
gegen die symbolische, bald gegen die allegorische Seite hinneigte, je
nachdem Anschauung, Gefühl oder Reflexion das Übergewicht behielt. Ein
Ereignis, statt vieler, gedenke ich zu erzählen. Ich
war, nach Menschenweise, in meinen Namen verliebt und schrieb ihn, wie
junge und ungebildete Leute zu tun pflegen, überall an. Einst hatte ich
ihn auch sehr schön und genau in die glatte Rinde eines Lindenbaums von
mäßigem Alter geschnitten. Den Herbst darauf, als meine Neigung zu
Annetten in ihrer besten Blüte war, gab ich mir die Mühe, den ihrigen
oben darüber zu schneiden. Indessen hatte ich gegen Ende des Winters,
als ein launischer Liebender, manche Gelegenheit vom Zaune gebrochen, um
sie zu quälen und ihr Verdruß zu machen: Frühjahrs besuchte ich zufällig
die Stelle, und der Saft, der mächtig in die Bäume trat, war durch die
Einschnitte, die ihren Namen bezeichneten, und die noch nicht verharscht
waren, hervorgequollen und benetzte mit unschuldigen Pflanzentränen die
schon hart gewordenen Züge des meinigen. Sie also hier über mich
weinen zu sehen, der ich oft ihre Tränen durch meine Unarten
hervorgerufen hatte, setzte mich in Bestürzung. In Erinnerung meines
Unrechts und ihrer Liebe kamen mir selbst die Tränen in die Augen, ich
eilte, ihr alles doppelt und dreifach abzubitten, verwandelte dies
Ereignis in eine Idylle, die ich niemals ohne Neigung lesen und ohne Rührung
anderen vortragen konnte. Indem
ich nun, als ein Schäfer an der Pleiße, mich in solche zarte Gegenstände
kindlich genug vertiefte, und immer nur solche wählte, die ich
geschwind in meinen Busen zurückführen konnte, so war für deutsche
Dichter von einer größeren und wichtigeren Seite her längst gesorgt
gewesen. Der
erste wahre und höhere eigentliche Lebensgehalt kam durch Friedrich den
Großen und die Taten des Siebenjährigen Kriegs in die deutsche Poesie.
Jede Nationaldichtung muß schal sein oder schal werden, die nicht auf
dem Menschlich-Ersten ruht, auf den Ereignissen der Völker und ihrer
Hirten, wenn beide für einen Mann stehe. Könige sind darzustellen in
Krieg und Gefahr, wo sie eben dadurch als die Ersten erscheinen, weil
sie das Schicksal des Allerletzten bestimmen und teilen, und dadurch
viel interessanter werden als die Götter selbst, die, wenn sie
Schicksale bestimmt haben, sich der Teilnahme derselben entziehen. In
diesem Sinne muß jede Nation, wenn sie für irgend etwas gelten will,
eine Epopöe besitzen, wozu nicht gerade die Form des epischen Gedichts
nötig ist. Die
"Kriegslieder", von Gleim angestimmt, behaupten deswegen einen
so hohen Rang unter den deutschen Gedichten, weil sie mit und in der Tat
entsprungen sind, und noch überdies, weil an ihnen die glückliche
Form, als hätte sie ein Mitstreitender in den höchsten Augenblicken
hervorgebracht, uns die vollkommenste Wirksamkeit empfinden läßt. Ramler
singt auf eine andere, höchst würdige Weise die Taten seines Königs.
Alle seine Gedichte sind gehaltvoll, beschäftigen uns mit großen,
herzerhebenden Gegenständen und behaupten schon dadurch einen unzerstörlichen
Wert. Denn
der innere Gehalt des bearbeiteten Gegenstandes ist der Anfang und das
Ende der Kunst. Man wird zwar nicht leugnen, daß das Genie, das
ausgebildete Kunsttalent, durch Behandlung aus allem alles machen und
den widerspenstigsten Stoff bezwingen könne. Genau besehen, entsteht
aber alsdann immer mehr ein Kunststück als ein Kunstwerk, welches auf
einem würdigen Gegenstande ruhen soll, damit uns zuletzt die
Behandlung, durch Geschick, Mühe und Fleiß, die Würde des Stoffes nur
desto glücklicher und herrlicher entgegenbringe. Die
Preußen und mit ihnen das protestantische Deutschland gewannen also für
ihre Literatur einen Schatz, welcher der Gegenpartei fehlte und dessen
Mangel sie durch keine nachherige Bemühung hat ersetzen können. An dem
großen Begriff, den die preußischen Schriftsteller von ihrem König
hegen durften, bauten sie sich erst heran, und um desto eifriger, als
derjenige, in dessen Namen sie alles taten, ein für allemal nichts von
ihnen wissen wollte. Schon früher war durch die französische Kolonie,
nachher durch die Vorliebe des Königs für die Bildung dieser Nation
und für ihre Finanzanstalten eine Masse französischer Kultur nach Preußen
gekommen, welche den Deutschen höchst förderlich ward, indem sie
dadurch zu Widerspruch und Widerstreben aufgefordert wurden; ebenso war
die Abneigung Friedrichs gegen das Deutsche für die Bildung des
Literarwesens ein Glück. Man tat alles, um sich von dem König bemerken
zu machen, nicht etwa, um von ihm geachtet, sondern nur beachtet zu
werden; aber man tat's auf deutsche Weise, nach innerer Überzeugung,
man tat, was man für recht erkannte, und wünschte und wollte, daß der
König dieses deutsche Rechte anerkennen und schätzen solle. Dies
geschah nicht und konnte nicht geschehen: denn wie kann man von einem König,
der geistig leben und genießen will, verlangen, daß er seine Jahre
verliere, um das, was er für barbarisch hält, nur allzu spät
entwickelt und genießbar zu sehen? In Handwerks- und Fabriksachen
mochte er wohl sich, besonders aber seinem Volke, statt fremder
vortrefflicher Waren, sehr mäßige Surrogate aufnötigen; aber hier
geht alles geschwinder zur Vollkommenheit, und es braucht kein
Menschenleben, um solche Dinge zur Reife zu bringen. Eines
Werks aber, der wahrsten Ausgeburt des Siebenjährigen Krieges, von
vollkommenem norddeutschem Nationalgehalt, muß ich hier vor allen
ehrenvoll erwähnen; es ist die erste aus dem bedeutenden Leben
gegriffene Theaterproduktion, von spezifisch temporärem Gehalt, die
deswegen auch eine nie zu berechnende Wirkung tat: "Minna von
Barnhelm". Lessing, der, im Gegensatze von Klopstock und Gleim, die
persönliche Würde gern wegwarf, weil er sich zutraute, sie jeden
Augenblick wieder ergreifen und aufnehmen zu können, gefiel sich in
einem zerstreuten Wirtshaus- und Weltleben, da er gegen sein mächtig
arbeitendes Innere stets ein gewaltiges Gegengewicht brauchte, und so
hatte er sich auch in das Gefolge des Generals Tauentzien begeben. Man
erkennt leicht, wie genanntes Stück zwischen Krieg und Frieden, Haß
und Neigung erzeugt ist. Diese Produktion war es, die den Blick in eine
so höhere, bedeutendere Welt aus der literarischen und bürgerlichen,
in welcher sich die Dichtkunst bisher bewegt hatte, glücklich eröffnete. Die
gehässige Spannung, in welcher Preußen und Sachsen sich während
dieses Kriegs gegen einander befanden, konnte durch die Beendigung
desselben nicht aufgehoben werden. Der Sachse fühlte nun erst recht
schmerzlich die Wunden, die ihm der überstolz gewordene Preuße
geschlagen hatte Durch den politischen Frieden konnte der Friede
zwischen den Gemütern nicht sogleich hergestellt werden. Dieses aber
sollte gedachtes Schauspiel im Bilde bewirken. Die Anmut und Liebenswürdigkeit
der Sächsinnen überwindet den Wert, die Würde, den Starrsinn der Preußen,
und sowohl an den Hauptpersonen als den Subalternen wird eine glückliche
Vereinigung bizarrer und widerstrebender Elemente kunstgemäß
dargestellt. Habe
ich durch diese kursorischen und desultorischen Bemerkungen über
deutsche Literatur meine Leser in einige Verwirrung gesetzt, so ist es
mir geglückt, eine Vorstellung von jenem chaotischen Zustande zu geben,
in welchem sich mein armes Gehirn befand, als, im Konflikt zweier für
das literarische Vaterland so bedeutender Epochen, so viel Neues auf
mich eindrängte, ehe ich mich mit dem Alten hatte abfinden können, so
viel Altes sein Recht noch über mich gelten machte, da ich schon
Ursache zu haben glaubte, ihm völlig entsagen zu dürfen. Welchen Weg
ich einschlug, mich aus dieser Not, wenn auch nur Schritt vor Schritt,
zu retten, will ich gegenwärtig möglichst zu überliefern suchen. Die
weitschweifige Periode, in welche meine Jugend gefallen war, hatte ich
treufleißig, in Gesellschaft so vieler würdigen Männer,
durchgearbeitet. Die mehreren Quartbände Manuskript, die ich meinem
Vater zurückließ, konnten zum genügsamen Zeugnisse dienen, und welche
Masse von Versuchen, Entwürfen, bis zur Hälfte ausgeführten Vorsätzen
war mehr aus Mißmut als aus Überzeugung in Rauch aufgegangen! Nun
lernte ich durch Unterredung überhaupt, durch Lehre, durch so manche
widerstreitende Meinung, besonders aber durch meinen Tischgenossen, den
Hofrat Pfeil, das Bedeutende des Stoffs und das Konzise der Behandlung
mehr und mehr schätzen, ohne mir jedoch klar machen zu können, wo
jenes zu suchen und wie dieses zu erreichen sei. Denn bei der großen
Beschränktheit meines Zustandes, bei der Gleichgültigkeit der
Gesellen, dem Zurückhalten der Lehrer, der Abgesondertheit gebildeter
Einwohner, bei ganz unbedeutenden Naturgegenständen war ich genötigt,
alles in mir selbst zu suchen. Verlangte ich nun zu meinen Gedichten
eine wahre Unterlage, Empfindung oder Reflexion, so mußte ich in meinen
Busen greifen; forderte ich zu poetischer Darstellung eine unmittelbare
Anschauung des Gegenstandes, der Begebenheit, so durfte ich nicht aus
dem Kreise heraustreten, der mich zu berühren, mir ein Interesse
einzuflößen geeignet war. In diesem Sinne schrieb ich zuerst gewisse
kleine Gedichte in Liederform oder freierem Silbenmaß; sie entspringen
aus Reflexion, handeln vom Vergangenen und nehmen meist eine
epigrammatische Wendung. Und
so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht
abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte,
oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber
mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren
Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe
hierzu war wohl niemand nötiger als mir, den seine Natur immerfort aus
einem Extreme in das andere warf. Alles, was daher von mir bekannt
geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession, welche vollständig
zu machen dieses Büchlein ein gewagter Versuch ist. Meine
frühere Neigung zu Gretchen hatte ich nun auf ein Ännchen übergetragen,
von der ich nicht mehr zu sagen wüßte, als daß sie jung, hübsch,
munter, liebevoll und so angenehm war, daß sie wohl verdiente, in dem
Schrein des Herzens eine Zeitlang als eine kleine Heilige aufgestellt zu
werden, um ihr jede Verehrung zu widmen, welche zu erteilen oft mehr
Behagen erregt als zu empfangen. Ich sah sie täglich ohne Hindernisse,
sie half die Speisen bereiten, die ich genoß, sie brachte mir
wenigstens abends den Wein, den ich trank, und schon unsere mittägige
abgeschlossene Tischgesellschaft war Bürge, daß das kleine, von wenig
Gästen außer der Messe besuchte Haus seinen guten Ruf wohl verdiente.
Es fand sich zu mancherlei Unterhaltung Gelegenheit und Lust. Da sie
sich aber aus dem Hause wenig entfernen konnte noch durfte, so wurde
denn doch der Zeitvertreib etwas mager. Wir sangen die Lieder von
Zachariä, spielten den "Herzog Michel" von Krüger, wobei ein
zusammengeknüpftes Schnupftuch die Stelle der Nachtigall vertreten mußte,
und so ging es eine Zeitlang noch ganz leidlich. Weil aber dergleichen
Verhältnisse, je unschuldiger sie sind, desto weniger Mannigfaltigkeit
auf die Dauer gewähren, so ward ich von jener bösen Sucht befallen,
die uns verleitet, aus der Quälerei der Geliebten eine Unterhaltung zu
schaffen und die Ergebenheit eines Mädchens mit willkürlichen und
tyrannischen Grillen zu beherrschen. Die böse Laune über das Mißlingen
meiner poetischen Versuche, über die anscheinende Unmöglichkeit, hierüber
ins klare zu kommen, und über alles, was mich hie und da sonst kneipen
mochte, glaubte ich an ihr auslassen zu dürfen, weil sie mich wirklich
von Herzen liebte und, was sie nur immer konnte, mir zu Gefallen tat.
Durch ungegründete und abgeschmackte Eifersüchteleien verdarb ich mir
und ihr die schönsten Tage. Sie ertrug es eine Zeitlang mit
unglaublicher Geduld, die ich grausam genug war aufs Äußerste zu
treiben. Allein zu meiner Beschämung und Verzweiflung mußte ich
endlich bemerken, daß sich ihr Gemüt von mir entfernt habe, und daß
ich nun wohl zu den Tollheiten berechtigt sein möchte, die ich mir ohne
Not und Ursache erlaubt hatte. Es gab auch schreckliche Szenen unter
uns, bei welchen ich nichts gewann; und nun fühlte ich erst, daß ich
sie wirklich liebte und daß ich sie nicht entbehren könne. Meine
Leidenschaft wuchs und nahm alle Formen an, deren sie unter solchen Umständen
fähig ist; ja zuletzt trat ich in die bisherige Rolle des Mädchens.
Alles mögliche suchte ich hervor, um ihr gefällig zu sein, ihr sogar
durch andere Freude zu verschaffen: denn ich konnte mir die Hoffnung,
sie wieder zu gewinnen, nicht versagen. Allein es war zu spät! ich
hatte sie wirklich verloren, und die Tollheit, mit der ich meinen Fehler
an mir selbst rächte, indem ich auf mancherlei unsinnige Weise in meine
physische Natur stürmte, um der sittlichen etwas zu Leide zu tun, hat
sehr viel zu den körperlichen Übeln beigetragen, unter denen ich
einige der besten Jahre meines Lebens verlor; ja, ich wäre vielleicht
an diesem Verlust völlig zugrunde gegangen, hätte sich nicht hier das
poetische Talent mit seinen Heilkräften besonders hülfreich erwiesen. Schon
früher hatte ich in manchen Intervallen meine Unart deutlich genug
wahrgenommen. Das arme Kind dauerte mich wirklich, wenn ich sie so ganz
ohne Not von mir verletzt sah. Ich stellte mir ihre Lage, die meinige
und dagegen den zufriedenen Zustand eines anderen Paares aus unserer
Gesellschaft so oft und so umständlich vor, daß ich endlich nicht
lassen konnte, diese Situation, zu einer quälenden und belehrenden Buße,
dramatisch zu behandeln. Daraus entsprang die älteste meiner überbliebenen
dramatischen Arbeiten, das kleine Stück "Die Laune des
Verliebten", an dessen unschuldigem Wesen man zugleich den Drang
einer siedenden Leidenschaft gewahr wird. Allein
mich hatte eine tiefe, bedeutende, drangvolle Welt schon früher
angesprochen. Bei meiner Geschichte mit Gretchen und an den Folgen
derselben hatte ich zeitig in die seltsamen Irrgänge geblickt, mit
welchen die bürgerliche Sozietät unterminiert ist. Religion, Sitte,
Gesetz, Stand, Verhältnisse, Gewohnheit, alles beherrscht nur die
Oberfläche des städtischen Daseins. Die von herrlichen Häusern
eingefaßten Straßen werden reinlich gehalten, und jedermann beträgt
sich daselbst anständig genug; aber im Innern sieht es öfters um desto
wüster aus, und ein glattes Äußere übertüncht, als ein schwacher
Bewurf, manches morsche Gemäuer, das über Nacht zusammenstürzt, und
eine desto schrecksichere Wirkung hervorbringt, als es mitten in den
friedlichen Zustand hereinbricht. Wie viele Familien hatte ich nicht
schon näher und ferner durch Banqueroute, Ehescheidungen, verführte Töchter,
Morde, Hausdiebstähle, Vergiftungen entweder ins Verderben stürzen,
oder auf dem Rande kümmerlich erhalten sehen, und hatte, so jung ich
war, in solchen Fällen zu Rettung und Hülfe öfters die Hand geboten:
denn da meine Offenheit Zutrauen erweckte, meine Verschwiegenheit
erprobt war, meine Tätigkeit keine Opfer scheute und in den gefährlichsten
Fällen am liebsten wirken mochte: so fand ich oft genug Gelegenheit, zu
vermitteln, zu vertuschen, den Wetterstrahl abzuleiten, und was sonst
nur alles geleistet werden kann; wobei es nicht fehlen konnte, daß ich
sowohl an mir selbst, als durch andere zu manchen kränkenden und demütigenden
Erfahrungen gelangen mußte. Um mir Luft zu verschaffen, entwarf ich
mehrere Schauspiele und schrieb die Expositionen von den meisten. Da
aber die Verwicklungen jederzeit ängstlich werden mußten, und fast
alle diese Stücke mit einem tragischen Ende drohten, ließ ich eins
nach dem anderen fallen. Die "Mitschuldigen" sind das einzige
fertig gewordene, dessen heiteres und burleskes Wesen auf dem düsteren
Familiengrunde als von etwas Bänglichem begleitet erscheint, so daß es
bei der Vorstellung im ganzen ängstiget, wenn es im einzelnen ergetzt.
Die hart ausgesprochenen widergesetzlichen Handlungen verletzen das ästhetische
und moralische Gefühl, und deswegen konnte das Stück auf dem deutschen
Theater keinen Eingang gewinnen, obgleich die Nachahmungen desselben,
welche sich fern von jenen Klippen gehalten, mit Beifall aufgenommen
worden. Beide
genannte Stücke jedoch sind, ohne daß ich mir dessen bewußt gewesen wäre,
in einem höheren Gesichtspunkt geschrieben. Sie deuten auf eine
vorsichtige Duldung bei moralischer Zurechnung, und sprechen in etwas
herben und derben Zügen jenes höchst christliche Wort spielend aus:
Wer sich ohne Sünde fühlt, der hebe den ersten Stein auf. Über
diesen Ernst, der meine ersten Stücke verdüsterte, beging ich den
Fehler, sehr günstige Motive zu versäumen, welche ganz entschieden in
meiner Natur lagen. Es entwickelte sich nämlich unter jenen ernsten, für
einen jungen Menschen fürchterlichen Erfahrungen in mir ein verwegner
Humor, der sich dem Augenblick überlegen fühlt, nicht allein keine
Gefahr scheut, sondern sie vielmehr mutwillig herbeilockt. Der Grund
davon lag in dem Übermute, in welchem sich das kräftige Alter so sehr
gefällt, und der, wenn er sich possenhaft äußert, sowohl im
Augenblick als in der Erinnerung viel Vergnügen macht. Diese Dinge sind
so gewöhnlich, daß sie in dem Wörterbuche unserer jungen akademischen
Freunde Suiten genannt werden, und daß man, wegen der nahen
Verwandtschaft, ebenso gut Suiten reißen sagt als Possen reißen.
Solche humoristische Kühnheiten, mit Geist und Sinn auf das Theater
gebracht, sind von der größten Wirkung. Sie unterscheiden sich von der
Intrige dadurch, daß sie momentan sind, und daß ihr Zweck, wenn sie ja
einen haben sollten, nicht in der Ferne liegen darf. Beaumarchais hat
ihren ganzen Wert gefaßt, die Wirkungen seiner Figaros entspringen vorzüglich
daher. Wenn nun solche gutmütige Schalks- und Halbschelmenstreiche zu
edlen Zwecken, mit persönlicher Gefahr ausgeübt werden, so sind die
daraus entspringenden Situationen, ästhetisch und moralisch betrachtet,
für das Theater von dem größten Wert wie denn z. B. die Oper
"Der Wasserträger" vielleicht das glücklichste Sujet
behandelt, das wir je auf dem Theater gesehen haben. Um
die unendliche Langeweile des täglichen Lebens zu erheitern, übte ich
unzählige solcher Streiche, teils ganz vergeblich, teils zu Zwecken
meiner Freunde, denen ich gern gefällig war. Für mich selbst wüßte
ich nicht, daß ich ein einzig Mal hiebei absichtlich gehandelt hätte,
auch kam ich niemals darauf, ein Unterfangen dieser Art als einen
Gegenstand für die Kunst zu betrachten; hätte ich aber solche Stoffe,
die mir so nahe zur Hand lagen, ergriffen und ausgebildet, so wären
meine ersten Arbeiten heiterer und brauchbarer gewesen. Einiges, was
hierher gehört, kommt zwar später bei mir vor, aber einzeln und
absichtlos. Denn
da uns das Herz immer näher liegt als der Geist, und uns dann zu
schaffen macht, wenn dieser sich wohl zu helfen weiß, so waren mir die
Angelegenheiten des Herzens immer als die wichtigsten erschienen. Ich
ermüdete nicht über Flüchtigkeit der Neigungen, Wandelbarkeit des
menschlichen Wesens, sittliche Sinnlichkeit und über alle das Hohe und
Tiefe nachzudenken, dessen Verknüpfung in unserer Natur als das Rätsel
des Menschenlebens betrachtet werden kann. Auch hier suchte ich das, was
mich quälte, in einem Lied, einem Epigramm, in irgend einem Reim
loszuwerden, die, weil sie sich auf die eigensten Gefühle und auf die
besondersten Umstände bezogen, kaum jemand anderes interessieren
konnten als mich selbst. Meine
äußeren Verhältnisse hatten sich indessen nach Verlauf weniger Zeit
gar sehr verändert. Madame Böhme war nach einer langen und traurigen
Krankheit endlich gestorben; sie hatte mich zuletzt nicht mehr vor sich
gelassen. Ihr Mann konnte nicht sonderlich mit mir zufrieden sein; ich
schien ihm nicht fleißig genug und zu leichtsinnig. Besonders nahm er
es mir sehr übel, als ihm verraten wurde, daß ich im deutschen
Staatsrechte, anstatt gehörig nachzuschreiben, die darin aufgeführten
Personen, als den Kammerrichter, die Präsidenten und Beisitzer, mit
seltsamen Perücken an dem Rand meines Heftes abgebildet und durch diese
Possen meine aufmerksamen Nachbarn zerstreut und zum Lachen gebracht
hatte. Er lebte nach dem Verlust seiner Frau noch eingezogner als
vorher, und ich vermied ihn zuletzt, um seinen Vorwürfen auszuweichen.
Besonders aber war es ein Unglück, daß Gellert sich nicht der Gewalt
bedienen wollte, die er über uns hätte ausüben können. Freilich
hatte er nicht Zeit, den Beichtvater zu machen, und sich nach der
Sinnesart und den Gebrechen eines jeden zu erkundigen; daher nahm er die
Sache sehr im ganzen und glaubte uns mit den kirchlichen Anstalten zu
bezwingen; deswegen er gewöhnlich, wenn er uns einmal vor sich ließ,
mit gesenkten Köpfchen und der weinerlich angenehmen Stimme zu fragen
pflegte, ob wir denn auch fleißig in die Kirche gingen, wer unser
Beichtvater sei und ob wir das heilige Abendmahl genossen? Wenn wir nun
bei diesem Examen schlecht bestanden, so wurden wir mit Wehklagen
entlassen; wir waren mehr verdrießlich als erbaut, konnten aber doch
nicht umhin, den Mann herzlich lieb zu haben. Bei
dieser Gelegenheit kann ich nicht unterlassen, aus meiner früheren
Jugend etwas nachzuholen, um anschaulich zu machen, wie die großen
Angelegenheiten der kirchlichen Religion mit Folge und Zusammenhang
behandelt werden müssen, wenn sie sich fruchtbar, wie man von ihr
erwartet, beweisen soll. Der protestantische Gottesdienst hat zu wenig Fülle
und Konsequenz, als daß er die Gemeine zusammen halten könnte; daher
geschieht es leicht, daß Glieder sich von ihr absondern und entweder
kleine Gemeinen bilden, oder, ohne kirchlichen Zusammenhang, neben
einander geruhig ihr bürgerliches Wesen treiben. So klagte man schon
vor geraumer Zeit, die Kirchengänger verminderten sich von Jahr zu Jahr
und in eben dem Verhältnis die Personen, welche den Genuß des
Nachtmahls verlangten. Was beides, besonders aber das letztere betrifft,
liegt die Ursache sehr nah; doch wer wagt sie auszusprechen? Wir wollen
es versuchen. In
sittlichen und religiosen Dingen, ebensowohl als in physischen und bürgerlichen,
mag der Mensch nicht gern etwas aus dem Stegreife tun; eine Folge,
woraus Gewohnheit entspringt, ist ihm nötig; das, was er lieben und
leisten soll, kann er sich nicht einzeln, nicht abgerissen denken, und
um etwas gern zu wiederholen, muß es ihm nicht fremd geworden sein.
Fehlt es dem protestantischen Kultus im ganzen an Fülle, so untersuche
man das einzelne, und man wird finden, der Protestant hat zu wenig
Sakramente, ja er hat nur eins, bei dem er sich tätig erweist, das
Abendmahl: denn die Taufe sieht er nur an anderen vollbringen, und es
wird ihm nicht wohl dabei. Die Sakramente sind das Höchste der
Religion, das sinnliche Symbol einer außerordentlichen göttlichen
Gunst und Gnade. In dem Abendmahle sollen die irdischen Lippen ein göttliches
Wesen verkörpert empfangen und unter der Form irdischer Nahrung einer
himmlischen teilhaftig werden. Dieser Sinn ist in allen christlichen
Kirchen ebenderselbe, es werde nun das Sakrament mit mehr oder weniger
Ergebung in das Geheimnis, mit mehr oder weniger Akkommodation an das,
was verständlich ist, genossen; immer bleibt es eine heilige, große
Handlung, welche sich in der Wirklichkeit an die Stelle des Möglichen
oder Unmöglichen, an die Stelle desjenigen setzt, was der Mensch weder
erlangen noch entbehren kann. Ein solches Sakrament dürfte aber nicht
allein stehen; kein Christ kann es mit wahrer Freude, wozu es gegeben
ist, genießen, wenn nicht der symbolische oder sakramentliche Sinn in
ihm genährt ist. Er muß gewohnt sein, die innere Religion des Herzens
und die der äußeren Kirche als vollkommen eins anzusehen, als das große
allgemeine Sakrament, das sich wieder in so viel andere zergliedert und
diesen Teilen seine Heiligkeit, Unzerstörlichkeit und Ewigkeit
mitteilt. Hier
reicht ein jugendliches Paar sich einander die Hände, nicht zum vorübergehenden
Gruß oder zum Tanze; der Priester spricht seinen Segen darüber aus,
und das Band ist unauflöslich. Es währt nicht lange, so bringen diese
Gatten ein Ebenbild an die Schwelle des Altars; es wird mit heiligem
Wasser gereinigt und der Kirche dergestalt einverleibt, daß es diese
Wohltat nur durch den ungeheuersten Abfall verscherzen kann. Das Kind übt
sich im Leben an den irdischen Dingen selbst heran, in himmlischen muß
es unterrichtet werden. Zeigt sich bei der Prüfung, daß dies vollständig
geschehen sei, so wird es nunmehr als wirklicher Bürger, als wahrhafter
und freiwilliger Bekenner in den Schoß der Kirche aufgenommen, nicht
ohne äußere Zeichen der Wichtigkeit dieser Handlung. Nun ist er erst
entschieden ein Christ, nun kennt er erst die Vorteile, jedoch auch die
Pflichten. Aber inzwischen ist ihm als Menschen manches Wunderliche
begegnet, durch Lehren und Strafen ist ihm aufgegangen, wie bedenklich
es mit seinem Innern aussehe, und immerfort wird noch von Lehren und von
Übertretungen die Rede sein; aber die Strafe soll nicht mehr
stattfinden. Hier ist ihm nun in der unendlichen Verworrenheit, in die
er sich, bei dem Widerstreit natürlicher und religioser Forderungen,
verwickeln muß, ein herrliches Auskunftsmittel gegeben, seine Taten und
Untaten, seine Gebrechen und seine Zweifel einem würdigen, eigens dazu
bestellten Manne zu vertrauen, der ihn zu beruhigen, zu warnen, zu stärken,
durch gleichfalls symbolische Strafen zu züchtigen und ihn zuletzt,
durch ein völliges Auslöschen seiner Schuld, zu beseligen und ihm rein
und abgewaschen die Tafel seiner Menschheit wieder zu übergeben weiß.
So, durch mehrere sakramentliche Handlungen, welche sich wieder, bei
genauerer Ansicht, in sakramentliche kleinere Züge verzweigen,
vorbereitet und rein beruhigt, knieet er hin, die Hostie zu empfangen;
und daß ja das Geheimnis dieses hohen Akts noch gesteigert werde, sieht
er den Kelch nur in der Ferne, es ist kein gemeines Essen und Trinken,
was befriedigt, es ist eine Himmelsspeise, die nach himmlischem Tranke
durstig macht. Jedoch
glaube der Jüngling nicht, daß es damit abgetan sei; selbst der Mann
glaube es nicht! Denn wohl in irdischen Verhältnissen gewöhnen wir uns
zuletzt, auf uns selber zu stehen, und auch da wollen nicht immer
Kenntnisse, Verstand und Charakter hinreichen; in himmlischen Dingen
dagegen lernen wir nie aus. Das höhere Gefühl in uns, das sich oft
selbst nicht einmal recht zu Hause findet, wird noch überdies von so
viel Äußerem bedrängt, daß unser eignes Vermögen wohl schwerlich
alles darreicht, was zu Rat, Trost und Hülfe nötig wäre. Dazu aber
verordnet findet sich nun auch jenes Heilmittel für das ganze Leben,
und stets harrt ein einsichtiger, frommer Mann, um Irrende zurecht zu
weisen und Gequälte zu erledigen. Und
was nun durch das ganze Leben so erprobt worden, soll an der Pforte des
Todes alle seine Heilkräfte zehnfach tätig erweisen. Nach einer von
Jugend auf eingeleiteten, zutraulichen Gewohnheit nimmt der Hinfällige
jene symbolischen, deutsamen Versicherungen mit Inbrunst an, und ihm
wird da, wo jede irdische Garantie verschwindet, durch eine himmlische für
alle Ewigkeit ein seliges Dasein zugesichert. Er fühlt sich entschieden
überzeugt, daß weder ein feindseliges Element, noch ein mißwollender
Geist ihn hindern könne, sich mit einem verklärten Leibe zu umgeben,
um in unmittelbaren Verhältnissen zur Gottheit an den unermeßlichen
Seligkeiten teilzunehmen, die von ihr ausfließen. Zum
Schlusse werden sodann, damit der ganze Mensch geheiligt sei, auch die Füße
gesalbt und gesegnet. Sie sollen, selbst bei möglicher Genesung, einen
Widerwillen empfinden, diesen irdischen, harten, undurchdringlichen
Boden zu berühren. Ihnen soll eine wundersame Schnellkraft mitgeteilt
werden, wodurch sie den Erdschollen, der sie bisher anzog, unter sich
abstoßen. Und so ist durch einen glänzenden Zirkel gleichwürdig
heiliger Handlungen, deren Schönheit von uns nur kurz angedeutet
worden, Wiege und Grab, sie mögen zufällig noch so weit aus einander
gerückt liegen, in einem stetigen Kreise verbunden. Aber
alle diese geistigen Wunder entsprießen nicht, wie andere Früchte, dem
natürlichen Boden, da können sie weder gesäet noch gepflanzt noch
gepflegt werden. Aus einer anderen Region muß man sie herüberflehen,
welches nicht jedem, noch zu jeder Zeit gelingen würde. Hier entgegnet
uns nun das höchste dieser Symbole aus alter frommer Überlieferung.
Wir hören, daß ein Mensch vor dem andern von oben begünstigt,
gesegnet und geheiligt werden könne. Damit aber dies ja nicht als
Naturgabe erscheine, so muß diese große, mit einer schweren Pflicht
verbundene Gunst von einem Berechtigten auf den anderen übergetragen,
und das größte Gut, was ein Mensch erlangen kann, ohne daß er jedoch
dessen Besitz von sich selbst weder erringen, noch ergreifen könne,
durch geistige Erbschaft auf Erden erhalten und verewigt werden. Ja, in
der Weihe des Priesters ist alles zusammengefaßt, was nötig ist, um
diejenigen heiligen Handlungen wirksam zu begehen, wodurch die Menge begünstigt
wird, ohne daß sie irgend eine andere Tätigkeit dabei nötig hätte,
als die des Glaubens und des unbedingten Zutrauens. Und so tritt der
Priester in der Reihe seiner Vorfahren und Nachfolger, in dem Kreise
seiner Mitgesalbten, den höchsten Segnenden darstellend, um so
herrlicher auf, als es nicht er ist, den wir verehren, sondern sein Amt,
nicht sein Wink, vor dem wir die Kniee beugen, sondern der Segen, den er
erteilt, und der um desto heiliger, unmittelbarer vom Himmel zu kommen
scheint, weil ihn das irdische Werkzeug nicht einmal durch sündhaftes,
ja lasterhaftes Wesen schwächen oder gar entkräften könnte. Wie
ist nicht dieser wahrhaft geistige Zusammenhang im Protestantismus
zersplittert! indem ein Teil gedachter Symbole für apokryphisch und nur
wenige für kanonisch erklärt werden, und wie will man uns durch das
Gleichgültige der einen zu der hohen Würde der anderen vorbereiten? Ich
ward zu meiner Zeit bei einem guten, alten, schwachen Geistlichen, der
aber seit vielen Jahren der Beichtvater des Hauses gewesen, in den
Religionsunterricht gegeben. Den Katechismus, eine Paraphrase desselben,
die Heilsordnung wußte ich an den Fingern herzuerzählen, von den kräftig
beweisenden biblischen Sprüchen fehlte mir keiner; aber von alledem
erntete ich keine Frucht; denn als man mir versicherte, daß der brave
alte Mann seine Hauptprüfung nach einer alten Formel einrichte, so
verlor ich alle Lust und Liebe zur Sache, ließ mich die letzten acht
Tage in allerlei Zerstreuungen ein, legte die von einem älteren Freund
erborgten, dem Geistlichen abgewonnenen Blätter in meinen Hut und las
gemüt- und sinnlos alles dasjenige her, was ich mit Gemüt und Überzeugung
wohl zu äußern gewußt hätte. Aber
ich fand meinen guten Willen und mein Aufstreben in diesem wichtigen
Falle durch trocknen, geistlosen Schlendrian noch schlimmer paralysiert,
als ich mich nunmehr dem Beichtstuhle nahen sollte. Ich war mir wohl
mancher Gebrechen, aber doch keiner großen Fehler bewußt, und gerade
das Bewußtsein verringerte sie, weil es mich auf die moralische Kraft
wies, die in mir lag und die mit Vorsatz und Beharrlichkeit doch wohl
zuletzt über den alten Adam Herr werden sollte. Wir waren belehrt, daß
wir eben darum viel besser als die Katholiken seien, weil wir im
Beichtstuhl nichts Besonderes zu bekennen brauchten, ja, daß es auch
nicht einmal schicklich wäre, selbst wenn wir es tun wollten. Dieses
letzte war mir gar nicht recht: denn ich hatte die seltsamsten religiösen
Zweifel, die ich gern bei einer solchen Gelegenheit berichtiget hätte.
Da nun dieses nicht sein sollte, so verfaßte ich mir eine Beichte, die,
indem sie meine Zustände wohl ausdrückte, einem verständigen Manne
dasjenige im allgemeinen bekennen sollte, was mir im einzelnen zu sagen
verboten war. Aber als ich in das alte Barfüßerchor hineintrat, mich
den wunderlichen vergitterten Schränken näherte, in welchen die
geistlichen Herren sich zu diesem Akte einzufinden pflegten, als mir der
Glöckner die Türe eröffnete und ich mich nun gegen meinen geistlichen
Großvater in dem engen Raume eingesperrt sah, und er mich mit seiner
schwachen, näselnden Stimme willkommen hieß, erlosch auf einmal alles
Licht meines Geistes und Herzens, die wohl memorierte Beichtrede wollte
mir nicht über die Lippen, ich schlug in der Verlegenheit das Buch auf,
das ich in Händen haue, und las daraus die erste beste kurze Formel,
die so allgemein war, daß ein jeder sie ganz geruhig hätte aussprechen
können. Ich empfing die Absolution und entfernte mich weder warm noch
kalt, ging den andern Tag mit meinen Eltern zu dem Tische des Herrn, und
betrug mich ein paar Tage, wie es sich nach einer so heiligen Handlung
wohl ziemte. In
der Folge trat jedoch bei mir das Übel hervor, welches aus unserer
durch mancherlei Dogmen komplizierten, auf Bibelsprüche, die mehrere
Auslegungen zulassen, gegründeten Religion bedenkliche Menschen
dergestalt anfällt, daß es hypochondrische Zustände nach sich zieht
und diese, bis zu ihrem höchsten Gipfel, zu fixen Ideen steigert. Ich
habe mehrere Menschen gekannt, die, bei einer ganz verständigen Sinnes-
und Lebensweise, sich von dem Gedanken an die Sünde in den heiligen
Geist und von der Angst, solche begangen zu haben, nicht losmachen
konnten. Ein gleiches Unheil drohte mir in der Materie von dem
Abendmahl. Es hatte nämlich schon sehr früh der Spruch, daß einer,
der das Sakrament unwürdig genieße, sich selbst das Gericht esse und
trinke, einen ungeheueren Eindruck auf mich gemacht. Alles Furchtbare
was ich in den Geschichten der Mittelzeit von Gottesurteilen, den
seltsamsten Prüfungen durch glühendes Eisen, flammendes Feuer,
schwellendes Wasser gelesen hatte, selbst was uns die Bibel von der
Quelle erzählt, die dem Unschuldigen wohl bekommt, den Schuldigen aufbläht
und bersten macht, das alles stellte sich meiner Einbildungskraft dar
und vereinigte sich zu dem höchsten Furchtbaren, indem falsche Zusage,
Heuchelei, Meineid, Gotteslästerung, alles bei der heiligsten Handlung
auf dem Unwürdigen zu lasten schien, welches um so schrecklicher war,
als ja niemand sich für würdig erklären durfte, und man die Vergebung
der Sünden, wodurch zuletzt alles ausgeglichen werden sollte, doch auf
so manche Weise bedingt fand, daß man nicht sicher war, sie sich mit
Freiheit zueignen zu dürfen. Dieser
düstre Skrupel quälte mich dergestalt, und die Auskunft, die man mir
als hinreichend vorstellen wollte, schien mir so kahl und schwach, daß
jenes Schreckbild nur an furchtbarem Ansehen dadurch gewann und ich
mich, sobald ich Leipzig erreicht hatte, von der kirchlichen Verbindung
ganz und gar loszuwinden suchte. Wie drückend mußten mir daher
Gellerts Anmahnungen werden! den ich, bei seiner ohnehin lakonischen
Behandlungsart, womit er unsere Zudringlichkeit abzulehnen genötigt
war, mit solchen wunderlichen Fragen nicht belästigen wollte, um so
weniger, als ich mich derselben in heiteren Stunden selbstschämte, und
zuletzt diese seltsame Gewissensangst mit Kirche und Altar völlig
hinter mir ließ. Gellert
hatte sich nach seinem frommen Gemüt eine Moral aufgesetzt, welche er
von Zeit zu Zeit öffentlich ablas und sich dadurch gegen das Publikum
auf eine ehrenvolle Weise seiner Pflicht entledigte. Gellerts Schriften
waren so lange Zeit schon das Fundament der deutschen sittlichen Kultur,
und jedermann wünschte sehnlich, jenes Werk gedruckt zu sehen, und da
dieses nur nach des guten Mannes Tode geschehen sollte, so hielt man
sich sehr glücklich, es bei seinem Leben von ihm selbst vortragen zu hören.
Das philosophische Auditorium war in solchen Stunden gedrängt voll, und
die schöne Seele, der reine Wille, die Teilnahme des edlen Mannes an
unserem Wohl, seine Ermahnungen, Warnungen und Bitten, in einem etwas
hohlen und traurigen Tone vorgebracht, machten wohl einen
augenblicklichen Eindruck; allein er hielt nicht lange nach, um so
weniger, als sich doch manche Spötter fanden, welche diese weiche und,
wie sie glaubten, entnervende Manier uns verdächtig zu machen wußten.
Ich erinnere mich eines durchreisenden Franzosen, der sich nach den
Maximen und Gesinnungen des Mannes erkundigte, welcher einen so
ungeheueren Zulauf hatte. Als wir ihm den nötigen Bericht gegeben, schüttelte
er den Kopf und sagte lächelnd: "Laissez le faire, il nous forme
des dupes." Und so wußte denn auch die gute Gesellschaft, die
nicht leicht etwas Würdiges in ihrer Nähe dulden kann, den sittlichen
Einfluß, welchen Gellert auf uns haben mochte, gelegentlich zu verkümmern.
Bald wurde es ihm übel genommen, daß er die vornehmen und reichen Dänen,
die ihm besonders empfohlen waren, besser als die übrigen Studierenden
unterrichte, und eine ausgezeichnete Sorge für sie trage; bald wurde es
ihm als Eigennutz und Nepotismus angerechnet, daß er eben für diese
jungen Männer einen Mittagstisch bei seinem Bruder einrichten lassen.
Dieser, ein großer, ansehnlicher, derber, kurz gebundener, etwas roher
Mann, sollte Fechtmeister gewesen sein und, bei allzu großer Nachsicht
seines Bruders, die edlen Tischgenossen manchmal hart und rauh
behandeln; daher glaubte man nun wieder sich dieser jungen Leute
annehmen zu müssen, und zerrte so den guten Namen des trefflichen
Gellert dergestalt hin und wider, daß wir zuletzt, um nicht irre an ihm
zu werden, gleichgültig gegen ihn wurden und uns nicht mehr vor ihm
sehen ließen; doch grüßten wir ihn immer auf das beste, wenn er auf
seinem zahmen Schimmel einhergeritten kam. Dieses Pferd hatte ihm der
Kurfürst geschenkt, um ihn zu einer seiner Gesundheit so nötigen
Bewegung zu verbinden; eine Auszeichnung, die ihm nicht leicht zu
verzeihen war. Und
so rückte nach und nach der Zeitpunkt heran, wo mir alle Autorität
verschwinden und ich selbst an den größten und besten Individuen, die
ich gekannt oder mir gedacht hatte, zweifeln, ja verzweifeln sollte. Friedrich
der Zweite stand noch immer über allen vorzüglichen Männern des
Jahrhunderts in meinen Gedanken, und es mußte mir daher sehr befremdend
vorkommen, daß ich ihn so wenig vor den Einwohnern von Leipzig als
sonst in meinem großväterlichen Hause loben durfte. Sie hatten
freilich die Hand des Krieges schwer gefühlt, und es war ihnen deshalb
nicht zu verargen, daß sie von demjenigen, der ihn begonnen und
fortgesetzt, nicht das Beste dachten. Sie wollten ihn daher wohl für
einen vorzüglichen, aber keineswegs für einen großen Mann gelten
lassen. Es sei keine Kunst, sagten sie, mit großen Mitteln einiges zu
leisten; und wenn man weder Länder, noch Geld, noch Blut schone, so könne
man zuletzt schon seinen Vorsatz ausführen. Friedrich habe sich in
keinem seiner Plane und in nichts, was er sich eigentlich vorgenommen,
groß bewiesen. So lange es von ihm abgehangen, habe er nur immer Fehler
gemacht, und das Außerordentliche sei nur alsdann zum Vorschein
gekommen, wenn er genötigt gewesen, eben diese Fehler wieder
gutzumachen; und bloß daher sei er zu dem großen Rufe gelangt, weil
jeder Mensch sich dieselbige Gabe wünsche, die Fehler, die man häufig
begeht, auf eine geschickte Weise wieder ins gleiche zu bringen. Man dürfe
den Siebenjährigen Krieg nur Schritt vor Schritt durchgehen, so werde
man finden, daß der König seine treffliche Armee ganz unnützer Weise
aufgeopfert und selbst schuld daran gewesen, daß diese verderbliche
Fehde sich so sehr in die Länge gezogen. Ein wahrhaft großer Mann und
Heerführer wäre mit seinen Feinden viel geschwinder fertig geworden.
Sie hatten, um diese Gesinnungen zu behaupten, ein unendliches Detail
anzuführen, welches ich nicht zu leugnen wußte, und nach und nach die
unbedingte Verehrung erkalten fühlte, die ich diesem merkwürdigen Fürsten
von Jugend auf gewidmet hatte. Wie
mich nun die Einwohner von Leipzig um das angenehme Gefühl brachten,
einen großen Mann zu verehren, so verminderte ein neuer Freund, den ich
zu der Zeit gewann, gar sehr die Achtung, welche ich für meine gegenwärtigen
Mitbürger hegte. Dieser Freund war einer der wunderliebsten Käuze, die
es auf der Welt geben kann. Er hieß Behrisch und befand sich als
Hofmeister bei dem jungen Grafen Lindenau. Schon sein Äußeres war
sonderbar genug. Hager und wohlgebaut, weit in den Dreißigen, eine sehr
große Nase und überhaupt markierte Züge; eine Haartour, die man wohl
eine Perücke hätte nennen können, trug er vom Morgen bis in die
Nacht, kleidete sich sehr nett und ging niemals aus, als den Degen an
der Seite und den Hut unter dem Arm. Er war einer von den Menschen, die
eine ganz besondere Gabe haben, die Zeit zu verderben, oder vielmehr,
die aus nichts etwas zu machen wissen, um sie zu vertreiben. Alles, was
er tat, mußte mit Langsamkeit und einem gewissen Anstand geschehen, den
man affektiert hätte nennen können, wenn Behrisch nicht schon von
Natur etwas Affektiertes in seiner Art gehabt hätte. Er ähnelte einem
alten Franzosen, auch sprach und schrieb er sehr gut und leicht französisch.
Seine größte Lust war, sich ernsthaft mit possenhaften Dingen zu beschäftigen,
und irgend einen albernen Einfall bis ins Unendliche zu verfolgen. So
trug er sich beständig grau, und weil die verschiedenen Teile seines
Anzugs von verschiedenen Zeugen und also auch Schattierungen waren, so
konnte er tagelang daraufsinnen, wie er sich noch ein Grau mehr auf den
Leib schaffen wollte, und war glücklich, wenn ihm das gelang und er uns
beschämen konnte, die wir daran gezweifelt oder es für unmöglich erklärt
hatten. Alsdann hielt er uns lange Strafpredigten über unseren Mangel
an Erfindungskraft und über unsern Unglauben an seine Talente. Übrigens
hatte er gute Studien, war besonders in den neueren Sprachen und ihren
Literaturen bewandert und schrieb eine vortreffliche Hand. Mir war er
sehr gewogen, und ich, der ich immer gewohnt und geneigt war, mit älteren
Personen umzugehen, attackierte mich bald an ihn. Mein Umgang diente
auch ihm zur besonderen Unterhaltung, indem er Vergnügen daran fand,
meine Unruhe und Ungeduld zu zähmen, womit ich ihm dagegen auch genug
zu Schaffen machte. In der Dichtkunst hatte er dasjenige, was man
Geschmack nannte, ein gewisses allgemeines Urteil über das Gute und
Schlechte, das Mittelmäßige und Zulässige; doch war sein Urteil mehr
tadelnd, und er zerstörte noch den wenigen Glauben, den ich an
gleichzeitige Schriftsteller bei mir hegte, durch lieblose Anmerkungen,
die er über die Schriften und Gedichte dieses und jenes mit Witz und
Laune vorzubringen wußte. Meine eigenen Sachen nahm er mit Nachsicht
auf und ließ mich gewähren; nur unter der Bedingung, daß ich nichts
sollte drucken lassen. Er versprach mir dagegen, daß er diejenigen Stücke,
die er für gut hielt, selbst abschreiben und in einem schönen Bande
mir verehren wolle. Dieses Unternehmen gab nun Gelegenheit zu dem größtmöglichsten
Zeitverderb. Denn eh er das rechte Papier finden, ehe er mit sich über
das Format einig werden konnte, ehe er die Breite des Randes und die
innere Form der Schrift bestimmt hatte, ehe die Rabenfedern
herbeigeschafft, geschnitten und Tusche eingerieben war, vergingen ganze
Wochen, ohne daß auch das mindeste geschehen wäre. Mit eben solchen
Umständen begab er sich denn jedesmal ans Schreiben, und brachte
wirklich nach und nach ein allerliebstes Manuskript zusammen. Die Titel
der Gedichte waren Fraktur, die Verse selbst von einer stehenden sächsischen
Handschrift, an dem Ende eines jeden Gedichtes eine analoge Vignette,
die er entweder irgendwo ausgewählt oder auch wohl selbst erfunden
hatte, wobei er die Schraffuren der Holzschnitte und Druckerstöcke, die
man bei solcher Gelegenheit braucht, gar zierlich nachzuahmen wußte.
Mir diese Dinge, indem er fortrückte, vorzuzeigen, mir das Glück auf
eine komischpathetische Weise vorzurühmen, daß ich mich in so
vortrefflicher Handschrift verewigt sah, und zwar auf eine Art, die
keine Druckerpresse zu erreichen imstande sei, gab abermals
Veranlassung, die schönsten Stunden durchzubringen. Indessen war sein
Umgang wegen der schönen Kenntnisse, die er besaß, doch immer im
Stillen lehrreich, und, weil er mein unruhiges, heftiges Wesen zu dämpfen
wußte, auch im sittlichen Sinne für mich ganz heilsam. Auch hatte er
einen ganz besonderen Widerwillen gegen alles Rohe, und seine Späße
waren durchaus barock, ohne jemals ins Derbe oder Triviale zu fallen.
Gegen seine Landsleute erlaubte er sich eine fratzenhafte Abneigung, und
schilderte, was sie auch vornehmen mochten, mit lustigen Zügen.
Besonders war er unerschöpflich, einzelne Menschen komisch
darzustellen; wie er denn an dem Äußeren eines jeden etwas auszusetzen
fand. So konnte er sich, wenn wir zusammen am Fenster lagen, stundenlang
beschäftigen, die Vorübergehenden zu rezensieren und, wenn er genugsam
an ihnen getadelt, genau und umständlich anzuzeigen, wie sie sich
eigentlich hätten kleiden sollen, wie sie gehen, wie sie sich betragen
müßten, um als ordentliche Leute zu erscheinen. Dergleichen Vorschläge
liefen meistenteils auf etwas Ungehöriges und Abgeschmacktes hinaus, so
daß man nicht sowohl lachte über das, wie der Mensch aussah, sondern
darüber, wie er allenfalls hätte aussehen können, wenn er verrückt
genug gewesen wäre, sich zu verbilden. In allen solchen Dingen ging er
ganz unbarmherzig zu Werk, ohne daß er nur im mindesten boshaft gewesen
wäre. Dagegen wußten wir ihn von unserer Seite zu quälen, wenn wir
versicherten, daß man ihn nach seinem Äußeren, wo nicht für einen
französischen Tanzmeister, doch wenigstens für den akademischen
Sprachmeister ansehen müsse. Dieser Vorwurf war denn gewöhnlich das
Signal zu stundenlangen Abhandlungen, worin er den himmelweiten
Unterschied herauszusetzen pflegte, der zwischen ihm und einem alten
Franzosen obwalte. Hierbei bürdete er uns gewöhnlich allerlei
ungeschickte Vorschläge auf, die wir ihm zu Veränderung und
Modifizierung seiner Garderobe hätten tun können. Die
Richtung meines Dichtens, das ich nur um desto eifriger trieb, als die
Abschrift schöner und sorgfältiger vorrückte, neigte sich nunmehr gänzlich
zum Natürlichen, zum Wahren; und wenn die Gegenstände auch nicht immer
bedeutend sein konnten, so suchte ich sie doch immer rein und scharf
auszudrücken, um so mehr, als mein Freund mir öfters zu bedenken gab,
was das heißen wolle, einen Vers mit der Rabenfeder und Tusche auf holländisch
Papier schreiben, was dazu für Zeit, Talent und Anstrengung gehöre,
die man an nichts Leeres und Überflüssiges verschwenden dürfe. Dabei
pflegte er gewöhnlich ein fertiges Heft aufzuschlagen und umständlich
auseinander zu setzen, was an dieser oder jener Stelle nicht stehen dürfe,
und uns glücklich zu preisen, daß es wirklich nicht da stehe. Er
sprach hierauf mit großer Verachtung von der Buchdruckerei, agierte den
Setzer, spottete über dessen Gebärden, über das eilige Hin- und
Widergreifen, und leitete aus diesem Manoeuvre alles Unglück der
Literatur her. Dagegen erhob er den Anstand und die edle Stellung eines
Schreibenden, und setzte sich sogleich hin, um sie uns vorzuzeigen,
wobei er uns denn freilich ausschalt, daß wir uns nicht nach seinem
Beispiel und Muster ebenso am Schreibtisch betrügen. Nun kam er wieder
auf den Kontrast mit dem Setzer zurück, kehrte einen angefangenen Brief
das Oberste zu unterst, und zeigte, wie unanständig es sei, etwa von
unten nach oben oder von der Rechten zur Linken zu schreiben, und was
dergleichen Dinge mehr waren, womit man ganze Bände anfüllen könnte. Mit
solchen unschädlichen Torheiten vergeudeten wir die schöne Zeit, wobei
keinem eingefallen wäre, daß aus unserem Kreis zufällig etwas
ausgehen würde, welches allgemeine Sensation erregen und uns nicht in
den besten Leumund bringen sollte. Gellert
mochte wenig Freude an seinem Praktikum haben, und wenn er allenfalls
Lust empfand, einige Anleitung im prosaischen und poetischen Stil zu
geben, so tat er es privatissime nur wenigen, unter die wir uns nicht zählen
durften. Die Lücke, die sich dadurch in dem öffentlichen Unterricht
ergab, gedachte Professor Clodius auszufüllen, der sich im
Literarischen, Kritischen und Poetischen einigen Ruf erworben hatte und
als ein junger, munterer, zutätiger Mann sowohl bei der Akademie als in
der Stadt viel Freunde fand. An die nunmehr von ihm übernommene Stunde
wies uns Gellert selbst, und was die Hauptsache betraf, so merkten wir
wenig Unterschied. Auch er kritisierte nur das einzelne, korrigierte
gleichfalls mit roter Tinte, und man befand sich in Gesellschaft von
lauter Fehlern, ohne eine Aussicht zu haben, worin das Rechte zu suchen
sei? Ich hatte ihm einige von meinen kleinen Arbeiten gebracht, die er
nicht übel behandelte. Allein gerade zu jener Zeit schrieb man mir von
Hause, daß ich auf die Hochzeit meines Oheims notwendig ein Gedicht
liefern müsse. Ich fühlte mich so weit von jener leichten und
leichtfertigen Periode entfernt, in welcher mir ein Ähnliches Freude
gemacht hätte, und da ich der Lage selbst nichts abgewinnen konnte, so
dachte ich meine Arbeit mit äußerlichem Schmuck auf das beste
herauszustutzen. Ich versammelte daher den ganzen Olymp, um über die
Heirat eines Frankfurter Rechtsgelehrten zu ratschlagen; und zwar
ernsthaft genug, wie es sich zum Feste eines solchen Ehrenmanns wohl
schickte. Venus und Themis hatten sich um seinetwillen überworfen; doch
ein schelmischer Streich, den Amor der letzteren spielte, ließ jene den
Prozeß gewinnen, und die Götter entschieden für die Heirat. Die
Arbeit mißfiel mir keineswegs. Ich erhielt von Hause darüber ein schönes
Belobungsschreiben, bemühte mich mit einer nochmaligen guten Abschrift
und hoffte meinem Lehrer doch auch einigen Beifall abzunötigen. Allein
hier hatte ich's schlecht getroffen. Er nahm die Sache streng, und indem
er das Parodistische, was denn doch in dem Einfall lag, gar nicht
beachtete, so erklärte er den großen Aufwand von göttlichen Mitteln
zu einem so geringen menschlichen Zweck für äußerst tadelnswert,
verwies den Gebrauch und Mißbrauch solcher mythologischen Figuren als
eine falsche, aus pedantischen Zeiten sich herschreibende Gewohnheit,
fand den Ausdruck bald zu hoch, bald zu niedrig, und hatte zwar im
einzelnen der roten Tinte nicht geschont, versicherte jedoch, daß er
noch zu wenig getan habe. Solche
Stücke wurden zwar anonym vorgelesen und rezensiert; allein man paßte
einander auf, und es blieb kein Geheimnis, daß diese verunglückte Götterversammlung
mein Werk gewesen sei. Da mir jedoch seine Kritik, wenn ich seinen
Standpunkt annahm, ganz richtig zu sein schien, und jene Gottheiten, näher
besehen, freilich nur hohle Scheingestalten waren, so verwünschte ich
den gesamten Olymp, warf das ganze mythische Pantheon weg, und seit
jener Zeit sind Amor und Luna die einzigen Gottheiten, die in meinen
kleinen Gedichten allenfalls auftreten. Unter
den Personen, welche sich Behrisch zu Zielscheiben seines Witzes erlesen
hatte, stand gerade Clodius obenan; auch war es nicht schwer, ihm eine
komische Seite abzugewinnen. Als eine kleine, etwas starke, gedrängte
Figur war er in seinen Bewegungen heftig, etwas fahrig in seinen Äußerungen
und unstet in seinem Betragen. Durch alles dies unterschied er sich von
seinen Mitbürgern, die ihn jedoch, wegen seiner guten Eigenschaften und
der schönen Hoffnungen, die er gab, recht gern gelten ließen. Man
übertrug ihm gewöhnlich die Gedichte, welche sich bei feierlichen
Gelegenheiten notwendig machten. Er folgte in der sogenannten Ode der
Art, deren sich Ramler bediente, den sie aber auch ganz allein kleidete.
Clodius aber hatte sich als Nachahmer besonders die fremden Worte
gemerkt, wodurch jene Ramlerschen Gedichte mit einem majestätischen
Pompe auftreten, der, weil er der Größe seines Gegenstandes und der übrigen
poetischen Behandlung gemäß ist, auf Ohr, Gemüt und Einbildungskraft
eine sehr gute Wirkung tut. Bei Clodius hingegen erschienen diese Ausdrücke
fremdartig, indem seine Poesie übrigens nicht geeignet war, den Geist
auf irgend eine Weise zu erheben. Solche
Gedichte mußten wir nun oft schön gedruckt und höchlich gelobt vor
uns sehen, und wir fanden es höchst anstößig, daß er, der uns die
heidnischen Götter verkümmert hatte, sich nun eine andere Leiter auf
den Parnaß aus griechischen und römischen Wortsprossen zusammenzimmern
wollte. Diese oft wiederkehrenden Ausdrücke prägten sich fest in unser
Gedächtnis, und zu lustiger Stunde, da wir in den Kohlgärten den
trefflichsten Kuchen verzehrten, fiel mir auf einmal ein, jene Kraft-
und Machtworte in ein Gedicht an den Kuchenbäcker Hendel zu versammeln.
Gedacht, getan! Und so stehe es denn auch hier, wie es an eine Wand des
Hauses mit Bleistift angeschrieben wurde. O
Hendel, dessen Ruhm vom Süd zum Norden reicht, Dieses
Gedicht stand lange Zeit unter so vielen anderen, welche die Wände
jener Zimmer verunzierten, ohne bemerkt zu werden, und wir, die wir uns
genugsam daran ergetzt hatten, vergaßen es ganz und gar über anderen
Dingen. Geraume Zeit hernach trat Clodius mit seinem "Medon"
hervor, dessen Weisheit, Großmut und Tugend wir unendlich lächerlich
fanden, so sehr auch die erste Vorstellung des Stücks beklatscht wurde.
Ich machte gleich abends, als wir zusammen in unser Weinhaus kamen,
einen Prolog in Knittelversen, wo Arlekin mit zwei großen Säcken
auftritt, sie an beide Seiten des Proszeniums stellt und nach
verschiedenen vorläufigen Späßen den Zuschauern vertraut, daß in den
beiden Säcken moralisch-ästhetischer Sand befindlich sei, den ihnen
die Schauspieler sehr häufig in die Augen werfen würden. Der eine sei
nämlich mit Wohltaten gefüllt, die nichts kosteten, und der andere mit
prächtig ausgedrückten Gesinnungen, die nichts hinter sich hätten. Er
entfernte sich ungern und kam einigemal wieder, ermahnte die Zuschauer
ernstlich, sich an seine Warnung zu kehren und die Augen zuzumachen,
erinnerte sie, wie er immer ihr Freund gewesen und es gut mit ihnen
gemeint, und was dergleichen Dinge mehr waren. Dieser Prolog wurde auf
der Stelle von Freund Horn im Zimmer gespielt, doch blieb der Spaß ganz
unter uns, es ward nicht einmal eine Abschrift genommen und das Papier
verlor sich bald. Horn jedoch, der den Arlekin ganz artig vorgestellt
hatte, ließ sichs einfallen, mein Gedicht an Hendel um mehrere Verse zu
erweitern und es zunächst auf den "Medon" zu beziehen. Er las
es uns vor, und wir konnten keine Freude daran haben, weil wir die Zusätze
nicht eben geistreich fanden, und das erste, in einem ganz anderen Sinn
geschriebene Gedicht uns entstellt vorkam. Der Freund, unzufrieden über
unsere Gleichgültigkeit, ja unseren Tadel, mochte es anderen vorgezeigt
haben, die es neu und lustig fanden. Nun machte man Abschriften davon,
denen der Ruf des Clodiusischen "Medons" sogleich eine
schnelle Publizität verschaffte. Allgemeine Mißbilligung erfolgte
hierauf, und die Urheber (man hatte bald erfahren, daß es aus unserer
Clique hervorgegangen war) wurden höchlich getadelt: denn seit Cronegks
und Rosts Angriffen auf Gottsched war dergleichen nicht wieder
vorgekommen. Wir hatten uns ohnehin früher schon zurückgezogen, und
nun befanden wir uns gar im Falle der Schuhus gegen die übrigen Vögel.
Auch in Dresden mochte man die Sache nicht gut finden, und hatte sie für
uns, wo nicht unangenehme, doch ernste Folgen. Der Graf Lindenau war
schon eine Zeitlang mit dem Hofmeister seines Sohnes nicht ganz
zufrieden. Denn obgleich der junge Mann keineswegs vernachlässigt wurde
und Behrisch sich entweder in dem Zimmer des jungen Grafen oder
wenigstens daneben hielt, wenn die Lehrmeister ihre täglichen Stunden
gaben, die Kollegja mit ihm sehr ordentlich frequentierte, bei Tage
nicht ohne ihn ausging, auch denselben auf allen Spaziergängen
begleitete; so waren wir andern doch auch immer in Apels Hause zu finden
und zogen mit, wenn man lustwandelte; das machte schon einiges Aufsehen.
Behrisch gewöhnte sich auch an uns, gab zuletzt meistenteils abends
gegen neun Uhr seinen Zögling in die Hände des Kammerdieners und
suchte uns im Weinhause auf, wohin er jedoch niemals anders als in
Schuhen und Strümpfen, den Degen an der Seite und gewöhnlich den Hut
unterm Arm zu kommen pflegte. Die Späße und Torheiten, die er
insgemein angab, gingen ins Unendliche. So hatte z.B. einer unserer
Freunde die Gewohnheit, Punkt zehne wegzugehen, weil er mit einem hübschen
Kinde in Verbindung stand, mit welchem er sich nur um diese Zeit
unterhalten konnte. Wir vermißten ihn ungern, und Behrisch nahm sich
eines Abends, wo wir sehr vergnügt zusammen waren, im stillen vor, ihn
diesmal nicht wegzulassen. Mit dem Schlage zehn stand jener auf und
empfahl sich. Behrisch rief ihn an und bat, einen Augenblick zu warten,
weil er gleich mitgehen wolle. Nun begann er auf die unmutigste Weise
erst nach seinem Degen zu suchen, der doch ganz vor den Augen stand, und
gebärdete sich beim Aufschnallen desselben so ungeschickt, daß er
damit niemals zustande kommen konnte. Er machte es auch anfangs so natürlich,
daß niemand ein Arges dabei hatte. Als er aber, um das Thema zu
variieren, zuletzt weiter ging, daß der Degen bald auf die rechte
Seite, bald zwischen die Beine kam, so entstand ein allgemeines Gelächter,
in das der Forteilende, welcher gleichfalls ein lustiger Geselle war,
mit einstimmte, und Behrisch so lange gewähren ließ, bis die Schäferstunde
vorüber war da denn nun erst eine gemeinsame Lust und vergnügliche
Unterhaltung bis tief in die Nacht erfolgte. Unglücklicherweise
hatte Behrisch, und wir durch ihn, noch einen gewissen anderen Hang zu
einigen Mädchen, welche besser waren als ihr Ruf; wodurch denn aber
unser Ruf nicht gefördert werden konnte. Man hatte uns manchmal in
ihrem Garten gesehen, und wir lenkten auch wohl unsern Spaziergang
dahin, wenn der junge Graf dabei war. Dieses alles mochte zusammen
aufgespart und dem Vater zuletzt berichtet worden sein: genug, er suchte
auf eine glimpfliche Weise den Hofmeister los zu werden, dem es jedoch
zum Glück gereichte. Sein gutes Äußere, seine Kenntnisse und Talente,
seine Rechtschaffenheit, an der niemand etwas auszusetzen wußte, hatten
ihm die Neigung und Achtung vorzüglicher Personen erworben, auf deren
Empfehlung er zu dem Erbprinzen von Dessau als Erzieher berufen wurde,
und an dem Hofe eines in jeder Rücksicht trefflichen Fürsten ein
solides Glück fand. Der
Verlust eines Freundes, wie Behrisch, war für mich von der größten
Bedeutung. Er hatte mich verzogen, indem er mich bildete, und seine
Gegenwart war nötig, wenn das einigermaßen für die Sozietät Frucht
bringen sollte, was er an mich zu wenden für gut gefunden hatte. Er wußte
mich zu allerlei Artigem und Schicklichem zu bewegen, was gerade am
Platz war, und meine geselligen Talente herauszusetzen. Weil ich aber in
solchen Dingen keine Selbständigkeit erworben hatte, so fiel ich
gleich, da ich wieder allein war, in mein wirriges, störrisches Wesen
zurück, welches immer zunahm, je unzufriedener ich über meine Umgebung
war, indem ich mir einbildete, daß sie nicht mit mir zufrieden sei. Mit
der willkürlichsten Laune nahm ich übel auf, was ich mir hätte zum
Vorteil rechnen können, entfernte manchen dadurch, mit dem ich bisher
in leidlichem Verhältnis gestanden hatte, und mußte bei mancherlei
Widerwärtigkeiten, die ich mir und anderen, es sei nun im Tun oder
Unterlassen, im Zuviel oder Zuwenig, zugezogen hatte, von Wohlwollenden
die Bemerkung hören, daß es mir an Erfahrung fehle. Das gleiche sagte
mir wohl irgend ein Gutdenkender, der meine Produktionen sah, besonders
wenn sie sich auf die Außenwelt bezogen. Ich beobachtete diese, so gut
ich konnte, fand aber daran wenig Erbauliches, und mußte noch immer
genug von dem Meinigen hinzutun, um sie nur erträglich zu finden. Auch
meinem Freunde Behrisch hatte ich manchmal zugesetzt, er solle mir
deutlich machen, was Erfahrung sei? Weil er aber voller Torheiten
steckte, so vertröstete er mich von einem Tage zum anderen und eröffnete
mir zuletzt, nach so großen Vorbereitungen: die wahre Erfahrung sei
ganz eigentlich, wenn man erfahre, wie ein Erfahrner die Erfahrung
erfahrend erfahren müsse. Wenn wir ihn nun hierüber äußerst
ausschalten und zur Rede setzten, so versicherte er, hinter diesen
Worten stecke ein großes Geheimnis, das wir alsdann erst begreifen würden,
wenn wir erfahren hätten, - und immer so weiter: denn es kostete ihm
nichts, Viertelstunden lang so fortzusprechen; da denn das Erfahren
immer erfahrner und zuletzt zur wahrhaften Erfahrung werden würde.
Wollten wir über solche Possen verzweifeln, so beteuerte er, daß er
diese Art, sich deutlich und eindrücklich zu machen, von den neusten
und größten Schriftstellern gelernt, welche uns aufmerksam gemacht,
wie man eine ruhige Ruhe ruhen und wie die Stille im Stillen immer
stiller werden könnte. Zufälligerweise
rühmte man in guter Gesellschaft einen Offizier, der sich unter uns auf
Urlaub befand, als einen vorzüglich wohldenkenden und erfahrnen Mann,
der den Siebenjährigen Krieg mitgefochten und sich ein allgemeines
Zutrauen erworben habe. Es fiel nicht schwer, mich ihm zu nähern, und
wir spazierten öfters miteinander. Der Begriff von Erfahrung war beinah
fix in meinem Gehirne geworden, und das Bedürfnis, mir ihn klar zu
machen, leidenschaftlich. Offenmütig wie ich war, entdeckte ich ihm die
Unruhe, in der ich mich befand. Er lächelte und war freundlich genug,
mir, im Gefolg meiner Fragen, etwas von seinem Leben und von der nächsten
Welt überhaupt zu erzählen, wobei freilich zuletzt wenig Besseres
herauskam, als daß die Erfahrung uns überzeuge, daß unsere besten
Gedanken, Wünsche und Vorsätze unerreichbar seien, und daß man
denjenigen, welcher dergleichen Grillen hege und sie mit Lebhaftigkeit
äußere, vornehmlich für einen unerfahrnen Menschen halte. Da
er jedoch ein wackerer, tüchtiger Mann war, so versicherte er mir, er
habe diese Grillen selbst noch nicht ganz aufgegeben, und befinde sich
bei dem wenigen Glaube, Liebe und Hoffnung, was ihm übrig geblieben,
noch ganz leidlich. Er mußte mir darauf vieles vom Krieg erzählen, von
der Lebensweise im Feld, von Scharmützeln und Schlachten, besonders
insofern er Anteil daran genommen; da denn diese ungeheueren Ereignisse,
indem sie auf ein einzelnes Individuum bezogen wurden, ein gar
wunderliches Ansehen gewannen. Ich bewog ihn alsdann zu einer offenen
Erzählung der kurz vorher bestandenen Hofverhältnisse, welche ganz märchenhaft
zu sein schienen. Ich hörte von der körperlichen Stärke Augusts des
Zweiten, den vielen Kindern desselben und seinem ungeheueren Aufwand,
sodann von des Nachfolgers Kunst- und Sammlungslust, vom Grafen Brühl
und dessen grenzenloser Prunkliebe, deren einzelnes beinahe abgeschmackt
erschien, von so viel Festen und Prachtergetzungen, welche sämtlich
durch den Einfall Friedrichs in Sachsen abgeschnitten worden. Nun lagen
die königlichen Schlösser zerstört, die Brühlschen Herrlichkeiten
vernichtet, und es war von allem nur ein sehr beschädigtes herrliches
Land übrig geblieben. Als
er mich über jenen unsinnigen Genuß des Glücks verwundert, und sodann
über das erfolgte Unglück betrübt sah, und mich bedeutete, wie man
von einem erfahrnen Manne geradezu verlange, daß er über keins von
beiden erstaunen, noch daran einen zu lebhaften Anteil nehmen solle; so
fühlte ich große Lust, in meiner bisherigen Unerfahrenheit noch eine
Weile zu verharren, worin er mich denn bestärkte und recht
ungelegentlich bat, ich möchte mich, bis auf weiteres, immer an die
angenehmen Erfahrungen halten und die unangenehmen so viel als möglich
abzulehnen suchen, wenn sie sich mir aufdringen sollten. Einst aber, als
wieder im allgemeinen die Rede von Erfahrung war, und ich ihm jene
possenhaften Phrasen des Freundes Behrisch erzählte, schüttelte er lächelnd
den Kopf und sagte: "Da sieht man, wie es mit Worten geht, die nur
einmal ausgesprochen sind! Diese da klingen so neckisch, ja so albern,
daß es fast unmöglich scheinen dürfte, einen vernünftigen Sinn
hineinzulegen; und doch ließe sich vielleicht ein Versuch machen." Und
als ich in ihn drang, versetzte er mit seiner verständig heiteren
Weise: "Wenn Sie mir erlauben, indem ich Ihren Freund kommentiere
und suppliere, in seiner Art fortzufahren, so dünkt mich, er habe sagen
wollen, daß die Erfahrung nichts anderes sei, als daß man erfährt,
was man nicht zu erfahren wünscht, worauf es wenigstens in dieser Welt
meistens hinausläuft."
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