http://goethe.odysseetheater.com |
Johann Wolfgang
|
Dreizehntes BuchMit
Merck war verabredet, daß wir uns zur schönen Jahrszeit in Koblenz bei
Frau von La Roche treffen wollten. Ich hatte mein Gepäck nach
Frankfurt, und was ich unterwegs brauchen könnte, durch eine
Gelegenheit die Lahn hinunter gesendet, und wanderte nun diesen schönen,
durch seine Krümmungen lieblichen, in seinen Ufern so mannigfaltigen
Fluß hinunter, dem Entschluß nach frei, dem Gefühle nach befangen, in
einem Zustande, in welchem uns die Gegenwart der stummlebendigen Natur
so wohltätig ist. Mein Auge, geübt, die malerischen und übermalerischen
Schönheiten der Landschaft zu entdecken, schwelgte in Betrachtung der Nähen
und Fernen, der bebuschten Felsen, der sonnigen Wipfel, der feuchten
Grunde, der thronenden Schlösser und der aus der Ferne lockenden blauen
Bergreihen. Ich
wanderte auf dem rechten Ufer des Flusses, der in einiger Tiefe und
Entfernung unter mir, von reichem Weidengebüsch zum Teil verdeckt, im
Sonnenlicht hingleitete. Da stieg in mir der alte Wunsch wieder auf,
solche Gegenstände würdig nachahmen zu können. Zufällig hatte ich
ein schönes Taschenmesser in der linken Hand, und in dem Augenblicke
trat aus dem tiefen Grunde der Seele gleichsam befehlshaberisch hervor:
ich sollte dies Messer ungesäumt in den Fluß schleudern. Sähe ich es
hineinfallen, so würde mein künstlerischer Wunsch erfüllt werden; würde
aber das Eintauchen des Messers durch die überhängenden Weidenbüsche
verdeckt, so sollte ich Wunsch und Bemühung fahren lassen. So schnell,
als diese Grille in mir aufstieg, war sie auch ausgeführt. Denn ohne
auf die Brauchbarkeit des Messers zu sehn, das gar manche Gerätschaften
in sich vereinigte, schleuderte ich es mit der Linken, wie ich es hielt,
gewaltsam nach dem Flusse hin. Aber auch hier mußte ich die trügliche
Zweideutigkeit der Orakel, über die man sich im Altertum so bitter
beklagt, erfahren. Des Messers Eintauchen in den Fluß ward mir durch
die letzten Weidenzweige verborgen, aber das dem Sturz entgegenwirkende
Wasser sprang wie eine starke Fontäne in die Höhe, und war mir
vollkommen sichtbar. Ich legte diese Erscheinung nicht zu meinen Gunsten
aus, und der durch sie in mir erregte Zweifel war in der Folge schuld,
daß ich diese Übungen unterbrochner und fahrlässiger anstellte, und
dadurch selbst Anlaß gab, daß die Deutung des Orakels sich erfüllte.
Wenigstens war mir für den Augenblick die Außenwelt verleidet, ich
ergab mich meinen Einbildungen und Empfindungen, und ließ die
wohlgelegenen Schlösser und Ortschaften Weilburg, Limburg, Diez und
Nassau nach und nach hinter mir, meistens allein, nur manchmal auf kurze
Zeit mich zu einem andern gesellend. Nach
einer so angenehmen Wanderung von einigen Tagen gelangte ich nach Ems,
wo ich einige Male des sanften Bades genoß, und sodann auf einem Kahne
den Fluß hinabwärts fuhr. Da eröffnete sich mir der alte Rhein, die
schöne Lage von Oberlahnstein entzückte mich; über alles aber
herrlich und majestätisch erschien das Schloß Ehrenbreitstein, welches
in seiner Kraft und Macht, vollkommen gerüstet, dastand. In höchst
lieblichem Kontrast lag an seinem Fuß das wohlgebaute Örtchen, Thal
genannt, wo ich mich leicht zu der Wohnung des Geheimenrats von La Roche
finden konnte. Angekündigt von Merck, ward ich von dieser edlen Familie
sehr freundlich empfangen, und geschwind als ein Glied derselben
betrachtet. Mit der Mutter verband mich mein belletristisches und
sentimentales Streben, mit dem Vater ein heiterer Weltsinn, und mit den
Töchtern meine Jugend. Das
Haus, ganz am Ende des Tals, wenig erhöht über dem Fluß gelegen,
hatte die freie Aussicht den Strom hinabwärts. Die Zimmer waren hoch
und geräumig, und die Wände galerieartig mit aneinanderstoßenden Gemälden
behangen. Jedes Fenster, nach allen Seiten hin, machte den Rahmen zu
einem natürlichen Bilde, das durch den Glanz einer milden Sonne sehr
lebhaft hervortrat; ich glaubte nie so heitere Morgen und so herrliche
Abende gesehn zu haben. Nicht
lange war ich allein der Gast im Hause. Zu dem Kongreß, der hier teils
im artistischen, teils im empfindsamen Sinne gehalten werden sollte, war
auch Leuchsenring beschieden, der von Düsseldorf heraufkam. Dieser
Mann, von schönen Kenntnissen in der neuern Literatur, hatte sich auf
verschiedenen Reisen, besonders aber bei einem Aufenthalte in der
Schweiz, viele Bekanntschaften und, da er angenehm und einschmeichelnd
war, viele Gunst erworben. Er führte mehrere Schatullen bei sich,
welche den vertrauten Briefwechsel mit mehreren Freunden enthielten:
denn es war überhaupt eine so allgemeine Offenherzigkeit unter den
Menschen, daß man mit keinem einzelnen sprechen, oder an ihn schreiben
konnte, ohne es zugleich als an mehrere gerichtet zu betrachten. Man spähte
sein eigen Herz aus und das Herz der andern, und bei der Gleichgültigkeit
der Regierungen gegen eine solche Mitteilung, bei der durchgreifenden
Schnelligkeit der Taxisschen Posten, der Sicherheit des Siegels, dem
leidlichen Porto griff dieser sittliche und literarische Verkehr bald
weiter um sich. Solche
Korrespondenzen, besonders mit bedeutenden Personen, wurden sorgfältig
gesammelt und alsdann, bei freundschaftlichen Zusammenkünften,
auszugsweise vorgelesen; und so ward man, da politische Diskurse wenig
Interesse hatten, mit der Breite der moralischen Welt ziemlich bekannt. Leuchsenrings
Schatullen enthielten in diesem Sinne manche Schätze. Die Briefe einer
Julie Bondeli wurden sehr hoch geachtet; sie war, als Frauenzimmer von
Sinn und Verdienst und als Rousseaus Freundin, berühmt. Wer mit diesem
außerordentlichen Manne nur irgend in Verhältnis gestanden hatte, genoß
teil an der Glorie, die von ihm ausging, und in seinem Namen war eine
stille Gemeinde weit und breit ausgesäet. Ich
wohnte diesen Vorlesungen gerne bei, indem ich dadurch in eine
unbekannte Welt versetzt wurde, und das Innere mancher kurz vergangenen
Begebenheit kennen lernte. Freilich war nicht alles gehaltreich; und
Herr von La Roche, ein heiterer Welt- und Geschäftsmann, der sich,
obgleich Katholik, schon in Schriften über das Mönch- und Pfafftum
lustig gemacht hatte, glaubte auch hier eine Verbrüderung zu sehen, wo
mancher einzelne ohne Wert sich durch Verbindung mit bedeutenden
Menschen aufstutze, wobei am Ende wohl er, aber nicht jene gefördert würden.
Meistens entzog sich dieser wackere Mann der Gesellschaft, wenn die
Schatullen eröffnet wurden. Hörte er auch wohl einmal einige Briefe
mit an, so konnte man eine schalkhafte Bemerkung erwarten. Unter andern
sagte er einstens, er überzeuge sich bei dieser Korrespondenz noch mehr
von dem, was er immer geglaubt habe, daß Frauenzimmer alles Siegellack
sparen könnten, sie sollten nur ihre Briefe mit Stecknadeln zustecken
und dürften versichert sein, daß sie uneröffnet an Ort und Stelle kämen.
Auf gleiche Weise pflegte er mit allem, was außer dem Lebens- und Tätigkeitskreise
lag, zu scherzen und folgte hierin der Sinnesart seines Herrn und
Meisters, des Grafen Stadion, kurmainzischen Ministers, welcher gewiß
nicht geeignet war, den Welt- und Kaltsinn des Knaben durch Ehrfurcht
vor irgend einem Ahndungsvollen ins Gleichgewicht zu setzen. Eine
Anekdote von dem großen praktischen Sinne des Grafen hingegen möge
hier Platz finden. Als er den verwaisten La Roche lieb gewann und zu
seinem Zögling erkor, forderte er von dem Knaben gleich die Dienste
eines Sekretärs. Er gab ihm Briefe zu beantworten, Depeschen
auszuarbeiten, die denn auch von ihm mundiert, öfter chiffriert,
gesiegelt und überschrieben werden mußten. Dieses dauerte mehrere
Jahre. Als der Knabe zum Jüngling herangereift war und dasjenige
wirklich leistete, was er sich bisher nur eingebildet hatte, führte ihn
der Graf an einen großen Schreibtisch, in welchem sämtliche Briefe und
Pakete, unerbrochen, als Exerzitien der erstem Zeit, aufbewahrt lagen. Eine
andere Übung, die der Graf seinem Zögling zumutete, wird nicht so
allgemeinen Beifall finden. La Roche nämlich hatte sich üben müssen,
die Hand seines Herrn und Meisters aufs genauste nachzuahmen, um ihn
dadurch der Qual des Selbstschreibens zu überheben. Allein nicht nur in
Geschäften sollte dieses Talent genutzt werden, auch in Liebeshändeln
hatte der junge Mann die Stelle seines Lehrers zu vertreten. Der Graf
war leidenschaftlich einer hohen und geistreichen Dame verbunden. Wenn
er in deren Gesellschaft bis tief in die Nacht verweilte, saß indessen
sein Sekretär zu Hause und schmiedete die heißesten Liebesbriefe;
darunter wählte der Graf und sendete noch gleich zur Nachtzeit das
Blatt an seine Geliebte, welche sich denn doch wohl daran von dem unverwüstlichen
Feuer ihres leidenschaftlichen Anbeters überzeugen mußte. Dergleichen
frühe Erfahrungen mochten denn freilich dem Jüngling nicht den besten
Begriff von schriftlichen Liebesunterhaltungen gegeben haben. Ein
unversöhnlicher Haß gegen das Pfafftum hatte sich bei diesem Manne,
der zwei geistlichen Kurfürsten diente, festgesetzt, wahrscheinlich
entsprungen aus der Betrachtung des rohen, geschmacklosen,
geistverderblichen Fratzenwesens, welches die Mönche in Deutschland an
manchen Orten zu treiben pflegten, und dadurch eine jede Art von Bildung
hinderten und zerstörten. Seine "Briefe über das Mönchswesen
" machten großes Aufsehen; sie wurden von allen Protestanten und
von vielen Katholiken mit großem Beifall aufgenommen. Wenn
sich aber Herr von La Roche gegen alles, was man Empfindung nennen könnte,
auflehnte, und wenn er selbst den Schein derselben entschieden von sich
abhielt, so verhehlte er doch nicht eine väterlich zarte Neigung zu
seiner ältesten Tochter, welche freilich nicht anders als liebenswürdig
war: eher klein als groß von Gestalt, niedlich gebaut; eine freie
anmutige Bildung, die schwärzesten Augen und eine Gesichtsfarbe, die
nicht reiner und blühender gedacht werden konnte. Auch sie liebte ihren
Vater und neigte sich zu seinen Gesinnungen. Ihm, als tätigem Geschäftsmann,
war die meiste Zeit durch Berufsarbeiten weggenommen, und weil die
einkehrenden Gäste eigentlich durch seine Frau und nicht durch ihn
angezogen wurden, so konnte ihm die Gesellschaft wenig Freude geben. Bei
Tische war er heiter, unterhaltend, und suchte wenigstens seine Tafel
von der empfindsamen Würze frei zu halten. Wer
die Gesinnungen und die Denkweise der Frau von La Roche kennt- und sie
ist durch ein langes Leben und viele Schriften einem jeden Deutschen
ehrwürdig bekannt geworden-, der möchte vielleicht vermuten, daß
hieraus ein häusliches Mißverhältnis hätte entstehn müssen. Aber
keineswegs! Sie war die wunderbarste Frau, und ich wüßte ihr keine
andre zu vergleichen. Schlank und zart gebaut, eher groß als klein,
hatte sie bis in ihre höheren Jahre eine gewisse Eleganz der Gestalt
sowohl als des Betragens zu erhalten gewußt, die zwischen dem Benehmen
einer Edeldame und einer würdigen bürgerlichen Frau gar anmutig
schwebte. Im Anzuge war sie sich mehrere Jahre gleich geblieben. Ein
nettes Flügelhäubchen stand dem kleinen Kopfe und dem feinen Gesichte
gar wohl, und die braune oder graue Kleidung gab ihrer Gegenwart Ruhe
und Würde. Sie sprach gut und wußte dem, was sie sagte, durch
Empfindung immer Bedeutung zu geben. Ihr Betragen war gegen jedermann
vollkommen gleich. Allein durch dieses alles ist noch nicht das Eigenste
ihres Wesens ausgesprochen; es zu bezeichnen ist schwer. Sie schien an
allem teilzunehmen, aber im Grunde wirkte nichts auf sie. Sie war mild
gegen alles und konnte alles dulden, ohne zu leiden; den Scherz ihres
Mannes, die Zärtlichkeit ihrer Freunde, die Anmut ihrer Kinder, alles
erwiderte sie auf gleiche Weise, und so blieb sie immer sie selbst, ohne
daß ihr in der Welt durch Gutes und Böses, oder in der Literatur durch
Vortreffliches und Schwaches wäre beizukommen gewesen. Dieser Sinnesart
verdankt sie ihre Selbstständigkeit bis in ein hohes Alter, bei manchen
traurigen, ja kümmerlichen Schicksalen. Doch um nicht ungerecht zu
sein, muß ich erwähnen, daß ihre beiden Söhne, damals Kinder von
blendender Schönheit, ihr manchmal einen Ausdruck ablockten, der sich
von demjenigen unterschied, dessen sie sich zum täglichen Gebrauch
bediente. So
lebte ich in einer neuen wundersam angenehmen Umgebung eine Zeitlang
fort, bis Merck mit seiner Familie herankam. Hier entstanden sogleich
neue Wahlverwandtschaften: denn indem die beiden Frauen sich einander näherten,
hatte Merck mit Herrn von La Roche als Welt- und Geschäftskenner, als
unterrichtet und gereist, nähere Berührung. Der Knabe gesellte sich zu
den Knaben, und die Töchter fielen mir zu, von denen die älteste mich
gar bald besonders anzog. Es ist eine sehr angenehme Empfindung, wenn
sich eine neue Leidenschaft in uns zu regen anfängt, ehe die alte noch
ganz verklungen ist. So sieht man bei untergehender Sonne gern auf der
entgegengesetzten Seite den Mond aufgehn und erfreut sich an dem
Doppelglanze der beiden Himmelslichter. Nun
fehlte es nicht an reicher Unterhaltung in und außer dem Hause. Man
durchstrich die Gegend; Ehrenbreitstein diesseits, die Kartause jenseits
wurden bestiegen. Die Stadt, die Moselbrücke, die Fähre, die uns über
den Rhein brachte, alles gewährte das mannigfachste Vergnügen. Noch
nicht erbaut war das neue Schloß; man führte uns an den Platz, wo es
stehn sollte, man ließ uns die vorschlägigen Risse davon sehen. In
diesem heiterem Zustande entwickelte sich jedoch innerlich der Stoff der
Unverträglichkeit, der in gebildeten wie in ungebildeten Gesellschaften
gewöhnlich seine unfreundlichen Wirkungen zeigt. Merck, zugleich kalt
und unruhig, hatte nicht lange jene Briefwechsel mit angehört, als er
über die Dinge, von denen die Rede war, sowie über die Personen und
ihre Verhältnisse gar manchen schalkhaften Einfall laut werden ließ,
mir aber im stillen die wunderlichsten Dinge eröffnete, die eigentlich
darunter verborgen sein sollten. Von politischen Geheimnissen war zwar
keineswegs die Rede, auch nicht von irgend etwas, das einen gewissen
Zusammenhang gehabt hätte; er machte mich nur auf Menschen aufmerksam,
die, ohne sonderliche Talente, mit einem gewissen Geschick sich persönlichen
Einfluß zu verschaffen wissen, und durch die Bekanntschaft mit vielen
aus sich selbst etwas zu bilden suchen; und von dieser Zeit an hatte ich
Gelegenheit, dergleichen mehr zu bemerken. Da solche Personen gewöhnlich
den Ort verändern, und als Reisende bald hier bald da eintreffen, so
kommt ihnen die Gunst der Neuheit zugute, die man ihnen nicht beneiden
noch verkümmern sollte: denn es ist dieses eine herkömmliche Sache,
die jeder Reisende zu seinem Vorteil, jeder Bleibende zu seinem Nachteil
öfters erfahren hat. Dem
sei nun wie ihm wolle, genug, wir nährten von jener Zeit an eine
gewisse unruhige, ja neidische Aufmerksamkeit auf dergleichen Leute, die
auf ihre eigne Hand hin und wider zogen, sich in jeder Stadt vor Anker
legten, und wenigstens in einigen Familien Einfluß zu gewinnen suchten.
Einen zarten und weichen dieser Zunftgenossen habe ich im "Pater
Brey ", einen andern, tüchtigern und derbern, in einem künftig
mitzuteilenden Fastnachtsspiele, das den Titel führt: "Satyros,
oder der vergötterte Waldteufel ", wo nicht mit Billigkeit, doch
wenigstens mit gutem Humor dargestellt. Indessen
wirkten die wunderlichen Elemente unserer kleinen Gesellschaft noch so
ganz leidlich auf einander; wir waren teils durch eigne Sitte und
Lebensart gebändigt, teils aber auch durch jene besondere Weise der
Hausfrau gemildert, welche, von dem, was um sie vorging, nur leicht berührt,
sich immer gewissen ideellen Vorstellungen hingab, und, indem sie solche
freundlich und wohlwollend zu äußern verstand, alles Scharfe, was in
der Gesellschaft hervortreten mochte, zu mildern und das Unebne
auszugleichen wußte. Merck
hatte noch eben zur rechten Zeit zum Aufbruch geblasen, so daß die
Gesellschaft in dem besten Verhältnis aus einander ging. Ich fuhr mit
ihm und den Seinigen auf einer nach Mainz rückkehrenden Jacht den Rhein
aufwärts, und obschon dieses an sich sehr langsam ging, so ersuchten
wir noch überdies den Schiffer, sich ja nicht zu übereilen. So
genossen wir mit Muße der unendlich mannigfaltigen Gegenstände, die,
bei dem herrlichsten Wetter, jede Stunde an Schönheit zuzunehmen und
sowohl an Größe als an Gefälligkeit immer neu zu wechseln scheinen;
und ich wünsche nur, indem ich die Namen Rheinfels und St. Goar,
Bacharach, Bingen, Elfeld und Biebrich ausspreche, daß jeder meiner
Leser im Stande sei, sich diese Gegenden in der Erinnerung
hervorzurufen. Wir
hatten fleißig gezeichnet, und uns wenigstens dadurch die tausendfältige
Abwechselung jenes herrlichen Ufers fester eingedruckt; aber auch unser
Verhältnis verinnigte sich durch dieses längere Zusammensein, durch
die vertrauliche Mitteilung über so mancherlei Dinge, dergetalt, daß
Merck einen großen Einfluß über mich gewann, und ich ihm als ein
guter Gesell zu einem behaglichen Dasein unentbehrlich ward. Mein durch
die Natur geschärfter Blick warf sich wieder auf die Kunstbeschauung,
wozu mir die schönen Frankfurter Sammlungen an Gemälden und
Kupferstichen die beste Gelegenheit gaben, und ich bin der Neigung der
Herren Ettling, Ehrenreich, besonders aber dem braven Nothnagel sehr
viel schuldig geworden. Die Natur in der Kunst zu sehen, ward bei mir zu
einer Leidenschaft, die in ihren höchsten Augenblicken andern, selbst
passionierten Liebhabern, fast wie Wahnsinn erscheinen mußte; und wie
konnte eine solche Neigung besser gehegt werden, als durch eine
fortdauernde Betrachtung der trefflichen Werke der Niederländer. Damit
ich mich aber auch mit diesen Dingen werktätig bekannt machen möchte,
räumte mir Nothnagel ein Kabinett ein, wo ich alles fand, was zur Ölmalerei
nötig war, und ich malte einige einfache Stilleben nach dem Wirklichen,
auf deren einem ein Messerstiel von Schildpatt, mit Silber eingelegt,
meinen Meister, der mich erst vor einer Stunde besucht hatte, dergestalt
überraschte, daß er behauptete, es müsse während der Zeit einer von
seinen untergeordneten Künstlern bei mir gewesen sein. Hätte
ich geduldig fortgefahren, mich an solchen Gegenständen zu üben, ihnen
Licht und Schatten und die Eigenheiten ihrer Oberfläche abzugewinnen,
ich hätte mir eine gewisse Praxis bilden und zum Höheren den Weg
bahnen können; so aber verfolgte mich der Fehler aller Dilettanten, mit
dem Schwersten anzufangen, ja sogar das Unmögliche leisten zu wollen,
und ich verwickelte mich bald in größere Unternehmungen, in denen ich
stecken blieb, sowohl weil sie weit über meine technischen Fähigkeiten
hinauslagen, als weil ich die liebevolle Aufmerksamkeit und den
gelassenen Fleiß, durch den auch schon der Anfänger etwas leistet,
nicht immer rein und wirksam erhalten konnte. Auch
wurde ich zu gleicher Zeit abermals in eine höhere Sphäre gerissen,
indem ich einige schöne Gipsabgüsse antiker Köpfe anzuschaffen
Gelegenheit fand. Die Italiener nämlich, welche die Messen beziehn,
brachten manchmal dergleichen gute Exemplare mit, und verkauften sie
auch wohl, nachdem sie eine Form darüber genommen. Auf diesem Wege
stellte ich mir ein kleines Museum auf, indem ich die Köpfe des Laokoon,
seiner Söhne, der Niobe Töchter allmählich zusammenbrachte, nicht
weniger die Nachbildungen der bedeutendsten Werke des Altertums im
kleinen aus der Verlassenschaft eines Kunstfreundes ankaufte, und so mir
jenen großen Eindruck, den ich in Mannheim gewonnen hatte, möglichst
wieder zu beleben suchte. Indem
ich nun alles, was von Talent, Liebhaberei oder sonst irgendeiner
Neigung in mir leben mochte, auszubilden, zu nähren und zu unterhalten
suchte, verwendete ich eine gute Zeit des Tages, nach dem Wunsch meines
Vaters, auf die Advokatur, zu deren Ausübung ich zufälligerweise die
beste Gelegenheit fand. Nach dem Tode des Großvaters war mein Oheim
Textor in den Rat gekommen, und übergab mir die kleineren Sachen, denen
ich gewachsen war; welches die Gebrüder Schlosser auch taten. Ich
machte mich mit den Akten bekannt, mein Vater las sie ebenfalls mit
vielem Vergnügen, da er sich, durch Veranlassung des Sohns, wieder in
einer Tätigkeit sah, die er lange entbehrt hatte. Wir besprachen uns
darüber, und mit großer Leichtigkeit machte ich alsdann die nötigen
Aufsätze. Wir hatten einen trefflichen Kopisten zur Hand, auf den man
sich zugleich wegen aller Kanzleiförmlichkeiten verlassen konnte; und
so war mir dieses Geschäft eine um so angenehmere Unterhaltung, als es
mich dem Vater näher brachte, der, mit meinem Benehmen in diesem Punkte
völlig zufrieden, allem übrigen, was ich trieb, gerne nachsah, in der
sehnlichen Erwartung daß ich nun bald auch schriftstellerischen Ruhm
einernten würde. Weil
nun in jeder Zeitepoche alles zusammenhängt, indem die herrschenden
Meinungen und Gesinnungen sich auf die vielfachste Weise verzweigen, so
befolgte man in der Rechtslehre nunmehr auch nach und nach alle
diejenigen Maximen, nach welchen man Religion und Moral behandelte.
Unter den Sachwaltern als den Jüngern, sodann unter den Richtern als
den Ältern verbreitete sich der Humanismus, und alles wetteiferte, auch
in rechtlichen Verhältnissen höchst menschlich zu sein. Gefängnisse
wurden gebessert, Verbrechen entschuldigt, Strafen gelindert, die
Legitimationen erleichtert, Scheidungen von Mißheiraten befördert, und
einer unserer vorzüglichen Sachwalter erwarb sich den höchsten Ruhm,
als er einem Scharfrichtersohne den Eingang in das Kollegium der Ärzte
zu erfechten wußte. Vergebens widersetzten sich Gilden und Körperschaften;
ein Damm nach dem andern ward durchbrochen. Die Duldsamkeit der
Religionsparteien gegen einander ward nicht bloß gelehrt, sondern ausgeübt,
und mit einem noch größern Einflusse ward die bürgerliche Verfassung
bedroht, als man Duldsamkeit gegen die Juden, mit Verstand, Scharfsinn
und Kraft, der gutmütigen Zeit anzuempfehlen bemüht war. Diese neuen
Gegenstände rechtlicher Behandlung, welche außerhalb des Gesetzes und
des Herkommens lagen und nur an billige Beurteilung, an gemütliche
Teilnahme Anspruch machten, forderten zugleich einen natürlicheren und
lebhafteren Stil. Hier war uns, den Jüngsten, ein heiteres Feld eröffnet,
in welchem wir uns mit Lust herumtummelten, und ich erinnere mich noch
gar wohl, daß ein Reichshofratsagent mir, in einem solchen Falle, ein
sehr artiges Belobungsschreiben zusendete. Die französischen Plaidoyers
dienten uns zu Mustern und zur Anregung. Und
somit waren wir auf dem Wege, bessere Redner als Juristen zu werden,
worauf mich der solide Georg Schlosser einstmals tadelnd aufmerksam
machte. Ich hatte ihm erzählt, daß ich meiner Partei eine mit vieler
Energie zu ihren Gunsten abgefaßte Streitschrift vorgelesen, worüber
sie mir große Zufriedenheit bezeigt. Hierauf erwiderte er mir: "Du
hast dich in diesem Fall mehr als Schriftsteller, denn als Advokat
bewiesen. Man muß niemals fragen, wie eine solche Schrift dem Klienten,
sondern wie sie dem Richter gefallen könne. " Wie
nun aber niemand noch so ernste und dringende Geschäfte haben mag,
denen er seinen Tag widmet, daß er nicht demungeachtet abends so viel
Zeit fände, das Schauspiel zu besuchen; so ging es auch mir, der ich,
in Ermangelung einer vorzüglichen Bühne, über das deutsche Theater zu
denken nicht aufhörte, um zu erforschen, wie man auf demselben
allenfalls tätig mitwirken könnte. Der Zustand desselben in der
zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts ist bekannt genug, und
jedermann, der sich davon zu unterrichten verlangt, findet überall
bereite Hülfsmittel. Ich denke deswegen hier nur einige allgemeine
Bemerkungen einzuschalten. Das
Glück der Bühne beruhte mehr auf der Persönlichkeit der Schauspieler
als auf dem Werte der Stücke. Dies war besonders bei halb oder ganz
extemporierten Stücken der Fall, wo alles auf den Humor und das Talent
der komischen Schauspieler ankam. Der Stoff solcher Stücke muß aus dem
gemeinsten Leben genommen sein, den Sitten des Volks gemäß, vor
welchem man spielt. Aus dieser unmittelbaren Anwendbarkeit entspringt
der große Beifall, dessen sie sich jederzeit zu erfreuen haben. Diese
waren immer im südlichen Deutschland zu Hause, wo man sie bis auf den
heutigen Tag beibehält, und nur von Zeit zu Zeit dem Charakter der
possenhaften Masken einige Veränderung zu geben durch den
Personenwechsel genötigt ist. Doch nahm das deutsche Theater, dem
ernsten Charakter der Nation gemäß, sehr bald eine Wendung nach dem
sittlichen, welche durch eine äußere Veranlassung noch mehr
beschleunigt ward. Unter den strengen Christen entstand nämlich die
Frage, ob das Theater zu den sündlichen und auf alle Fälle zu
vermeidenden Dingen gehöre, oder zu den gleichgültigen, welche dem
Guten gut, und nur dem Bösen bös werden könnten. Strenge Eiferer
verneinten das letztere, und hielten fest darüber, daß kein
Geistlicher je ins Theater gehen solle. Nun konnte die Gegenrede nicht
mit Nachdruck geführt werden, als wenn man das Theater nicht allein für
unschädlich, sondern sogar für nützlich angab. Um nützlich zu sein,
mußte es sittlich sein, und dazu bildete es sich im nördlichen
Deutschland um so mehr aus, als durch einen gewissen Halbgeschmack die
lustige Person vertrieben ward, und, obgleich geistreiche Köpfe für
sie einsprachen, dennoch weichen mußte, da sie sich bereits von der
Derbheit des deutschen Hanswursts gegen die Niedlichkeit und
Zierlichkeit der italienischen und französischen Harlekine gewendet
hatte. Selbst Scapin und Crispin verschwanden nach und nach; den
letztern habe ich zum letztenmal von Koch, in seinem hohen Alter,
spielen sehn. Schon die Richardsonschen Romane hatten die bürgerliche
Welt auf eine zartere Sittlichkeit aufmerksam gemacht. Die strengen und
unausbleiblichen Folgen eines weiblichen Fehltritts waren in der "Clarisse
" auf eine grausame Weise zergliedert. Lessings "Miß Sara
Sampson " behandelte dasselbe Thema. Nun ließ "Der Kaufmann
von London " einen verführten Jüngling in der schrecklichsten
Lage sehen. Die französischen Dramen hatten denselben Zweck, verfuhren
aber mäßiger und wußten durch Vermittelung am Ende zu gefallen.
Diderots "Hausvater ", "Der ehrliche Verbrecher ",
"Der Essighändler ", "Der Philosoph ohne es zu wissen
", "Eugenie " und mehr dergleichen Werke waren dem
ehrbaren Bürger- und Familiensinn gemäß, der immer mehr obzuwalten
anfing. Bei uns gingen "Der dankbare Sohn ", "Der
Deserteur aus Kindesliebe " und ihre Sippschaft denselben Weg.
"Der Minister ", "Clementine " und die übrigen
Geblerischen Stücke, "Der deutsche Hausvater " von Gemmingen,
alle brachten den Wert des mittleren, ja des unteren Standes zu einer
gemütlichen Anschauung, und entzückten das große Publikum. Ekhof
durch seine edle Persönlichkeit, die dem Schauspielerstand eine gewisse
Würde mitteilte, deren er bisher entbehrte, hob die ersten Figuren
solcher Stücke ungemein, indem der Ausdruck von Rechtlichkeit ihm, als
einem rechtlichen Manne, vollkommen gelang. Indem nun das deutsche
Theater sich völlig zur Verweichlichung hinneigte, stand Schröder als
Schriftsteller und Schauspieler auf, und bearbeitete, durch die
Verbindung Hamburgs mit England veranlaßt, englische Lustspiele. Er
konnte dabei den Stoff derselben nur im allgemeinsten brauchen: denn die
Originale sind meistens formlos, und wenn sie auch gut und planmäßig
anfangen, so verlieren sie sich doch zuletzt ins Weite. Es scheint ihren
Verfassern nur darum zu tun, die wunderlichsten Szenen anzubringen, und
wer an ein gehaltenes Kunstwerk gewöhnt ist, sieht sich zuletzt ungern
ins Grenzenlose getrieben. Überdies geht ein wildes und unsittliches,
gemein-wüstes Wesen bis zum Unerträglichen so entschieden durch, daß
es schwer sein möchte, dem Plan und den Charaktern alle ihre Unarten zu
benehmen. Sie sind eine derbe und dabei gefährliche Speise, die bloß
einer großen und halbverdorbenen Volksmasse zu einer gewissen Zeit
genießbar und verdaulich gewesen sein mag. Schröder hat an diesen
Dingen mehr getan, als man gewöhnlich weiß; er hat sie von Grund aus
verändert, dem deutschen Sinne angeähnlicht, und sie möglichst
gemildert. Es bleibt ihnen aber immer ein herber Kern, weil der Scherz
gar oft auf Mißhandlung von Personen beruht, sie mögen es verdienen
oder nicht. In diesen Darstellungen, welche sich gleichfalls auf dem
Theater verbreiteten, lag also ein heimliches Gegengewicht jener allzu
zarten Sittlichkeit, und die Wirkung beider Arten gegen einander
hinderte glücklicherweise die Eintönigkeit, in die man sonst verfallen
wäre. Der
Deutsche, gut- und großmütig von Natur, will niemand gemißhandelt
wissen. Weil aber kein Mensch, wenn er auch noch so gut denkt, sicher
ist, daß man ihm nicht etwas gegen seine Neigung unterschiebe, auch das
Lustspiel überhaupt immer etwas Schadenfreude bei dem Zuschauer
voraussetzt oder erweckt, wenn es behagen soll; so geriet man, auf einem
natürlichen Wege, zu einem bisher für unnatürlich gehaltenen
Benehmen: dieses war, die höheren Stände herabzusetzen und sie mehr
oder weniger anzutasten. Die prosaische und poetische Satire hatte sich
bisher immer gehütet, Hof und Adel zu berühren. Rabener enthielt sich
nach jener Seite hin alles Spottes, und blieb in einem niederen Kreise.
Zachariä beschäftigt sich viel mit Landedelleuten, stellt ihre
Liebhabereien und Eigenheiten komisch dar, aber ohne Mißachtung. Thümmels
"Wilhelmine ", eine kleine geistreiche Komposition, so
angenehm als kühn, erwarb sich großen Beifall, vielleicht auch mit
deswegen, weil der Verfasser, ein Edelmann und Hofgenosse, die eigne
Klasse nicht eben schonend behandelte. Den entschiedensten Schritt
jedoch tat Lessing in der "Emilia Galotti ", wo die
Leidenschaften und ränkevollen Verhältnisse der höheren Regionen
schneidend und bitter geschildert sind. Alle diese Dinge sagten dem
aufgeregten Zeitsinne vollkommen zu, und Menschen von weniger Geist und
Talent glaubten das gleiche, ja noch mehr tun zu dürfen; wie denn Großmann
in sechs unappetitlichen "Schüsseln " alle Leckerspeisen
seiner Pöbelküche dem schadenfrohen Publikum auftischte. Ein redlicher
Mann, Hofrat Reinhard, machte bei dieser unerfreulichen Tafel den
Haushofmeister, zu Trost und Erbauung sämtlicher Gäste. Von dieser
Zeit an wählte man die theatralischen Bösewichter immer aus den höheren
Ständen; doch mußte die Person Kammerjunker oder wenigstens
Geheimsekretär sein, um sich einer solchen Auszeichnung würdig zu
machen. Zu den allergottlosesten Schaubildern aber erkor man die
obersten Chargen und Stellen des Hof- und Ziviletats im Adreßkalender,
in welcher vornehmen Gesellschaft denn doch noch die Justitiarien, als Bösewichter
der ersten Instanz, ihren Platz fanden. Doch
indem ich schon fürchten muß, über die Zeit hinausgegriffen zu haben,
von der hier die Rede sein kann, kehre ich auf mich selbst zurück, um
des Dranges zu erwähnen, den ich empfand, mich in freien Stunden mit
den einmal ausgesonnenen theatralischen Planen zu beschäftigen. Durch
die fortdauernde Teilnahme an Shakespeares Werken hatte ich mir den
Geist so ausgeweitet, daß mir der enge Bühnenraum und die kurze einer
Vorstellung zugemessene Zeit keineswegs hinlänglich schienen, um etwas
Bedeutendes vorzutragen. Das Leben des biedern Götz von Berlichingen,
von ihm selbst geschrieben, trieb mich in die historische
Behandlungsart, und meine Einbildungskraft dehnte sich dergestalt aus,
daß auch meine dramatische Form alle Theatergrenzen überschritt, und
sich den lebendigen Ereignissen mehr und mehr zu nähern suchte. Ich
hatte mich davon, so wie ich vorwärts ging, mit meiner Schwester umständlich
unterhalten, die an solchen Dingen mit Geist und Gemüt teilnahm, und
ich erneuerte diese Unterhaltung so oft, ohne nur irgend zum Werke zu
schreiten, daß sie zuletzt ungeduldig und wohlwollend dringend bat,
mich nur nicht immer mit Worten in die Luft zu ergehn, sondern endlich
einmal das, was mir so gegenwärtig wäre, auf das Papier festzubringen.
Durch diesen Antrieb bestimmt, fing ich eines Morgens zu schreiben an,
ohne daß ich einen Entwurf oder Plan vorher aufgesetzt hätte. Ich
schrieb die ersten Szenen, und abends wurden sie Cornelien vorgelesen.
Sie schenkte ihnen vielen Beifall, jedoch nur bedingt, indem sie
zweifelte, daß ich so fortfahren würde, ja sie äußerte sogar einen
entschiedenen Unglauben an meine Beharrlichkeit. Dieses reizte mich nur
um so mehr, ich fuhr den nächsten Tag fort, und so den dritten; die
Hoffnung wuchs bei den täglichen Mitteilungen, auch mir ward alles von
Schritt zu Schritt lebendiger, indem mir ohnehin der Stoff durchaus
eigen geworden; und so hielt ich mich ununterbrochen ans Werk, das ich
geradeswegs verfolgte, ohne weder rückwärts, noch rechts, noch links
zu sehn, und in etwa sechs Wochen hatte ich das Vergnügen, das
Manuskript geheftet zu erblicken. Ich teilte es Mercken mit, der verständig
und wohlwollend darüber sprach; ich sendete es Herdern zu, der sich
unfreundlich und hart dagegen äußerte, und nicht ermangelte, in
einigen gelegentlichen Schmähgedichten mich deshalb mit spöttischen
Namen zu bezeichnen. Ich ließ mich dadurch nicht irre machen, sondern
faßte meinen Gegenstand scharf ins Auge; der Wurf war einmal getan, und
es fragte sich nur, wie man die Steine im Brett vorteilhaft setzte. Ich
sah wohl, daß mir auch hier niemand raten würde, und als ich nach
einiger Zeit mein Werk wie ein fremdes betrachten konnte, so erkannte
ich freilich, daß ich, bei dem Versuch, auf die Einheit der Zeit und
des Orts Verzicht zu tun, auch der höheren Einheit, die um desto mehr
gefordert wird, Eintrag getan hatte. Da ich mich, ohne Plan und Entwurf,
bloß der Einbildungskraft und einem innern Trieb überließ, so war ich
von vornherein ziemlich bei der Klinge geblieben, und die ersten Akte
konnten für das, was sie sein sollten, gar füglich gelten; in den
folgenden aber, und besonders gegen das Ende, riß mich eine wundersame
Leidenschaft unbewußt hin. Ich hatte mich, indem ich Adelheid liebenswürdig
zu schildern trachtete, selbst in sie verliebt, unwillkürlich war meine
Feder nur ihr gewidmet, das Interesse an ihrem Schicksal nahm überhand,
und wie ohnehin gegen das Ende Götz außer Tätigkeit gesetzt ist, und
dann nur zu einer unglücklichen Teilnahme am Bauernkriege zurückkehrt,
so war nichts natürlicher, als daß eine reizende Frau ihn bei dem
Autor ausstach, der, die Kunstfesseln abschüttelnd, in einem neuen
Felde sich zu versuchen dachte. Diesen Mangel, oder vielmehr diesen
tadelhaften Überfluß, erkannte ich gar bald, da die Natur meiner
Poesie mich immer zur Einheit hindrängte. Ich hegte nun, anstatt der
Lebensbeschreibung Götzens und der deutschen Altertümer, mein eignes
Werk im Sinne, und suchte ihm immer mehr historischen und nationalen
Gehalt zu geben, und das, was daran fabelhaft oder bloß
leidenschaftlich war, auszulöschen, wobei ich freilich manches
aufopferte, indem die menschliche Neigung der künstlerischen Überzeugung
weichen mußte. So hatte ich mir z.B. etwas Rechts zugute getan, indem
ich in einer grauserlich nächtlichen Zigeunerszene Adelheid auftreten
und ihre schöne Gegenwart Wunder tun ließ. Eine nähere Prüfung
verbannte sie, so wie auch der im vierten und fünften Akte umständlich
ausgeführte Liebeshandel zwischen Franzen und seiner gnädigen Frau
sich ins Enge zog, und nur in seinen Hauptmomenten hervorleuchten
durfte. Ohne
also an dem ersten Manuskript irgend etwas zu verändern, welches ich
wirklich noch in seiner Urgestalt besitze, nahm ich mir vor, das Ganze
umzuschreiben, und leistete dies auch mit solcher Tätigkeit, daß in
wenigen Wochen ein ganz erneutes Stück vor mir lag. Ich ging damit um
so rascher zu Werke, je weniger ich die Absicht hatte, diese zweite
Bearbeitung jemals drucken zu lassen, sondern sie gleichfalls nur als
Vorübung ansah, die ich künftig, bei einer mit mehrerem Fleiß und Überlegung
anzustellenden neuen Behandlung, abermals zum Grunde legen wollte. Als
ich nun mancherlei Vorschläge, wie ich dies anzufangen gedächte,
Mercken vorzutragen anfing, spottete er mein und fragte, was denn das
ewige Arbeiten und Umarbeiten heißen solle? Die Sache werde dadurch nur
anders und selten besser; man müsse sehn, was das eine für Wirkung
tue, und dann immer wieder was Neues unternehmen. - "Bei Zeit auf
die Zäun', so trocknen die Windeln! " rief er spruchwörtlich aus;
das Säumen und Zaudern mache nur unsichere Menschen. Ich erwiderte ihm
dagegen, daß es unangenehm sein würde, eine Arbeit, an die ich so
viele Neigung verwendet, einem Buchhändler anzubieten, und mir
vielleicht gar eine abschlägige Antwort zu holen: denn wie sollten sie
einen jungen, namenlosen und noch dazu verwegenen Schriftsteller
beurteilen? Schon meine "Mitschuldigen ", auf die ich etwas
hielt, hätte ich, als meine Scheu vor der Presse nach und nach
verschwand, gern gedruckt gesehn; allein ich fand keinen geneigten
Verleger. Hier
ward nun meines Freundes technisch-merkantilische Lust auf einmal rege.
Durch die Frankfurter Zeitung hatte er sich schon mit Gelehrten und
Buchhändlern in Verbindung gesetzt, wir sollten daher, wie er meinte,
dieses seltsame und gewiß auffallende Werk auf eigne Kosten
herausgeben, und es werde davon ein guter Vorteil zu ziehen sein; wie er
denn, mit so vielen andern, öfters den Buchhändlern ihren Gewinn
nachzurechnen pflegte, der bei manchen Werken freilich groß war,
besonders wenn man außer acht ließ, wie viel wieder an anderen
Schriften und durch sonstige Handelsverhältnisse verloren geht. Genug,
es ward ausgemacht, daß ich das Papier anschaffen, er aber für den
Druck sorgen solle; und somit ging es frisch ans Werk, und mir gefiel es
gar nicht übel, meine wilde dramatische Skizze nach und nach in saubern
Aushängebogen zu sehen: sie nahm sich wirklich reinlicher aus, als ich
selbst gedacht. Wir vollendeten das Werk, und es ward in vielen Paketen
versendet. Nun dauerte es nicht lange, so entstand überall eine große
Bewegung; das Aufsehen, das es machte, ward allgemein. Weil wir aber,
bei unsern beschränkten Verhältnissen, die Exemplare nicht schnell
genug nach allen Orten zu verteilen vermochten, so erschien plötzlich
ein Nachdruck; und da überdies gegen unsere Aussendungen freilich so
bald keine Erstattung, am allerwenigsten eine bare, zurückerfolgen
konnte: so war ich, als Haussohn, dessen Kasse nicht in reichlichen Umständen
sein konnte, zu einer Zeit, wo man mir von allen Seiten her viel
Aufmerksamkeit, ja sogar vielen Beifall erwies, höchst verlegen, wie
ich nur das Papier bezahlen sollte, auf welchem ich die Welt mit meinem
Talent bekannt gemacht hatte. Merck, der sich schon eher zu helfen wußte,
hegte dagegen die besten Hoffnungen, daß sich nächstens alles wieder
ins gleiche stellen würde, ich bin aber nichts davon gewahr worden. Schon
bei den kleinen Flugschriften, die ich ungenannt herausgab, hatte ich
das Publikum und die Rezensenten auf meine eignen Kosten kennen lernen,
und ich war auf Lob und Tadel so ziemlich vorbereitet, besonders da ich
seit mehreren Jahren immer nachging und beobachtete, wie man die
Schriftsteller behandle, denen ich eine vorzügliche Aufmerksamkeit
gewidmet hatte. Hier
konnte ich selbst in meiner Unsicherheit deutlich bemerken, wie doch so
vieles grundlos, einseitig und willkürlich in den Tag hinein gesagt
wurde. Mir begegnete nun dasselbe, und wenn ich nicht schon einigen
Grund gehabt hätte, wie irre hätten mich die Widersprüche gebildeter
Menschen machen müssen! So stand z.B. im "Deutschen Merkur "
eine weitläuftige wohlgemeinte Rezension, verfaßt von irgend einem
beschränkten Geiste. Wo er tadelte, konnte ich nicht mit ihm
einstimmen, noch weniger, wenn er angab, wie die Sache hätte können
anders gemacht werden. Erfreulich war es mir daher, wenn ich unmittelbar
hinterdrein eine heitere Erklärung Wielands antraf, der im allgemeinen
dem Rezensenten widersprach und sich meiner gegen ihn annahm. Indessen
war doch jenes auch gedruckt, ich sah ein Beispiel von der dumpfen
Sinnesart unterrichteter und gebildeter Männer; wie mochte es erst im
großen Publikum aussehn! Das
Vergnügen, mich mit Mercken über solche Dinge zu besprechen und
aufzuklären, war von kurzer Dauer: denn die einsichtsvolle Landgräfin
von Hessen - Darmstadt nahm ihn, auf ihrer Reise nach Petersburg, in ihr
Gefolge. Die ausführlichen Briefe, die er mir schrieb, gaben mir eine
weitere Aussicht in die Welt, die ich mir um so mehr zu eigen machen
konnte, als die Schilderungen von einer bekannten und befreundeten Hand
gezeichnet waren. Allein ich blieb dem ungeachtet dadurch auf längere
Zeit sehr einsam, und entbehrte gerade in dieser wichtigen Epoche seiner
aufklärenden Teilnahme, deren ich denn doch so sehr bedurfte. Denn
wie man wohl den Entschluß faßt, Soldat zu werden und in den Krieg zu
gehen, sich auch mutig vorsetzt, Gefahr und Beschwerlichkeiten zu
ertragen, sowie auch Wunden und Schmerzen, ja den Tod zu erdulden, aber
sich dabei keineswegs die besonderen Fälle vorstellt, unter welchen
diese im allgemeinen erwarteten Übel uns äußerst unangenehm überraschen
können: so ergeht es einem jeden, der sich in die Welt wagt, und
besonders dem Autor, und so ging es auch mir. Da der größte Teil des
Publikums mehr durch den Stoff als durch die Behandlung angeregt wird,
so war die Teilnahme junger Männer an meinen Stücken meistens
stoffartig. Sie glaubten daran ein Panier zu sehn, unter dessen
Vorschritt alles, was in der Jugend Wildes und Ungeschlachtes lebt, sich
wohl Raum machen dürfte, und gerade die besten Köpfe, in denen schon
vorläufig etwas Ähnliches spukte, wurden davon hingerissen. Ich
besitze noch von dem trefflichen und in manchem Betracht einzigen Bürger
einen Brief, ich weiß nicht an wen, der als wichtiger Beleg dessen
gelten kann, was jene Erscheinung damals gewirkt und aufgeregt hat. Von
der Gegenseite tadelten mich gesetzte Männer, daß ich das Faustrecht
mit zu günstigen Farben geschildert habe, ja sie legten mir die Absicht
unter, daß ich jene unregelmäßigen Zeiten wieder einzuführen gedächte.
Noch andere hielten mich für einen grundgelehrten Mann, und verlangten,
ich sollte die Originalerzählung des guten Götz neu mit Noten
herausgeben; wozu ich mich keineswegs geschickt fühlte, ob ich es mir
gleich gefallen ließ, daß man meinen Namen auf den Titel des frischen
Abdrucks zu setzen beliebte. Man hatte, weil ich die Blumen eines großen
Daseins abzupflücken verstand, mich für einen sorgfältigen Kunstgärtner
gehalten. Diese meine Gelehrtheit und gründliche Sachkenntnis wurde
jedoch wieder von andern in Zweifel gezogen. Ein angesehener Geschäftsmann
macht mir ganz unvermutet die Visite. Ich sehe mich dadurch höchst
geehrt, und um so mehr, als er sein Gespräch mit dem Lobe meines
"Götz von Berlichingen " und meiner guten Einsichten in die
deutsche Geschichte anfängt; allein ich finde mich doch betroffen, als
ich bemerke, er sei eigentlich nur gekommen, um mich zu belehren, daß Götz
von Berlichingen kein Schwager von Franz von Sickingen gewesen sei, und
daß ich also durch dieses poetische Ehebündnis gar sehr gegen die
Geschichte verstoßen habe. Ich suchte mich dadurch zu entschuldigen, daß
Götz ihn selber so nenne; allein mir ward erwidert, daß dieses eine
Redensart sei, welche nur ein näheres freundschaftliches Verhältnis
ausdrücke, wie man ja in der neueren Zeit die Postillone auch Schwager
nenne, ohne daß ein Familienband sie an uns knüpfe. Ich dankte, so gut
ich konnte für diese Belehrung und bedauerte nur, daß dem Übel nicht
mehr abzuhelfen sei. Dieses ward von seiner Seite gleichfalls bedauert,
wobei er mich freundlichst zu fernerem Studium der deutschen Geschichte
und Verfassung ermahnte, und mir dazu seine Bibliothek anbot, von der
ich auch in der Folge guten Gebrauch machte. Das
Lustigste jedoch, was mir in dieser Art begegnete, war der Besuch eines
Buchhändlers, der, mit einer heiteren Freimütigkeit, sich ein Dutzend
solcher Stücke ausbat, und sie gut zu honorieren versprach. Daß wir
uns darüber sehr lustig machten, läßt sich denken, und doch hatte er
im Grunde so unrecht nicht denn ich war schon im Stillen beschäftigt,
von diesem Wendepunkt der deutschen Geschichte mich vor- und rückwärts
zu bewegen und die Hauptereignisse in gleichem Sinn zu bearbeiten. Ein löblicher
Vorsatz, der, wie so manche andere, durch die flüchtig vorbeirauschende
Zeit vereitelt worden. Jenes
Schauspiel jedoch beschäftigte bisher den Verfasser nicht allein,
sondern während es ersonnen, geschrieben, umgeschrieben, gedruckt und
verarbeitet wurde, bewegten sich noch viele andere Bilder und Vorschläge
in seinem Geiste. Diejenigen, welche dramatisch zu behandeln waren,
erhielten den Vorzug, am öftersten durchgedacht und der Vollendung
angenähert zu werden; allein zu gleicher Zeit entwickelte sich ein Übergang
zu einer andern Darstellungsart, welche nicht zu den dramatischen
gerechnet zu werden pflegt und doch mit ihnen große Verwandtschaft hat.
Dieser Übergang geschah hauptsächlich durch eine Eigenheit des
Verfassers, die sogar das Selbstgespräch zum Zwiegespräch umbildete. Gewöhnt,
am liebsten seine Zeit in Gesellschaft zuzubringen, verwandelte er auch
das einsame Denken zur geselligen Unterhaltung, und zwar auf folgende
Weise. Er pflegte nämlich, wenn er sich allein sah, irgend eine Person
seiner Bekanntschaft im Geiste zu sich zu rufen. Er bat sie, nieder zu
sitzen, ging an ihr auf und ab, blieb vor ihr stehen, und verhandelte
mit ihr den Gegenstand, der ihm eben im Sinne lag. Hierauf antwortete
sie gelegentlich, oder gab durch die gewöhnliche Mimik ihr Zu- oder
Abstimmen zu erkennen; wie denn jeder Mensch hierin etwas Eignes hat.
Sodann fuhr der Sprechende fort, dasjenige, was dem Gaste zu gefallen
schien, weiter auszuführen oder, was derselbe mißbilligte, zu
bedingen, näher zu bestimmen, und gab auch wohl zuletzt seine These gefällig
auf. Das Wunderlichste war dabei, daß er niemals Personen seiner näheren
Bekanntschaft wählte, sondern solche, die er nur selten sah, ja
mehrere, die weit in der Welt entfernt lebten, und mit denen er nur in
einem vorübergehenden Verhältnis gestanden; aber es waren meist
Personen, die, mehr empfänglicher als ausgebender Natur, mit reinem
Sinne einen ruhigen Anteil an Dingen zu nehmen bereit sind, die in ihrem
Gesichtskreise liegen, ob er sich gleich manchmal zu diesen
dialektischen Übungen widersprechende Geister herbeirief. Hiezu
bequemten sich nun Personen beiderlei Geschlechts, jedes Alters und
Standes, und erwiesen sich gefällig und anmutig, da man sich nur von
Gegenständen unterhielt, die ihnen deutlich und lieb waren. Höchst
wunderbar würde es jedoch manchen vorgekommen sein, wenn sie hätten
erfahren können, wie oft sie zu dieser ideellen Unterhaltung berufen
wurden, da sich manche zu einer wirklichen wohl schwerlich eingefunden hätten. Wie
nahe ein solches Gespräch im Geiste mit dem Briefwechsel verwandt sei,
ist klar genug, nur daß man hier ein hergebrachtes Vertrauen erwidert
sieht, und dort ein neues, immer wechselnder, unerwidertes sich selbst
zu schaffen weiß. Als daher jener Überdruß zu schildern war, mit
welchem die Menschen, ohne durch Not gedrungen zu sein, das Leben
empfinden, mußte der Verfasser sogleich darauf fallen, seine Gesinnung
in Briefen darzustellen: denn jeder Unmut ist eine Geburt, ein Zögling
der Einsamkeit; wer sich ihm ergibt, flieht allen Widerspruch, und was
widerspricht ihm mehr als jede heitere Gesellschaft? Der Lebensgenuß
anderer ist ihm ein peinlicher Vorwurf, und so wird er durch das, was
ihn aus sich selbst herauslocken sollte, in sein Innerstes zurückgewiesen.
Mag er sich allenfalls darüber äußern, so wird es durch Briefe
geschehn: denn einem schriftlichen Erguß, er sei fröhlich oder verdrießlich,
setz sich doch niemand unmittelbar entgegen; eine mit Gegengründen
verfaßte Antwort aber gibt dem Einsamen Gelegenheit, sich in seinen
Grillen zu befestigen, einen Anlaß, sich noch mehr zu verstocken. Jene
in diesem Sinne geschriebenen Wertherischen Briefe haben nun wohl
deshalb einen so mannigfaltigen Reiz, weil ihr verschiedener Inhalt erst
in solchen ideellen Dialogen mit mehreren Individuen durchgesprochen
worden, sie sodann aber, in der Komposition selbst, nur an einen Freund
und Teilnehmer gerichtet erscheinen. Mehr über die Behandlung des so
viel besprochenen Werkleins zu sagen, möchte kaum tätlich sein; über
den Inhalt jedoch läßt sich noch einiges hinzufügen. Jener
Ekel vor dem Leben hat seine physischen und seine sittlichen Ursachen,
jene wollen wir dem Arzt, diese dem Moralisten zu erforschen überlassen,
und, bei einer so oft durchgearbeiteten Materie, nur den Hauptpunkt
beachten, wo sich jene Erscheinung am deutlichsten ausspricht. Alles
Behagen am Leben ist auf eine regelmäßige Wiederkehr der äußeren
Dinge gegründet. Der Wechsel von Tag und Nacht, der Jahreszeiten, der
Blüten und Früchte, und was uns sonst von Epoche zu Epoche
entgegentritt, damit wir es genießen können und sollen, diese sind die
eigentlichen Triebfedern des irdischen Lebens. Je offener wir für diese
Genüsse sind, desto glücklicher fühlen wir uns; wälzt sich aber die
Verschiedenheit dieser Erscheinungen vor uns auf und nieder, ohne daß
wir daran teilnehmen, sind wir gegen so holde Anerbietungen unempfänglich:
dann tritt das größte Übel, die schwerste Krankheit ein, man
betrachtet das Leben als eine ekelhafte Last. Von einem Engländer wird
erzählt, er habe sich aufgehangen, um nicht mehr täglich sich aus- und
anzuziehn. Ich kannte einen wackeren Gärtner, den Aufseher einer großen
Parkanlage, der einmal mit Verdruß ausrief: "Soll ich denn immer
diese Regenwolken von Abend gegen Morgen ziehen sehn! " Man erzählt
von einem unserer trefflichsten Männer, er habe mit Verdruß das Frühjahr
wieder aufgrünen gesehn, und gewünscht, es möchte zur Abwechselung
einmal rot erscheinen. Dieses sind eigentlich die Symptome des Lebensüberdrusses,
der nicht selten in den Selbstmord ausläuft, und bei denkenden in sich
gekehrten Menschen häufiger war, als man glauben kann. Nichts
aber veranlaßt mehr diesen Überdruß, als die Wiederkehr der Liebe.
Die erste Liebe, sagt man mit Recht, sei die einzige: denn in der
zweiten und durch die zweite geht schon der höchste Sinn der Liebe
verloren. Der Begriff des Ewigen und Unendlichen, der sie eigentlich
hebt und trägt, ist zerstört, sie erscheint vergänglich wie alles
Wiederkehrende. Die Absonderung des Sinnlichen vom Sittlichen, die in
der verflochtenen kultivierten Welt die liebenden und begehrenden
Empfindungen spaltet, bringt auch hier eine Übertriebenheit hervor, die
nichts Gutes stiften kann. Ferner
wird ein junger Mann, wo nicht gerade an sich selbst, doch an andern
bald gewahr, daß moralische Epochen ebensogut wie die Jahreszeiten
wechseln. Die Gnade der Großen, die Gunst der Gewaltigen, die Förderung
der Tätigen, die Neigung der Menge, die Liebe der Einzelnen, alles
wandelt auf und nieder, ohne daß wir es festhalten können, so wenig
als Sonne, Mond und Sterne; und doch sind diese Dinge nicht bloße
Naturereignisse: Sie entgehen uns durch eigne oder fremde Schuld, durch
Zufall oder Geschick, aber sie wechseln, und wir sind ihrer niemals
sicher. Was
aber den fühlenden Jüngling am meisten ängstigt, ist die
unaufhaltsame Wiederkehr unserer Fehler: denn wie spät lernen wir
einsehen, daß wir, indem wir unsere Tugenden ausbilden, unsere Fehler
zugleich mit anbauen. Jene ruhen auf diesen wie auf ihrer Wurzel, und
diese verzweigen sich insgeheim ebenso stark und so mannigfaltig als
jene im offenbaren Lichte. Weil wir nun unsere Tugenden meist mit Willen
und Bewußtsein ausüben, von unseren Fehlern aber unbewußt überrascht
werden, so machen uns jene selten einige Freude, diese hingegen beständig
Not und Qual. Hier liegt der schwerste Punkt der Selbsterkenntnis, der
sie beinah unmöglich macht. Denke man sich nun hiezu ein siedend
jugendliches Blut, eine durch einzelne Gegenstände leicht zu
paralysierende Einbildungskraft, hiezu die schwankenden Bewegungen des
Tags, und man wird ein ungeduldiges Streben, sich aus einer solchen
Klemme zu befreien nicht unnatürlich finden. Solche
düstere Betrachtungen jedoch, welche denjenigen, der sich ihnen überläßt,
ins Unendliche führen, hätten sich in den Gemütern deutscher Jünglinge
nicht so entschieden entwickeln können, hätte sie nicht eine äußere
Veranlassung zu diesem traurigen Geschäft angeregt und gefördert. Es
geschah dieses durch die englische Literatur, besonders durch die
poetische, deren große ein ernster Trübsinn begleitet, welchen sie
einem jeden mitteilt, der sich mit ihr beschäftigt. Der geistreiche
Brite sieht sich von Jugend auf von einer bedeutenden Welt umgeben, die
alle seine Kräfte anregt; er wird früher oder später gewahr, daß er
allen seinen Verstand zusammennehmen muß, um sich mit ihr abzufinden.
Wie viele ihrer Dichter haben nicht in der Jugend ein loses und
rauschendes Leben geführt, und sich früh berechtigt gefunden, die
irdischen Dinge der Eitelkeit anzuklagen! Wie viele derselben haben sich
in den Weltgeschäften versucht, und im Parlament, bei Hofe, im
Ministerium, auf Gesandtschaftsposten teils die ersten, teils untere
Rollen gespielt, und sich bei inneren Unruhen, Staats- und Regierungsveränderungen
mitwirkend erwiesen und, wo nicht an sich selbst, doch an ihren Freunden
und Gönnern öfter traurige als erfreuliche Erfahrungen gemacht! Wie
viele sind verbannt, vertrieben, im Gefängnis gehalten, an ihren Gütern
beschädigt worden! Aber
auch nur Zuschauer von so großen Ereignissen zu sein, fordert den
Menschen zum Ernst auf, und wohin kann der Ernst weiter führen, als zur
Betrachtung der Vergänglichkeit und des Unwerts aller irdischen Dinge.
Ernsthaft ist auch der Deutsche, und so war ihm die englische Poesie höchst
gemäß, und, weil sie sich aus einem höheren Zustande herschrieb,
imposant. Man findet in ihr durchaus einen großen, tüchtigen, weltgeübten
Verstand, ein tiefes, zartes Gemüt, ein vortreffliches Wollen, ein
leidenschaftliches Wirken: die herrlichsten Eigenschaften, die man von
geistreichen gebildeten Menschen rühmen kann; aber das alles
zusammengenommen macht noch keinen Poeten. Die wahre Poesie kündet sich
dadurch an, daß sie, als ein weltliches Evangelium, durch innere
Heiterkeit, durch äußeres Behagen, uns von den irdischen Lasten zu
befreien weiß, die auf uns drücken. Wie ein Luftballon hebt sie uns
mit dem Ballast, der uns anhängt, in höhere Regionen, und läßt die
verwirrten Irrgänge der Erde in Vogelperspektive vor uns entwickelt
daliegen. Die muntersten wie die ernstesten Werke haben den gleichen
Zweck, durch eine glückliche geistreiche Darstellung so Lust als
Schmerz zu mäßigen. Man betrachte nun in diesem Sinne die Mehrzahl der
englischen meist moralisch-didaktischen Gedichte, und sie werden im
Durchschnitt nur einen düstern Überdruß des Lebens zeigen. Nicht
Youngs "Nachtgedanken " allein, wo dieses Thema vorzüglich
durchgeführt ist, sondern auch die übrigen betrachtenden Gedichte
schweifen, eh man sich's versieht, in dieses traurige Gebiet, wo dem
Verstande eine Aufgabe zugewiesen ist, die er zu lösen nicht hinreicht,
da ihn ja selbst die Religion, wie er sich solche allenfalls erbauen
kann, im Stiche läßt. Ganze Bände könnte man zusammendrucken, welche
als ein Kommentar zu jenem schrecklichen Texte gelten können: Then
old Age and Experience, hand in hand, Was
ferner die englischen Dichter noch zu Menschenhassern vollendet und das
unangenehme Gefühl von Widerwillen gegen alles über ihre Schriften
verbreitet, ist, daß sie sämtlich, bei den vielfachen Spaltungen ihres
Gemeinwesens, wo nicht ihr ganzes Leben, doch den besten Teil desselben
einer oder der andern Partei widmen müssen. Da nun ein solcher
Schriftsteller die Seinigen, denen er ergeben ist, die Sache, der er anhängt,
nicht loben und herausstreichen darf, weil er sonst nur Neid und
Widerwillen erregen würde; so übt er sein Talent, indem er von den
Gegnern so übel und schlecht als möglich spricht, und die satirischen
Waffen, so sehr er nur vermag, schärft, ja vergiftet. Geschieht dieses
nun von beiden Teilen, so wird die dazwischen liegende Welt zerstört
und rein aufgehoben, so daß man in einem großen, verständig tätigen
Volksverein zum allergelindesten nichts als Torheit und Wahnsinn
entdecken kann. Selbst ihre zärtlichen Gedichte beschäftigen sich mit
traurigen Gegenständen. Hier stirbt ein verlassenes Mädchen, dort
ertrinkt ein getreuer Liebhaber, oder wird, ehe er voreilig schwimmend
seine Geliebte erreicht, von einem Haifische gefressen; und wenn ein
Dichter wie Gray sich auf einem Dorfkirchhofe lagert, und jene bekannten
Melodien wieder anstimmt, so kann er versichert sein, eine Anzahl
Freunde der Melancholie um sich zu versammeln. Miltons "Allegro
" muß erst in heftigen Versen den Unmut verscheuchen ehe er zu
einer sehr mäßigen Lust gelangen kann, und selbst der heitere
Goldsmith verliert sich in elegische Empfindungen, wenn uns sein "Deserted
village " ein verlorenes Paradies, das sein "Traveller "
auf der ganzen Erde wiedersucht, so lieblich als traurig darstellt. Ich
zweifle nicht, daß man mir auch muntre Werke, heitere Gedichte werde
vorzeigen und entgegensetzen können; allein die meisten und besten
derselben gehören gewiß in die ältere Epoche, und die neueren, die
man dahin rechnen könnte, neigen sich gleichfalls gegen die Satire,
sind bitter und besonders die Frauen verachtend. Genug,
jene oben im allgemeinen erwähnten ernsten und die menschliche Natur
untergrabenden Gedichte waren die Lieblinge, die wir uns vor allen
andern aussuchten, der eine, nach seiner Gemütsart, die leichtere
elegische Trauer, der andere die schwer lastende, alles aufgebende
Verzweiflung suchend. Sonderbar genug bestärkte unser Vater und Lehrer
Shakespeare, der so reine Heiterkeit zu verbreiten weiß, selbst diesen
Unwillen. Hamlet und seine Monologen blieben Gespenster, die durch alle
jungen Gemüter ihren Spuk trieben. Die Hauptstellen wußte ein jeder
auswendig und rezitierte sie gern, und jedermann glaubte, er dürfe
ebenso melancholisch sein als der Prinz von Dänemark, ob er gleich
keinen Geist gesehn und keinen königlichen Vater zu rächen hatte. Damit
aber ja allem diesem Trübsinn nicht ein vollkommen passendes Lokal
abgehe, so hatte uns Ossian bis ans letzte Thule gelockt, wo wir denn
auf grauer, unendlicher Heide, unter vorstarrenden bemoosten Grabsteinen
wandelnd, das durch einen schauerlichen Wind bewegte Gras um uns, und
einen schwer bewölkten Himmel über uns erblickten. Bei Mondenschein
ward dann erst diese kaledonische Nacht zum Tage; untergegangene Helden,
verblühte Mädchen umschwebten uns, bis wir zuletzt den Geist von Loda
wirklich in seiner furchtbaren Gestalt zu erblicken glaubten. In
einem solchen Element, bei solcher Umgebung, bei Liebhabereien und
Studien dieser Art, von unbefriedigten Leidenschaften gepeinigt, von außen
zu bedeutenden Handlungen keineswegs angeregt, in der einzigen Aussicht,
uns in einem schleppenden, geistlosen, bürgerlichen Leben hinhalten zu
müssen, befreundete man sich, in unmutigem Übermut, mit dem Gedanken,
das Leben, wenn es einem nicht mehr anstehe, nach eignem Belieben
allenfalls verlassen zu können, und half sich damit über die Unbilden
und Langeweile der Tage notdürftig genug hin. Diese Gesinnung war so
allgemein, daß eben "Werther " deswegen die große Wirkung
tat, weil er überall anschlug und das Innere eines kranken jugendlichen
Wahns öffentlich und faßlich darstellte. Wie genau die Engländer mit
diesem Jammer bekannt waren, beweisen die wenigen bedeutenden, vor dem
Erscheinen "Werthers " geschriebenen Zeilen: To
griefs congenial prone, Der
Selbstmord ist ein Ereignis der menschlichen Natur, welches, mag auch
darüber schon so viel gesprochen und gehandelt sein als da will, doch
einen jeden Menschen zur Teilnahme fordert, in jeder Zeitepoche wieder
einmal verhandelt werden muß. Montesquieu erteilt seinen Helden und großen
Männern das Recht, sich nach Befinden den Tod zu geben, indem er sagt,
es müsse doch einem jeden freistehen, den fünften Akt seiner Tragödie
da zu schließen, wo es ihm beliebe. Hier aber ist von solchen Personen
nicht die Rede, die ein bedeutendes Leben tätig geführt, für irgend
ein großes Reich oder für die Sache der Freiheit ihre Tage verwendet,
und denen man wohl nicht verargen wird, wenn sie die Idee, die sie
beseelt, sobald dieselbe von der Erde verschwindet, auch noch jenseits
zu verfolgen denken. Wir haben es hier mit solchen zu tun, denen
eigentlich aus Mangel von Taten, in dem friedlichsten Zustande von der
Welt, durch übertriebene Forderungen an sich selbst das Leben
verleidet. Da ich selbst in dem Fall war, und am besten weiß, was für
Pein ich darin erlitten, was für Anstrengung es mir gekostet, ihr zu
entgehn; so will ich die Betrachtungen nicht verbergen, die ich über
die verschiedenen Todesarten, die man wählen könnte, wohlbedächtig
angestellt. Es
ist etwas so Unnatürliches, daß der Mensch sich von sich selbst losreiße,
sich nicht allein beschädige, sondern vernichte, daß er meistenteils
zu mechanischen Mitteln greift, um seinen Vorsatz ins Werk zu richten.
Wenn Ajax in sein Schwert fällt, so ist es die Last seines Körpers,
die ihm den letzten Dienst erweiset. Wenn der Krieger seinen Schildträger
verpflichtet, ihn nicht in die Hände der Feinde geraten zu lassen, so
ist es auch eine äußere Kraft, deren er sich versichert, nur eine
moralische statt einer physischen. Frauen suchen im Wasser die Kühlung
ihres Verzweifelns und das höchst mechanische Mittel des Schießgewehrs
sichert eine schnelle Tat mit der geringsten Anstrengung. Des Erhängens
erwähnt man nicht gern, weil es ein unedler Tod ist. In England kann es
am ersten begegnen, weil man dort von Jugend auf so manchen hängen
sieht, ohne daß die Strafe gerade entehrend ist. Durch Gift, durch Öffnung
der Adern gedenkt man nur langsam vom Leben zu scheiden, und der
raffinierteste, schnellste, schmerzenloseste Tod durch eine Natter war
einer Königin würdig, die ihr Leben in Glanz und Lust zugebracht
hatte. Alles dieses aber sind äußere Behelfe, sind Feinde, mit denen
der Mensch gegen sich selbst einen Bund schließt. Wenn
ich nun alle diese Mittel überlegte, und mich sonst in der Geschichte
weiter umsah, so fand ich unter allen denen, die sich selbst entleibt,
keinen, der diese Tat mit solcher Großheit und Freiheit des Geistes
verrichtet, als Kaiser Otho. Dieser, zwar als Feldherr im Nachteil, aber
doch keineswegs aufs Äußerste gebracht, entschließt sich, zum Besten
des Reichs, das ihm gewissermaßen schon angehörte, und zur Schonung so
vieler Tausende, die Welt zu verlassen. Er begeht mit seinen Freunden
ein heiteres Nachtmahl, und man findet am anderen Morgen, daß er sich
einen scharfen Dolch mit eigner Hand in das Herz gestoßen. Diese
einzige Tat schien mir nachahmungswürdig, und ich überzeugte mich, daß,
wer nicht hierin handeln könne wie Otho, sich nicht erlauben dürfe,
freiwillig aus der Welt zu gehn. Durch diese Überzeugung rettete ich
mich nicht sowohl von dem Vorsatz als von der Grille des Selbstmords,
welche sich in jenen herrlichen Friedenszeiten bei einer müßigen
Jugend eingeschlichen hatte. Unter einer ansehnlichen Waffensammlung
besaß ich auch einen kostbaren wohlgeschliffenen Dolch. Diesen legte
ich mir jederzeit neben das Bette, und ehe ich das Licht auslöschte,
versuchte ich, ob es mir wohl gelingen möchte, die scharfe Spitze ein
paar Zoll tief in die Brust zu senken. Da dieses aber niemals gelingen
wollte, so lachte ich mich zuletzt selbst aus, warf alle hypochondrische
Fratzen hinweg, und beschloß zu leben. Um dies aber mit Heiterkeit tun
zu können, mußte ich eine dichterische Aufgabe zur Ausführung
bringen, wo alles, was ich über diesen wichtigen Punkt empfunden,
gedacht und gewähnt, zur Sprache kommen sollte. Ich versammelte hierzu
die Elemente, die sich schon ein paar Jahre in mir herumtrieben, ich
vergegenwärtigte mir die Fälle, die mich am meisten gedrängt und geängstigt;
aber es wollte sich nichts gestalten: es fehlte mir eine Begebenheit,
eine Fabel, in welcher sie sich verkörpern könnten. Auf
einmal erfahre ich die Nachricht von Jerusalems Tode, und, unmittelbar
nach dem allgemeinen Gerüchte, sogleich die genauste und umständlichste
Beschreibung des Vorgangs, und in diesem Augenblick war der Plan zu
"Werthern " gefunden, das Ganze schoß von allen Seiten
zusammen und ward eine solide Masse, wie das Wasser im Gefäß, das eben
auf dem Punkte des Gefrierens steht, durch die geringste Erschütterung
sogleich in ein festes Eis verwandelt wird. Diesen seltsamen Gewinn
festzuhalten, ein Werk von so bedeutendem und mannigfaltigem Inhalt mir
zu vergegenwärtigen, und in allen seinen Teilen auszuführen, war mir
um so angelegener, als ich schon wieder in eine peinliche Lage geraten
war, die noch weniger Hoffnung ließ als die vorigen, und nichts als
Unmut, wo nicht Verdruß, weissagte. Es
ist immer ein Unglück, in neue Verhältnisse zu treten, in denen man
nicht hergekommen ist; wir werden oft wider unsern Willen zu einer
falschen Teilnahme gelockt, uns peinigt die Halbheit solcher Zustände,
und doch sehen wir weder ein Mittel, sie zu ergänzen noch ihnen zu
entsagen. Frau
von La Roche hatte ihre älteste Tochter nach Frankfurt verheiratet, kam
oft sie zu besuchen, und konnte sich nicht recht in den Zustand finden,
den sie doch selbst ausgewählt hatte. Anstatt sich darin behaglich zu fühlen,
oder zu irgend einer Veränderung Anlaß zu geben, erging sie sich in
Klagen, so daß man wirklich denken mußte, ihre Tochter sei unglücklich,
ob man gleich, da ihr nichts abging und ihr Gemahl ihr nichts verwehrte,
nicht wohl einsah, worin das Unglück eigentlich bestünde. Ich war
indessen in dem Hause gut aufgenommen und kam mit dem ganzen Zirkel in
Berührung, der aus Personen bestand, die teils zur Heirat beigetragen
hatten, teils derselben einen glücklichen Erfolg wünschten. Der
Dechant von St. Leonhard, Dumeiz, faßte Vertrauen ja Freundschaft zu
mir. Er war der erste katholische Geistliche, mit dem ich in nähere Berührung
trat, und der, weil er ein sehr hellsehender Mann war, mir über den
Glauben, die Gebräuche, die äußern und innern Verhältnisse der ältesten
Kirche schöne und hinreichende Aufschlüsse gab. Der Gestalt einer
wohlgebildeten, obgleich nicht jungen Frau, mit Namen Servière,
erinnere ich mich noch genau. Ich kam mit der AllesinaSchweitzerischen
und andern Familien gleichfalls in Berührung, und mit den Söhnen in
Verhältnisse, die sich lange freundschaftlich fortsetzten, und sah mich
auf einmal in einem fremden Zirkel einheimisch, an dessen Beschäftigungen,
Vergnügungen, selbst Religionsübungen ich Anteil zu nehmen veranlaßt,
ja genötigt wurde. Mein früheres Verhältnis zur jungen Frau,
eigentlich ein geschwisterliches, ward nach der Heirat fortgesetzt;
meine Jahre sagten den ihrigen zu, ich war der einzige in dem ganzen
Kreise, an dem sie noch einen Widerklang jener geistigen Töne vernahm,
an die sie von Jugend auf gewöhnt war. Wir lebten in einem kindlichen
Vertrauen zusammen fort, und ob sich gleich nichts Leidenschaftliches in
unsern Umgang mischte, so war er doch peinigend genug, weil sie sich
auch in ihre neue Umgebung nicht zu finden wußte und, obwohl mit Glücksgütern
gesegnet, aus dem heiteren Thal-Ehrenbreitstein und einer fröhlichen
Jugend in ein düster gelegenes Handelshaus versetzt, sich schon als
Mutter von einigen Stiefkindern benehmen sollte. In so viel neue
Familienverhältnisse war ich ohne wirklichen Anteil, ohne Mitwirkung
eingeklemmt. War man mit einander zufrieden, so schien sich das von
selbst zu verstehn; aber die meisten Teilnehmer wendeten sich in verdrießlichen
Fällen an mich, die ich durch eine lebhafte Teilnahme mehr zu
verschlimmern als zu verbessern pflegte. Es dauerte nicht lange, so
wurde mir dieser Zustand ganz unerträglich, aller Lebensverdruß, der
aus solchen Halbverhältnissen hervorzugehn pflegt, schien doppelt und
dreifach auf mir zu lasten, und es bedurfte eines neuen gewaltsamen
Entschlusses, mich auch hiervon zu befreien. Jerusalems
Tod, der durch die unglückliche Neigung zu der Gattin eines Freundes
verursacht ward, schüttelte mich aus dem Traum, und weil ich nicht bloß
mit Beschaulichkeit das, was ihm und mir begegnet, betrachtete, sondern
das Ähnliche, was mir im Augenblicke selbst widerfuhr, mich in
leidenschaftliche Bewegung setzte; so konnte es nicht fehlen, daß ich
jener Produktion, die ich eben unternahm, alle die Glut einhauchte,
welche keine Unterscheidung zwischen dem Dichterischen und dem
Wirklichen zuläßt. Ich hatte mich äußerlich völlig isoliert, ja die
Besuche meiner Freunde verbeten, und so legte ich auch innerlich alles
beiseite, was nicht unmittelbar hierher gehörte. Dagegen faßte ich
alles zusammen, was einigen Bezug auf meinen Vorsatz hatte, und
wiederholte mir mein nächstes Leben, von dessen Inhalt ich noch keinen
dichterischen Gebrauch gemacht hatte. Unter solchen Umständen, nach so
langen und vielen geheimen Vorbereitungen, schrieb ich den "Werther
" in vier Wochen, ohne daß ein Schema des Ganzen, oder die
Behandlung eines Teils irgend vorher wäre zu Papier gebracht gewesen. Das
nunmehr fertige Manuskript lag im Konzept, mit wenigen Korrekturen und
Abänderungen, vor mir. Es ward sogleich geheftet: denn der Band dient
der Schrift ungefähr wie der Rahmen einem Bilde: man sieht viel eher,
ob sie denn auch in sich wirklich bestehe. Da ich dieses Werklein
ziemlich unbewußt, einem Nachtwandler ähnlich, geschrieben hatte, so
verwunderte ich mich selbst darüber, als ich es nun durchging, um daran
etwas zu ändern und zu bessern. Doch in Erwartung, daß nach einiger
Zeit, wenn ich es in gewisser Entfernung besähe, mir manches beigehen würde,
das noch zu seinem Vorteil gereichen könnte, gab ich es meinen jüngeren
Freunden zu lesen, auf die es eine desto größere Wirkung tat, als ich,
gegen meine Gewohnheit, vorher niemanden davon erzählt, noch meine
Absicht entdeckt hatte. Freilich war es hier abermals der Stoff, der
eigentlich die Wirkung hervorbrachte, und so waren sie gerade in einer
der meinigen entgegengesetzten Stimmung: denn ich hatte mich durch diese
Komposition, mehr als durch jede andere, aus einem stürmischen Elemente
gerettet, auf dem ich durch eigne und fremde Schuld, durch zufällige
und gewählte Lebensweise, durch Vorsatz und Übereilung, durch Hartnäckigkeit
und Nachgeben auf die gewaltsamste Art hin und wider getrieben worden.
Ich fühlte mich, wie nach einer Generalbeichte, wieder froh und frei,
und zu einem neuen Leben berechtigt. Das alte Hausmittel war mir diesmal
vortrefflich zustatten gekommen. Wie ich mich nun aber dadurch
erleichtert und aufgeklärt fühlte, die Wirklichkeit in Poesie
verwandelt zu haben, so verwirrten sich meine Freunde daran, indem sie
glaubten, man müsse die Poesie in Wirklichkeit verwandeln, einen
solchen Roman nachspielen und sich allenfalls selbst erschießen; und
was hier im Anfang unter wenigen vorging, ereignete sich nachher im großen
Publikum und dieses Büchlein, was mir so viel genützt hatte, ward als
höchst schädlich verrufen. Allen
den Übeln jedoch und dem Unglück, das es hervorgebracht haben soll, wäre
zufälligerweise beinahe vorgebeugt worden, als es, bald nach seiner
Entstehung, Gefahr lief vernichtet zu werden; und damit verhielt sich's
also: Merck war seit kurzem von Petersburg zurückgekommen. Ich hatte
ihn, weil er immer beschäftigt war, nur wenig gesprochen, und ihm von
diesem "Werther ", der mir am Herzen lag, nur das Allgemeinste
eröffnen können. Einst besuchte er mich, und als er nicht sehr gesprächig
schien, bat ich ihn, mir zuzuhören. Er setzte sich aufs Kanapee, und
ich begann, Brief vor Brief, das Abenteuer vorzutragen. Nachdem ich eine
Weile so fortgefahren hatte, ohne ihm ein Beifallszeichen abzulocken,
griff ich mich noch pathetischer an, und wie ward mir zu Mute, als er
mich, da ich eine Pause machte, mit einem "Nun ja! es ist ganz hübsch
" auf das schrecklichste niederschlug, und sich, ohne etwas weiter
hinzuzufügen, entfernte. Ich war ganz außer mir: denn wie ich wohl
Freude an meinen Sachen, aber in der ersten Zeit kein Urteil über sie
hatte, so glaubte ich ganz sicher, ich habe mich im Sujet, im Ton, im
Stil, die denn freilich alle bedenklich waren, vergriffen, und etwas
ganz Unzulässiges verfertigt. Wäre ein Kaminfeuer zur Hand gewesen,
ich hätte das Werk sogleich hineingeworfen; aber ich ermannte mich
wieder und verbrachte schmerzliche Tage, bis er mir endlich vertraute,
daß er in jenem Moment sich in der schrecklichsten Lage befunden, in
die ein Mensch geraten kann. Er habe deswegen nichts gesehn noch gehört,
und wisse gar nicht, wovon in meinem Manuskripte die Rede sei. Die Sache
hatte sich indessen, insofern sie sich herstellen ließ, wieder
hergestellt, und Merck war in den Zeiten seiner Energie der Mann, sich
ins Ungeheure zu schicken; sein Humor fand sich wieder ein, nur war er
noch bitterer geworden als vorher. Er schalt meinen Vorsatz, den
"Werther " umzuarbeiten, mit derben Ausdrücken, und verlangte
ihn gedruckt zu sehn, wie er lag. Es ward ein sauberes Manuskript davon
besorgt, das nicht lange in meinen Händen blieb: denn zufälligerweise
an demselben Tage, an dem meine Schwester sich mit Georg Schlosser
verheiratete, und das Haus, von einer freudigen Festlichkeit bewegt, glänzte,
traf ein Brief von Weygand aus Leipzig ein, mich um ein Manuskript zu
ersuchen. Ein solches Zusammentreffen hielt ich für ein günstiges
Omen, ich sendete den "Werther " ab, und war sehr zufrieden,
als das Honorar, das ich dafür erhielt, nicht ganz durch die Schulden
verschlungen wurde, die ich um des "Götz von Berlichingen "
willen zu machen genötigt gewesen. Die
Wirkung dieses Büchleins war groß, ja ungeheuer, und vorzüglich
deshalb, weil es genau in die rechte Zeit traf. Denn wie es nur eines
geringen Zündkrauts bedarf, um eine gewaltige Mine zu entschleudern, so
war auch die Explosion welche sich hierauf im Publikum ereignete,
deshalb so mächtig, weil die junge Welt sich schon selbst untergraben
hatte, und die Erschütterung deswegen so groß, weil ein jeder mit
seinen übertriebenen Forderungen, unbefriedigten Leidenschaften und
eingebildeten Leiden zum Ausbruch kam. Man kann von dem Publikum nicht
verlangen, daß es ein geistiges Werk geistig aufnehmen solle.
Eigentlich ward nur der Inhalt, der Stoff beachtet, wie ich schon an
meinen Freunden erfahren hatte, und daneben trat das alte Vorurteil
wieder ein, entspringend aus der Würde eines gedruckten Buchs, daß es
nämlich einen didaktischen Zweck haben müsse. Die wahre Darstellung
aber hat keinen. Sie billigt nicht, sie tadelt nicht, sondern sie
entwickelt die Gesinnungen und Handlungen in ihrer Folge und dadurch
erleuchtet und belehrt sie. Von
Rezensionen nahm ich wenig Notiz. Die Sache war für mich völlig
abgetan, jene guten Leute mochten nun auch sehn, wie sie damit fertig
wurden. Doch verfehlten meine Freunde nicht, diese Dinge zu sammeln,
und, weil sie in meine Ansichten schon mehr eingeweiht waren, sich darüber
lustig zu machen. Die "Freuden des jungen Werther " mit
welchen Nicolai sich hervortat, gaben uns zu mancherlei Scherzen
Gelegenheit. Dieser übrigens brave, verdienst- und kenntnisreiche Mann
hatte schon angefangen, alles niederzuhalten und zu beseitigen, was
nicht zu seiner Sinnesart paßte, die er, geistig sehr beschränkt, für
die echte und einzige hielt. Auch gegen mich mußte er sich sogleich
versuchen, und jene Broschüre kam uns bald in die Hände. Die höchst
zarte Vignette von Chodowiecki machte mir viel Vergnügen; wie ich denn
diesen Künstler über die Maßen verehrte. Das Machwerk selbst war aus
der rohen Hausleinwand zugeschnitten, welche recht derb zu bereiten der
Menschenverstand in seinem Familienkreise sich viel zu schaffen macht.
Ohne Gefühl, daß hier nichts zu vermitteln sei, daß Werthers Jugendblüte
schon von vornherein als vom tödlichen Wurm gestochen erscheine, läßt
der Verfasser meine Behandlung bis Seite 214 gelten, und als der wüste
Mensch sich zum tödlichen Schritte vorbereitet, weiß der einsichtige
psychische Arzt seinem Patienten eine mit Hühnerblut geladene Pistole
unterzuschieben, woraus denn ein schmutziger Spektakel, aber glücklicherweise
kein Unheil hervorgeht. Lotte wird Werthers Gattin, und die ganze Sache
endigt sich zu jedermanns Zufriedenheit. So
viel wüßte ich mich davon zu erinnern: denn es ist mir nie wieder
unter die Augen gekommen. Die Vignette hatte ich ausgeschnitten und
unter meine liebsten Kupfer gelegt. Dann verfaßte ich, zur stillen und
unverfänglichen Rache, ein kleines Spottgedicht, "Nicolai auf
Werthers Grube ", welches sich jedoch nicht mitteilen läßt. Auch
die Lust, alles zu dramatisieren, ward bei dieser Gelegenheit abermals
rege. Ich schrieb einen prosaischen Dialog zwischen Lotte und Werther,
der ziemlich neckisch ausfiel. Werther beschwert sich bitterlich, daß
die Erlösung durch Hühnerblut so schlecht abgelaufen. Er ist zwar am
Leben geblieben, hat sich aber die Augen ausgeschossen. Nun ist er in
Verzweiflung, ihr Gatte zu sein und sie nicht sehen zu können, da ihm
der Anblick ihres Gesamtwesens fast lieber wäre, als die süßen
Einzelnheiten, deren er sich durchs Gefühl versichern darf. Lotten, wie
man sie kennt, ist mit einem blinden Manne auch nicht sonderlich
geholfen, und so findet sich Gelegenheit, Nicolais Beginnen höchlich zu
schelten, daß er sich ganz unberufen in fremde Angelegenheiten mische.
Das Ganze war mit gutem Humor geschrieben, und schilderte mit freier
Vorahndung jenes unglückliche dünkelhafte Bestreben Nicolais, sich mit
Dingen zu befassen, denen er nicht gewachsen war, wodurch er sich und
andern in der Folge viel Verdruß machte, und darüber zuletzt, bei so
entschiedenen Verdiensten, seine literarische Achtung völlig verlor.
Das Originalblatt dieses Scherzes ist niemals abgeschrieben worden und
seit vielen Jahren verstoben. Ich hatte für die kleine Produktion eine
besondere Vorliebe. Die reine heiße Neigung der beiden jungen Personen
war durch die komisch-tragische Lage, in die sie sich versetzt fanden,
mehr erhöht als geschwächt. Die größte Zärtlichkeit waltete
durchaus, und auch der Gegner war nicht bitter, nur humoristisch
behandelt. Nicht ganz so höflich ließ ich das Büchlein selber
sprechen, welches, einen alten Reim nachahmend sich also ausdrückte: Mag
jener dünkelhafte Mann Vorbereitet
auf alles, was man gegen den "Werther " vorbringen würde,
fand ich so viele Widerreden keineswegs verdrießlich; aber daran hatte
ich nicht gedacht, daß mir durch teilnehmende, wohlwollende Seelen eine
unleidliche Qual bereitet sei: denn anstatt daß mir jemand über mein Büchlein,
wie es lag, etwas Verbindliches gesagt hätte, so wollten sie sämtlich
ein für allemal wissen, was denn eigentlich an der Sache wahr sei? worüber
ich denn sehr ärgerlich wurde, und mich meistens höchst unartig
dagegen äußerte. Denn diese Frage zu beantworten, hätte ich mein
Werkchen, an dem ich so lange gesonnen, um so manchen Elementen eine
poetische Einheit zu geben, wieder zerrupfen und die Form zerstören müssen,
wodurch ja die wahrhaften Bestandteile selbst nicht vernichtet,
wenigstens zerstreut und verzettelt worden wären. Näher betrachtet,
konnte ich jedoch dem Publikum die Forderung nicht verübeln. Jerusalems
Schicksal hatte großes Aufsehen gemacht. Ein gebildeter, liebenswerter,
unbescholtener junger Mann, der Sohn eines der ersten Gottesgelehrten
und Schriftstellers, gesund und wohlhabend, ging auf einmal, ohne
bekannte Veranlassung, aus der Welt. Jedermann fragte nun, wie das möglich
gewesen, und als man von einer unglücklichen Liebe vernahm, war die
ganze Jugend, als man von kleinen Verdrießlichkeiten, die ihm in
vornehmerer Gesellschaft begegnet, sprach, der ganze Mittelstand
aufgeregt, und jedermann wünschte das Genauere zu erfahren. Nun
erschien im "Werther " eine ausführliche Schilderung, in der
man das Leben und die Sinnesart des genannten Jünglings wieder zu
finden meinte. Lokalität und Persönlichkeit trafen zu, und bei der großen
Natürlichkeit der Darstellung glaubte man sich nun vollkommen
unterrichtet und befriedigt. Dagegen aber, bei näherer Betrachtung, paßte
wieder so vieles nicht, und es entstand für die, welche das Wahre
suchten, ein unerträgliches Geschäft, indem eine sondernde Kritik
hundert Zweifel erregen muß. Auf den Grund der Sache war aber gar nicht
zu kommen: denn was ich von meinem Leben und Leiden der Komposition
zugewendet hatte, ließ sich nicht entziffern, indem ich, als ein
unbemerkter junger Mensch, mein Wesen zwar nicht heimlich, aber doch im
stillen getrieben hatte. Bei
meiner Arbeit war mir nicht unbekannt, wie sehr begünstigt jener Künstler
gewesen, dem man Gelegenheit gab, eine Venus aus mehreren Schönheiten
herauszustudieren, und so nahm ich mir auch die Erlaubnis, an der
Gestalt und den Eigenschaften mehrerer hübschen Kinder meine Lotte zu
bilden, obgleich die Hauptzüge von der geliebtesten genommen waren. Das
forschende Publikum konnte daher Ähnlichkeiten von verschiedenen
Frauenzimmern entdecken, und den Damen war es auch nicht ganz gleichgültig,
für die rechte zu gelten. Diese mehreren Lotten aber brachten mir
unendliche Qual, weil jedermann, der mich nur ansah, entschieden zu
wissen verlangte, wo denn die eigentliche wohnhaft sei? Ich suchte mir
wie Nathan mit den drei Ringen durchzuhelfen, auf einem Auswege, der
freilich höheren Wesen zukommen mag, wodurch sich aber weder das gläubige,
noch das lesende Publikum will befriedigen lassen. Dergleichen peinliche
Forschungen hoffte ich in einiger Zeit loszuwerden; allein sie
begleiteten mich durchs ganze Leben. Ich suchte mich davor auf Reisen
durchs Inkognito zu retten, aber auch dieses Hülfsmittel wurde mir
unversehens vereitelt, und so war der Verfasser jenes Werkleins, wenn er
ja etwas Unrechtes und Schädliches getan, dafür genugsam, ja übermäßig
durch solche unausweichliche Zudringlichkeiten bestraft. Auf
diese Weise bedrängt, ward er nur allzu sehr gewahr, daß Autoren und
Publikum durch eine ungeheuere Kluft getrennt sind, wovon sie, zu ihrem
Glück, beiderseits keinen Begriff haben. Wie vergeblich daher alle
Vorreden seien, hatte er schon längst eingesehen: denn je mehr man
seine Absicht klar zu machen gedenkt, zu desto mehr Verwirrung gibt man
Anlaß. Ferner mag ein Autor bevorworten so viel er will, das Publikum
wird immer fortfahren, die Forderungen an ihn zu machen, die er schon
abzulehnen suchte. Mit
einer verwandten Eigenheit der Leser, die uns besonders bei denen,
welche ihr Urteil drucken lassen, ganz komisch auffällt, ward ich
gleichfalls früh bekannt. Sie leben nämlich in dem Wahn, man werde,
indem man etwas leistet, ihr Schuldner, und bleibe jederzeit noch weit
zurück hinter dem, was sie eigentlich wollten und wünschten, ob sie
gleich kurz vorher, ehe sie unsere Arbeit gesehn, noch gar keinen
Begriff hatten, daß so etwas vorhanden oder nur möglich sein könnte.
Alles dieses beiseitegesetzt, so war nun das größte Glück oder Unglück,
daß jedermann von diesem seltsamen jungen Autor, der so unvermutet und
so kühn hervorgetreten, Kenntnis gewinnen wollte. Man verlangte ihn zu
sehen, zu sprechen, auch in der Ferne etwas von ihm zu vernehmen, und so
hatte er einen höchst bedeutenden, bald erfreulichen bald
unerquicklichen, immer aber zerstreuenden Zudrang zu erfahren. Denn es
lagen angefangene Arbeiten genug vor ihm, ja es wäre für einige Jahre
hinreichend zu tun gewesen, wenn er mit hergebrachter Liebe sich daran hätte
halten können; aber er war aus der Stille, der Dämmerung, der
Dunkelheit, welche ganz allein die reinen Produktionen begünstigen
kann, in den Lärmen des Tageslichts hervorgezogen, wo man sich in
anderen verliert, wo man irre gemacht wird durch Teilnahme wie durch Kälte,
durch Lob und durch Tadel, weil diese äußern Berührungen niemals mit
der Epoche unserer innern Kultur zusammentreffen, und uns daher, da sie
nicht fördern können, notwendig schaden müssen. Doch
mehr als alle Zerstreuungen des Tags hielt den Verfasser von Bearbeitung
und Vollendung größerer Werke die Lust ab, die über jene Gesellschaft
gekommen war, alles, was im Leben einigermaßen Bedeutendes vorging, zu
dramatisieren. Was dieses Kunstwort (denn ein solches war es, in jener
produktiven Gesellschaft) eigentlich bedeutete, ist hier auseinander zu
setzen. Durch ein geistreiches Zusammensein an den heitersten Tagen
aufgeregt, gewöhnte man sich, in augenblicklichen kurzen Darstellungen
alles dasjenige zu zersplittern, was man sonst zusammengehalten hatte,
um größere Kompositionen daraus zu erbauen. Ein einzelner einfacher
Vorfall, ein glückliches naives, ja ein albernes Wort, ein Mißverstand,
eine Paradoxie, eine geistreiche Bemerkung, persönliche Eigenheiten
oder Angewohnheiten, ja eine bedeutende Miene, und was nur immer in
einem bunten rauschenden Leben vorkommen mag, alles ward in Form des
Dialogs, der Katechisation, einer bewegten Handlung, eines Schauspiels
dargestellt, manchmal in Prosa, öfters in Versen. An
dieser genialisch-leidenschaftlich durchgesetzten Übung bestätigte
sich jene eigentlich poetische Denkweise. Man ließ nämlich Gegenstände,
Begebenheiten, Personen an und für sich, sowie in allen Verhältnissen
bestehen, man suchte sie nur deutlich zu fassen und lebhaft abzubilden.
Alles Urteil, billigend oder mißbilligend, sollte sich vor den Augen
des Beschauers in lebendigen Formen bewegen. Man könnte diese
Produktionen belebte Sinngedichte nennen, die, ohne Schärfe und
Spitzen, mit treffenden und entscheidenden Zügen reichlich ausgestattet
waren. Das "Jahrmarktsfest " ist ein solches, oder vielmehr
eine Sammlung solcher Epigramme. Unter allen dort auftretenden Masken
sind wirkliche, in jener Sozietät lebende Glieder, oder ihr wenigstens
verbundene und einigermaßen bekannte Personen gemeint; aber der Sinn
des Rätsels blieb den meisten verborgen, alle lachten, und wenige wußten,
daß ihnen ihre eigensten Eigenheiten zum Scherze dienten. Der
"Prolog zu Bahrdts neuesten Offenbarungen " gilt für einen
Beleg anderer Art; die kleinsten finden sich unter den gemischten
Gedichten, sehr viele sind zerstoben und verloren gegangen, manche noch
übrige lassen sich nicht wohl mitteilen. Was hiervon im Druck
erschienen, vermehrte nur die Bewegung im Publikum, und die Neugierde
auf den Verfasser; was handschriftlich mitgeteilt wurde, belebte den nächsten
Kreis, der sich immer erweiterte. Doktor Bahrdt, damals in Gießen,
besuchte mich, scheinbar höflich und zutraulich; er scherzte über den
"Prolog ", und wünschte ein freundliches Verhältnis. Wir
jungen Leute aber fuhren fort, kein geselliges Fest zu begehen, ohne mit
stiller Schadenfreude uns der Eigenheiten zu erfreuen, die wir an andern
bemerkt und glücklich dargestellt hatten. Mißfiel
es nun dem jungen Autor keineswegs, als ein literarisches Meteor
angestaunt zu werden; so suchte er mit freudiger Bescheidenheit den bewährtesten
Männern des Vaterlands seine Achtung zu bezeigen, unter denen vor allen
andern der herrliche Justus Möser zu nennen ist. Dieses
unvergleichlichen Mannes kleine Aufsätze, staatsbürgerlichen Inhalts,
waren schon seit einigen Jahren in den "Osnabrücker Intelligenzblättern
" abgedruckt, und mir durch Herder bekannt geworden, der nichts
ablehnte, was irgend würdig, zu seiner Zeit, besonders aber im Druck
sich hervortat. Mösers Tochter, Frau von Voigts, war beschäftigt,
diese zerstreuten Blätter zu sammeln. Wir konnten die Herausgabe kaum
erwarten, und ich setzte mich mit ihr in Verbindung, um mit aufrichtiger
Teilnahme zu versichern, daß die für einen bestimmten Kreis
berechneten wirksamen Aufsätze, sowohl der Materie als der Form nach,
überall zum Nutzen und Frommen dienen würden. Sie und ihr Vater nahmen
diese Äußerung eines nicht ganz unbekannten Fremdlings gar wohl auf,
indem eine Besorgnis, die sie gehegt, durch diese Erklärung vorläufig
gehoben worden. An
diesen kleinen Aufsätzen, welche, sämtlich in einem Sinne verfaßt,
ein wahrhaft Ganzes ausmachen, ist die innigste Kenntnis des bürgerlichen
Wesens im höchsten Grade merkwürdig und rühmenswert. Wir sehen eine
Verfassung auf der Vergangenheit ruhn, und noch als lebendig bestehn.
Von der einen Seite hält man am Herkommen fest, von der andern kann man
die Bewegung und Veränderung der Dinge nicht hindern. Hier fürchtet
man sich vor einer nützlichen Neuerung, dort hat man Lust und Freude am
Neuen, auch wenn es unnütz, ja schädlich wäre. Wie vorurteilsfrei
setzt der Verfasser die Verhältnisse der Stände aus einander, sowie
den Bezug, in welchem die Städte, Flecken und Dörfer wechselseitig
stehn. Man erfährt ihre Gerechtsame zugleich mit den rechtlichen Gründen,
es wird uns bekannt, wo das Grundkapital des Staats liegt und was es für
Interessen bringt. Wir sehen den Besitz und seine Vorteile, dagegen aber
auch die Abgaben und Nachteile verschiedener Art, sodann den
mannigfaltigen Erwerb; hier wird gleichfalls die ältere und neuere Zeit
einander entgegengesetzt. Osnabrück,
als Glied der Hanse, finden wir in der ältern Epoche in großer
Handelstätigkeit. Nach jenen Zeitverhältnissen hat es eine merkwürdige
und schöne Lage; es kann sich die Produkte des Landes zueignen, und ist
nicht allzu weit von der See entfernt, um auch dort selbst mitzuwirken.
Nun aber, in der späteren Zeit, liegt es schon tief in der Mitte des
Landes, es wird nach und nach vom Seehandel entfernt und ausgeschlossen.
Wie dies zugegangen, wird von vielen Seiten dargestellt. Zur Sprache
kommt der Konflikt Englands und der Küsten, der Häfen und des
Mittellandes; hier werden die großen Vorteile derer, welche der See
anwohnen, herausgesetzt, und ernstliche Vorschläge getan, wie die
Bewohner des Mittellandes sich dieselben gleichfalls zueignen könnten.
Sodann erfahren wir gar manches von Gewerben und Handwerken, und wie
solche durch Fabriken überflügelt, durch Krämerei untergraben werden;
wir sehen den Verfall, als den Erfolg von mancherlei Ursachen, und
diesen Erfolg wieder als die Ursache neuen Verfalls, in einem ewigen
schwer zu lösenden Zirkel; doch zeichnet ihn der wackere Staatsbürger
auf eine so deutliche Weise hin, daß man noch glaubt, sich daraus
retten zu können. Durchaus läßt der Verfasser die gründlichste
Einsicht in die besondersten Umstände sehen. Seine Vorschläge, sein
Rat, nichts ist aus der Luft gegriffen, und doch so oft nicht ausführbar,
deswegen er auch die Sammlung "Patriotische Phantasien "
genannt, obgleich alles sich darin an das Wirkliche und Mögliche hält. Da
nun aber alles Öffentliche auf dem Familienwesen ruht, so wendet er
auch dahin vorzüglich seinen Blick. Als Gegenstände seiner ernsten und
scherzhaften Betrachtungen finden wir die Veränderung der Sitten und
Gewohnheiten, der Kleidungen, der Diät, des häuslichen Lebens, der
Erziehung. Man müßte eben alles, was in der bürgerlichen und
sittlichen Welt vorgeht, rubrizieren, wenn man die Gegenstände erschöpfen
wollte, die er behandelt. Und diese Behandlung ist bewundernswürdig.
Ein vollkommener Geschäftsmann spricht zum Volke in Wochenblättern, um
dasjenige, was eine einsichtige wohlwollende Regierung sich vornimmt
oder ausführt, einem jeden von der rechten Seite faßlich zu machen;
keineswegs aber lehrhaft, sondern in den mannigfaltigsten Formen, die
man poetisch nennen könnte, und die gewiß in dem besten Sinn für
rhetorisch gelten müssen. Immer ist er über seinen Gegenstand erhaben,
und weiß uns eine heitere Ansicht des Ernstesten zu geben, bald hinter
dieser bald hinter jener Maske halb versteckt, bald in eigner Person
sprechend, immer vollständig und erschöpfend, dabei immer froh, mehr
oder weniger ironisch, durchaus tüchtig, rechtschaffen, wohlmeinend, ja
manchmal derb und heftig, und dieses alles so abgemessen, daß man
zugleich den Geist, den Verstand, die Leichtigkeit, Gewandtheit, den
Geschmack und Charakter des Schriftstellers bewundern muß. In Absicht
auf Wahl gemeinnütziger Gegenstände, auf tiefe Einsicht, freie Übersicht,
glückliche Behandlung, so gründlichen als frohen Humor wüßte ich ihm
niemand als Franklin zu vergleichen. Ein
solcher Mann imponierte uns unendlich und hatte den größten Einfluß
auf eine Jugend, die auch etwas Tüchtiges wollte, und im Begriff stand,
es zu erfassen. In die Formen seines Vortrags glaubten wir uns wohl auch
finden zu können; aber wer durfte hoffen, sich eines so reichen Gehalts
zu bemächtigen, und die widerspenstigsten Gegenstände mit so viel
Freiheit zu handhaben? Doch
das ist unser schönster und süßester Wahn, den wir nicht aufgeben dürfen,
ob er uns gleich viel Pein im Leben verursacht, daß wir das, was wir
schätzen und verehren, uns auch wo möglich zueignen, ja aus uns selbst
hervorbringen und darstellen möchten.
|
|
<zurück | Inhalt | weiter> |
Wolfgang
Peter, Ketzergasse 261/3,
A-2380 Perchtoldsdorf, Austria Tel/Fax: +43-1- 86 59 103 Mobil: 0676 9
414 616 |
|