http://goethe.odysseetheater.com |
Johann Wolfgang
|
Vierzehntes BuchMit
jener Bewegung nun, welche sich im Publikum verbreitete, ergab sich eine
andere, für den Verfasser vielleicht von größerer Bedeutung, indem
sie sich in seiner nächsten Umgebung ereignete. Ältere Freunde, welche
jene Dichtungen, die nun so großes Aufsehen machten, schon im
Manuskript gekannt hatten, und sie deshalb zum Teil als die ihrigen
ansahen, triumphierten über den guten Erfolg, den sie, kühn genug, zum
voraus geweissagt. Zu ihnen fanden sich neue Teilnehmer, besonders
solche, welche selbst eine produktive Kraft in sich spürten, oder zu
erregen und zu hegen wünschten. Unter
den erstern tat sich Lenz am lebhaftesten und gar sonderbar hervor. Das
Äußerliche dieses merkwürdigen Menschen ist schon umrissen, seines
humoristischen Talents mit Liebe gedacht; nun will ich von seinem
Charakter mehr in Resultaten als schildernd sprechen, weil es unmöglich
wäre, ihn durch die Umschweife seines Lebensganges zu begleiten, und
seine Eigenheiten darstellend zu überliefern. Man
kennt jene Selbstquälerei, welche, da man von außen und von andern
keine Not hatte, an der Tagesordnung war, und gerade die vorzüglichsten
Geister beunruhigte. Was gewöhnliche Menschen, die sich nicht selbst
beobachten, nur vorübergehend quält, was sie sich aus dem Sinn zu
schlagen suchen, das ward von den besseren scharf bemerkt, beachtet, in
Schriften, Briefen und Tagebüchern aufbewahrt. Nun aber gesellten sich
die strengsten sittlichen Forderungen an sich und andere zu der größten
Fahrlässigkeit im Tun, und ein aus dieser halben Selbsterkenntnis
entspringender Dünkel verführte zu den seltsamsten Angewohnheiten und
Unarten. Zu einem solchen Abarbeiten in der Selbstbeobachtung
berechtigte jedoch die aufwachende empirische Psychologie, die nicht
gerade alles, was uns innerlich beunruhigt, für bös und verwerflich
erklären wollte, aber doch auch nicht alles billigen konnte; und so war
ein ewiger nie beizulegender Streit erregt. Diesen zu führen und zu
unterhalten, übertraf nun Lenz alle übrigen Un- oder Halbbeschäftigten,
welche ihr Inneres untergruben, und so litt er im allgemeinen von der
Zeitgesinnung, welche durch die Schilderung Werthers abgeschlossen sein
sollte; aber ein individueller Zuschnitt unterschied ihn von allen übrigen,
die man durchaus für offene redliche Seelen anerkennen mußte. Er hatte
nämlich einen entschiedenen Hang zur Intrige, und zwar zur Intrige an
sich, ohne daß er eigentliche Zwecke, verständige, selbstische,
erreichbare Zwecke dabei gehabt hätte; vielmehr pflegte er sich immer
etwas Fratzenhaftes vorzusetzen, und eben deswegen diente es ihm zur
beständigen Unterhaltung. Auf diese Weise war er zeitlebens ein Schelm
in der Einbildung, seine Liebe wie sein Haß waren imaginär, mit seinen
Vorstellungen und Gefühlen verfuhr er willkürlich, damit er immerfort
etwas zu tun haben möchte. Durch die verkehrtesten Mittel suchte er
seinen Neigungen und Abneigungen Realität zu geben, und vernichtete
sein Werk immer wieder selbst; und so hat er niemanden, den er liebte,
jemals genützt, niemanden, den er haßte, jemals geschadet, und im
ganzen schien er nur zu sündigen, um sich zu strafen, nur zu
intrigieren, um eine neue Fabel auf eine alte pfropfen zu können. Aus
wahrhafter Tiefe, aus unerschöpflicher Produktivität ging sein Talent
hervor, in welchem Zartheit, Beweglichkeit und Spitzfindigkeit mit
einander wetteiferten, das aber, bei aller seiner Schönheit, durchaus
kränkelte, und gerade diese Talente sind am schwersten zu beurteilen.
Man konnte in seinen Arbeiten große Züge nicht verkennen; eine
liebliche Zärtlichkeit schleicht sich durch zwischen den albernsten und
barockesten Fratzen, die man selbst einem so gründlichen und
anspruchlosen Humor, einer wahrhaft komischen Gabe kaum verzeihen kann.
Seine Tage waren aus lauter Nichts zusammengesetzt, dem er durch seine Rührigkeit
eine Bedeutung zu geben wußte, und er konnte um so mehr viele Stunden
verschlendern, als die Zeit, die er zum Lesen anwendete, ihm, bei einem
glücklichen Gedächtnis, immer viel Frucht brachte, und seine
originelle Denkweise mit mannigfaltigem Stoff bereicherte. Man
hatte ihn mit livländischen Kavalieren nach Straßburg gesendet, und
einen Mentor nicht leicht unglücklicher wählen können. Der ältere
Baron ging für einige Zeit ins Vaterland zurück, und hinterließ eine
Geliebte, an die er fest geknüpft war. Lenz, um den zweiten Bruder, der
auch um dieses Frauenzimmer warb, und andere Liebhaber zurückzudrängen
und das kostbare Herz seinem abwesenden Freunde zu erhalten, beschloß
nun, selbst sich in die Schöne verliebt zu stellen, oder, wenn man
will, zu verlieben. Er setzte diese seine These mit der hartnäckigsten
Anhänglichkeit an das Ideal, das er sich von ihr gemacht hatte, durch,
ohne gewahr werden zu wollen, daß er so gut als die übrigen ihr nur
zum Scherz und zur Unterhaltung diene. Desto besser für ihn! denn bei
ihm war es auch nur Spiel, welches desto länger dauern konnte, als sie
es ihm gleichfalls spielend erwiderte, ihn bald anzog, bald abstieß,
bald hervorrief, bald hintansetzte. Man sei überzeugt, daß, wenn er
zum Bewußtsein kam, wie ihm denn das zuweilen zu geschehen pflegte, er
sich zu einem solchen Fund recht behaglich Glück gewünscht habe. Übrigens
lebte er, wie seine Zöglinge, meistens mit Offizieren der Garnison,
wobei ihm die wundersamen Anschauungen, die er später in dem Lustspiel
"Die Soldaten " aufstellte, mögen geworden sein. Indessen
hatte diese frühe Bekanntschaft mit dem Militär die eigene Folge für
ihn, daß er sich für einen großen Kenner des Waffenwesens hielt; auch
hatte er wirklich dieses Fach nach und nach so im Detail studiert, daß
er, einige Jahre später, ein großes Memoire an den französischen
Kriegsminister aufsetzte, wovon er sich den besten Erfolg versprach. Die
Gebrechen jenes Zustandes waren ziemlich gut gesehn, die Heilmittel
dagegen lächerlich und unausführbar. Er aber hielt sich überzeugt, daß
er dadurch bei Hofe großen Einfluß gewinnen könne, und wußte es den
Freunden schlechten Dank, die ihn, teils durch Gründe, teils durch tätigen
Widerstand, abhielten, dieses phantastische Werk, das schon sauber
abgeschrieben, mit einem Briefe begleitet, kuvertiert und förmlich
adressiert war, zurückzuhalten, und in der Folge zu verbrennen. Mündlich
und nachher schriftlich hatte er mir die sämtlichen Irrgänge seiner
Kreuz- und Querbewegungen in bezug auf jenes Frauenzimmer vertraut. Die
Poesie, die er in das Gemeinste zu legen wußte, setzte mich oft in
Erstaunen, so daß ich ihn dringend bat, den Kern dieses weitschweifigen
Abenteuers geistreich zu befruchten, und einen kleinen Roman daraus zu
bilden; aber es war nicht seine Sache, ihm konnte nicht wohl werden, als
wenn er sich grenzenlos im einzelnen verfloß und sich an einem
unendlichen Faden ohne Absicht hinspann. Vielleicht wird es dereinst möglich,
nach diesen Prämissen, seinen Lebensgang, bis zu der Zeit, da er sich
in Wahnsinn verlor, auf irgend eine Weise anschaulich zu machen; gegenwärtig
halte ich mich an das Nächste, was eigentlich hierher gehört. Kaum
war "Götz von Berlichingen " erschienen, als mir Lenz einen
weitläuftigen Aufsatz zusendete, auf geringes Konzeptpapier
geschrieben, dessen er sich gewöhnlich bediente, ohne den mindesten
Rand weder oben noch unten noch an den Seiten zu lassen. Diese Blätter
waren betitelt "Über unsere Ehe ", und sie würden, wären
sie noch vorhanden, uns gegenwärtig mehr aufklären als mich damals, da
ich über ihn und sein Wesen noch sehr im Dunkeln schwebte. Das
Hauptabsehen dieser weitläuftigen Schrift war, mein Talent und das
seinige nebeneinander zu stellen; bald schien er sich mir zu
subordinieren, bald sich mir gleichzusetzen; das alles aber geschah mit
so humoristischen und zierlichen Wendungen, daß ich die Ansicht, die er
mir dadurch geben wollte, um so lieber aufnahm, als ich seine Gaben
wirklich sehr hoch schätzte und immer nur darauf drang, daß er aus dem
formlosen Schweifen sich zusammenziehen, und die Bildungsgabe, die ihm
angeboren war, mit kunstgemäßer Fassung benutzen möchte. Ich
erwiderte sein Vertrauen freundlichst, und weil er in seinen Blättern
auf die innigste Verbindung drang (wie denn auch schon der wunderliche
Titel andeutete), so teilte ich ihm von nun an alles mit, sowohl das
schon Gearbeitete, als was ich vorhatte; er sendete mir dagegen nach und
nach seine Manuskripte, den "Hofmeister ", den "Neuen
Menoza ", "Die Soldaten ", Nachbildungen des Plautus, und
jene Übersetzung des englischen Stücks als Zugabe zu den
"Anmerkungen über das Theater ". Bei
diesen war es mir einigermaßen auffallend, daß er in einem lakonischen
Vorberichte sich dahin äußerte, als sei der Inhalt dieses Aufsatzes,
der mit Heftigkeit gegen das regelmäßige Theater gerichtet war, schon
vor einigen Jahren, als Vorlesung, einer Gesellschaft von
Literaturfreunden bekannt geworden, zu der Zeit also, wo "Götz
" noch nicht geschrieben gewesen. In Lenzens Straßburger Verhältnissen
schien ein literarischer Zirkel, den ich nicht kennen sollte, etwas
problematisch; allein ich ließ es hingehen, und verschaffte ihm zu
dieser wie zu seinen übrigen Schriften bald Verleger, ohne auch nur im
mindesten zu ahnden, daß er mich zum vorzüglichsten Gegenstande seines
imaginären Hasses, und zum Ziel einer abenteuerlichen und grillenhaften
Verfolgung ausersehn hatte. Vorübergehend
will ich nur, der Folge wegen, noch eines guten Gesellen gedenken, der,
obgleich von keinen außerordentlichen Gaben, doch auch mitzählte. Er
hieß Wagner, erst ein Glied der Straßburger, dann der Frankfurter
Gesellschaft; nicht ohne Geist, Talent und Unterricht. Er zeigte sich
als ein Strebender, und so war er willkommen. Auch hielt er treulich an
mir, und weil ich aus allem, was ich vorhatte, kein Geheimnis machte, so
erzählte ich ihm wie andern meine Absicht mit "Faust ",
besonders die Katastrophe von Gretchen. Er faßte das Sujet auf, und
benutzte es für ein Trauerspiel, "Die Kindesmörderin ". Es
war das erstemal, daß mir jemand etwas von meinen Vorsätzen
wegschnappte; es verdroß mich, ohne daß ich's ihm nachgetragen hätte.
Ich habe dergleichen Gedankenraub und Vorwegnahmen nachher noch oft
genug erlebt, und hatte mich, bei meinem Zaudern und Beschwätzen so
manches Vorgesetzten und Eingebildeten, nicht mit Recht zu beschweren. Wenn
Redner und Schriftsteller, in Betracht der großen Wirkung, welche
dadurch hervorzubringen ist, sich gern der Kontraste bedienen, und
sollten sie auch erst aufgesucht und herbeigeholt werden, so muß es dem
Verfasser um so angenehmer sein, daß ein entschiedener Gegensatz sich
ihm anbietet, indem er nach Lenzen von Klingern zu sprechen hat. Beide
waren gleichzeitig, bestrebten sich in ihrer Jugend mit und neben
einander. Lenz jedoch, als ein vorübergehendes Meteor, zog nur
augenblicklich über den Horizont der deutschen Literatur hin und
verschwand plötzlich, ohne im Leben eine Spur zurückzulassen; Klinger
hingegen, als einflußreicher Schriftsteller, als tätiger Geschäftsmann,
erhält sich noch bis auf diese Zeit. Von ihm werde ich nun ohne weitere
Vergleichung, die sich von selbst ergibt, sprechen, insofern es nötig
ist, da er nicht im Verborgenen so manches geleistet und so vieles
gewirkt, sondern beides, in weiterem und näherem Kreise, noch in gutem
Andenken und Ansehn steht. Klingers
Äußeres - denn von diesem beginne ich immer am liebsten - war sehr
vorteilhaft. Die Natur hatte ihm eine große, schlanke, wohlgebaute
Gestalt und eine regelmäßige Gesichtsbildung gegeben; er hielt auf
seine Person, trug sich nett, und man konnte ihn für das hübscheste
Mitglied der ganzen kleinen Gesellschaft ansprechen. Sein Betragen war
weder zuvorkommend noch abstoßend, und, wenn es nicht innerlich stürmte,
gemäßigt. Man
liebt an dem Mädchen was es ist, und an dem Jüngling was er ankündigt,
und so war ich Klingers Freund, sobald ich ihn kennen lernte. Er empfahl
sich durch eine reine Gemütlichkeit, und ein unverkennbar entschiedener
Charakter erwarb ihm Zutrauen. Auf ein ernstes Wesen war er von Jugend
auf hingewiesen; er, nebst einer ebenso schönen und wackern Schwester,
hatte für eine Mutter zu sorgen, die, als Witwe, solcher Kinder
bedurfte, um sich aufrecht zu erhalten. Alles, was an ihm war, hatte er
sich selbst verschafft und geschaffen, so daß man ihm einen Zug von
stolzer Unabhängigkeit, der durch sein Betragen durchging, nicht
verargte. Entschiedene natürliche Anlagen, welche allen wohlbegabten
Menschen gemein sind, leichte Fassungskraft, vortreffliches Gedächtnis,
Sprachengabe besaß er in hohem Grade; aber alles schien er weniger zu
achten als die Festigkeit und Beharrlichkeit, die sich ihm, gleichfalls
angeboren, durch Umstände völlig bestätigt hatten. Einem
solchen Jüngling mußten Rousseaus Werke vorzüglich zusagen.
"Emil " war sein Haupt- und Grundbuch, und jene Gesinnungen
fruchteten um so mehr bei ihm, als sie über die ganze gebildete Welt
allgemeine Wirkung ausübten, ja bei ihm mehr als bei andern. Denn auch
er war ein Kind der Natur, auch er hatte von unten auf angefangen; das,
was andere wegwerfen sollten, hatte er nie besessen, Verhältnisse, aus
welchen sie sich retten sollten, hatten ihn nie beengt; und so konnte er
für einen der reinsten Jünger jenes Naturevangeliums angesehen werden,
und, in Betracht seines ernsten Bestrebens, seines Betragens als Mensch
und Sohn, recht wohl ausrufen: "Alles ist gut, wie es aus den Händen
der Natur kommt! " - Aber auch den Nachsatz: "Alles
verschlimmert sich unter den Händen der Menschen! " drängte ihm
eine widerwärtige Erfahrung auf. Er hatte nicht mit sich selbst, aber
außer sich mit der Welt des Herkommens zu kämpfen, von deren Fesseln
der Bürger von Genf uns zu erlösen gedachte. Weil nun, in des Jünglings
Lage, dieser Kampf oft schwer und sauer ward, so fühlte er sich
gewaltsamer in sich zurückgetrieben, als daß er durchaus zu einer so
frohen und freudigen Ausbildung hätte gelangen können: vielmehr mußte
er sich durchstürmen, durchdrängen; daher sich ein bitterer Zug in
sein Wesen schlich, den er in der Folge zum Teil gehegt und genährt,
mehr aber bekämpft und besiegt hat. In
seinen Produktionen, insofern sie mir gegenwärtig sind, zeigt sich ein
strenger Verstand, ein biederer Sinn, eine rege Einbildungskraft, eine
glückliche Beobachtung der menschlichen Mannigfaltigkeit und eine
charakteristische Nachbildung der generischen Unterschiede. Seine Mädchen
und Knaben sind frei und lieblich, seine Jünglinge glühend, seine Männer
schlicht und verständig, die Figuren, die er ungünstig darstellt,
nicht zu sehr übertrieben; ihm fehlt es nicht an Heiterkeit und guter
Laune, Witz und glücklichen Einfällen; Allegorien und Symbole stehen
ihm zu Gebot; er weiß uns zu unterhalten und zu vergnügen, und der
Genuß würde noch reiner sein, wenn er sich und uns den heitern
bedeutenden Scherz nicht durch ein bitteres Mißwollen hier und da verkümmerte.
Doch dies macht ihn eben zu dem, was er ist, und dadurch wird ja die
Gattung der Lebenden und Schreibenden so mannigfaltig, daß ein jeder
theoretisch zwischen Erkennen und Irren, praktisch zwischen Beleben und
Vernichten hin und wider wogt. Klinger
gehört unter die, welche sich aus sich selbst, aus ihrem Gemüte und
Verstande heraus zur Welt gebildet hatten. Weil nun dieses mit und in
einer größeren Masse geschah, und sie sich unter einander einer verständlichen,
aus der allgemeinen Natur und aus der Volkseigentümlichkeit hergießenden
Sprache mit Kraft und Wirkung bedienten; so waren ihnen früher und später
alle Schulformen äußerst zuwider, besonders wenn sie, von ihrem
lebendigen Ursprung getrennt, in Phrasen ausarteten, und so ihre erste
frische Bedeutung gänzlich verloren. Wie nun gegen neue Meinungen,
Ansichten, Systeme, so erklären sich solche Männer auch gegen neue
Ereignisse, hervortretende bedeutende Menschen, welche große Veränderungen
ankündigen oder bewirken: ein Verfahren, das ihnen keineswegs zu
verargen ist, weil sie dasjenige von Grund aus gefährdet sehen, dem sie
ihr eignes Dasein und Bildung schuldig geworden. Jenes
Beharren eines tüchtigen Charakters aber wird um desto würdiger, wenn
es sich durch das Welt - und Geschäftsleben durcherhält, und wenn eine
Behandlungsart des Vorkömmlichen, welche manchem schroff, ja gewaltsam
scheinen möchte, zur rechten Zeit angewandt, am sichersten zum Ziele führt.
Dies geschah bei ihm, da er ohne Biegsamkeit (welches ohnedem die Tugend
der geborenen Reichsbürger niemals gewesen), aber desto tüchtiger,
fester und redlicher sich zu bedeutenden Posten erhob, sich darauf zu
erhalten wußte, und mit Beifall und Gnade seiner höchsten Gönner
fortwirkte, dabei aber niemals weder seine alten Freunde, noch den Weg,
den er zurückgelegt, vergaß. Ja, er suchte die vollkommenste
Stetigkeit des Andenkens, durch alle Grade der Abwesenheit und Trennung,
hartnäckig zu erhalten; wie es denn gewiß angemerkt zu werden
verdient, daß er, als ein anderer Willigis, in seinem durch
Ordenszeichen geschmückten Wappen, Merkmale seiner frühesten Zeit zu
verewigen nicht verschmähte. Es
dauerte nicht lange, so kam ich auch mit Lavatern in Verbindung. Der
"Brief des Pastors " an seinen Kollegen hatte ihm stellenweise
sehr eingeleuchtet: denn manches traf mit seinen Gesinnungen vollkommen
überein. Bei seinem unablässigen Treiben ward unser Briefwechsel bald
sehr lebhaft. Er machte soeben ernstliche Anstalten zu seiner größern
Physiognomik, deren Einleitung schon früher in das Publikum gelangt
war. Er forderte alle Welt auf, ihm Zeichnungen, Schattenrisse,
besonders aber Christusbilder zu schicken, und ob ich gleich so gut wie
gar nichts leisten konnte, so wollte er doch von mir ein für allemal
auch einen Heiland gezeichnet haben, wie ich ihn mir vorstellte.
Dergleichen Forderungen des Unmöglichen gaben mir zu mancherlei
Scherzen Anlaß, und ich wußte mir gegen seine Eigenheiten nicht anders
zu helfen, als daß ich die meinigen hervorkehrte. Die
Anzahl derer, welche keinen Glauben an die Physiognomik hatten, oder
doch wenigstens sie für ungewiß und trüglich hielten, war sehr groß,
und sogar viele, die es mit Lavatern gut meinten, fühlten einen Kitzel,
ihn zu versuchen und ihm wo möglich einen Streich zu spielen. Er hatte
sich in Frankfurt, bei einem nicht ungeschickten Maler, die Profile
mehrerer namhaften Menschen bestellt. Der Absender erlaubte sich den
Scherz, Bahrdts Porträt zuerst statt des meinigen abzuschicken, wogegen
eine zwar muntere aber donnernde Epistel zurückkam, mit allen Trümpfen
und Beteuerungen, daß dies mein Bild nicht sei, und was Lavater sonst
alles, zu Bestätigung der Physiognomischen Lehre bei dieser Gelegenheit
mochte zu sagen haben. Mein wirkliches nachgesendetes ließ er eher
gelten; aber auch hier schon tat sich der Widerstreit hervor, in welchem
er sich sowohl mit den Malern als mit den Individuen befand. Jene
konnten ihm niemals wahr und genau genug arbeiten, diese, bei allen Vorzügen,
welche sie haben mochten, blieben doch immer zu weit hinter der Idee zurück,
die er von der Menschheit und den Menschen hegte, als daß er nicht
durch das Besondere, wodurch der einzelne zur Person wird, einigermaßen
hätte abgestoßen werden sollen. Der
Begriff von der Menschheit, der sich in ihm und an seiner Menschheit
herangebildet hatte, war so genau mit der Vorstellung verwandt, die er
von Christo lebendig in sich trug, daß es ihm unbegreiflich schien, wie
ein Mensch leben und atmen könne, ohne zugleich ein Christ zu sein.
Mein Verhältnis zu der christlichen Religion lag bloß in Sinn und Gemüt,
und ich hatte von jener physischen Verwandtschaft, zu welcher Lavater
sich hinneigte, nicht den mindesten Begriff. Ärgerlich war mir daher
die heftige Zudringlichkeit eines so geist- als herzvollen Mannes, mit
der er auf mich sowie auf Mendelssohn und andere losging, und
behauptete, man müsse entweder mit ihm ein Christ, ein Christ nach
seiner Art werden, oder man müsse ihn zu sich hinüberziehen, man müsse
ihn gleichfalls von demjenigen überzeugen, worin man seine Beruhigung
finde. Diese Forderung, so unmittelbar dem liberalen Weltsinn, zu dem
ich mich nach und nach auch bekannte, entgegen stehend, tat auf mich
nicht die beste Wirkung. Alle Bekehrungsversuche, wenn sie nicht
gelingen, machen denjenigen, den man zum Proselyten ausersah, starr und
verstockt, und dieses war um so mehr mein Fall, als Lavater zuletzt mit
dem harten Dilemma hervortrat: Entweder Christ oder Atheist! Ich erklärte
darauf, daß, wenn er mir mein Christentum nicht lassen wollte, wie ich
es bisher gehegt hätte, so könnte ich mich wohl auch zum Atheismus
entschließen, zumal da ich sähe, daß niemand recht wisse, was beides
eigentlich heißen solle. Dieses
Hin- und Widerschreiben, so heftig es auch war, störte das gute Verhältnis
nicht. Lavater hatte eine unglaubliche Geduld, Beharrlichkeit, Ausdauer;
er war seiner Lehre gewiß, und bei dem entschiedenen Vorsatz, seine Überzeugung
in der Welt auszubreiten, ließ er sich's gefallen, was nicht durch
Kraft geschehen konnte, durch Abwarten und Milde durchzuführen. Überhaupt
gehörte er zu den wenigen glücklichen Menschen, deren äußerer Beruf
mit dem Innern vollkommen übereinstimmt, und deren früheste Bildung,
stetig zusammenhängend mit der spätern, ihre Fähigkeiten naturgemäß
entwickelt. Mit den zartesten sittlichen Anlagen geboren, bestimmte er
sich zum Geistlichen. Er genoß des nötigen Unterrichts und zeigte
viele Fähigkeiten, ohne sich jedoch zu jener Ausbildung hinzuneigen,
die man eigentlich gelehrt nennt. Denn auch er, um so viel früher
geboren als wir, ward von dem Freiheits- und Naturgeist der Zeit
ergriffen, der jedem sehr schmeichlerisch in die Ohren raunte: man habe,
ohne viele äußere Hülfsmittel, Stoff und Gehalt genug in sich selbst,
alles komme nur darauf an, daß man ihn gehörig entfalte. Die Pflicht
des Geistlichen, sittlich im täglichen Sinne, religiös im höheren,
auf die Menschen zu wirken, traf mit seiner Denkweise vollkommen überein.
Redliche und fromme Gesinnungen, wie er sie fühlte, den Menschen
mitzuteilen, sie in ihnen zu erregen, war des Jünglings entschiedenster
Trieb, und seine liebste Beschäftigung, wie auf sich selbst, so auf
andere zu merken. Jenes ward ihm durch ein inneres Zartgefühl, dieses
durch einen scharfen Blick auf das Äußere erleichtert, ja
aufgedrungen. Zur Beschaulichkeit war er jedoch nicht geboren, zur
Darstellung im eigentlichen Sinne hatte er keine Gabe; er fühlte sich
vielmehr mit allen seinen Kräften zur Tätigkeit, zur Wirksamkeit gedrängt,
so daß ich niemand gekannt habe, der ununterbrochener handelte als er.
Weil nun aber unser inneres sittliches Wesen in äußeren Bedingungen
verkörpert ist, es sei nun, daß wir einer Familie, einem Stande, einer
Gilde, einer Stadt, oder einem Staate angehören; so mußte er zugleich,
insofern er wirken wollte, alle diese Äußerlichkeiten berühren und in
Bewegung setzen, wodurch denn freilich mancher Anstoß, manche
Verwickelung entsprang, besonders da das Gemeinwesen, als dessen Glied
er geboren war, in der genausten und bestimmtesten Beschränkung einer löblichen
hergebrachten Freiheit genoß. Schon der republikanische Knabe gewöhnt
sich, über das öffentliche Wesen zu denken und mitzusprechen. In der
ersten Blüte seiner Tage sieht sich der Jüngling, als Zunftgenosse,
bald in dem Fall, seine Stimme zu geben und zu versagen. Will er gerecht
und selbständig urteilen, so muß er sich von dem Wert seiner Mitbürger
vor allen Dingen überzeugen, er muß sie kennen lernen, er muß sich
nach ihren Gesinnungen, nach ihren Kräften umtun, und so, indem er
andere zu erforschen trachtet, immer in seinen eignen Busen zurückkehren. In
solchen Verhältnissen übte sich Lavater früh, und eben diese Lebenstätigkeit
scheint ihn mehr beschäftigt zu haben als Sprachstudien, als jene
sondernde Kritik, die mit ihnen verwandt, ihr Grund sowie ihr Ziel ist.
In späteren Jahren, da sich seine Kenntnisse, seine Einsichten
unendlich weit ausgebreitet hatten, sprach er doch im Ernst und Scherz
oft genug aus, daß er nicht gelehrt sei; und gerade einem solchen
Mangel von eindringendem Studium muß man zuschreiben, daß er sich an
den Buchstaben der Bibel, ja der Bibelübersetzung hielt, und freilich für
das, was er suchte und beabsichtigte, hier genügsame Nahrung und Hülfsmittel
fand. Aber
gar bald ward jener zunft- und gildemäßig langsam bewegte
Wirkungskreis dem lebhaften Naturell zu enge. Gerecht zu sein wird dem Jüngling
nicht schwer, und ein reines Gemüt verabscheut die Ungerechtigkeit,
deren es sich selbst noch nicht schuldig gemacht hat. Die Bedrückungen
eines Landvogts lagen offenbar vor den Augen der Bürger, schwerer waren
sie vor Gericht zu bringen. Lavater gesellt sich einen Freund zu, und
beide bedrohen, ohne sich zu nennen, jenen strafwürdigen Mann. Die
Sache wird ruchbar, man sieht sich genötigt, sie zu untersuchen. Der
Schuldige wird bestraft, aber die Veranlasser dieser Gerechtigkeit
werden getadelt, wo nicht gescholten. In einem wohleingerichteten Staate
soll das Rechte selbst nicht auf unrechte Weise geschehn. Auf
einer Reise, die Lavater durch Deutschland macht, setzt er sich mit
gelehrten und wohldenkenden Männern in Berührung; allein er befestigt
sich dabei nur mehr in seinen eignen Gedanken und Überzeugungen; nach
Hause zurückgekommen, wirkt er immer freier aus sich selbst. Als ein
edler guter Mensch, fühlt er in sich einen herrlichen Begriff von der
Menschheit, und was diesem allenfalls in der Erfahrung widerspricht,
alle die unleugbaren Mängel, die einen jeden von der Vollkommenheit
ablenken, sollen ausgeglichen werden durch den Begriff der Gottheit, die
sich, in der Mitte der Zeiten, in die menschliche Natur herabgesenkt, um
ihr früheres Ebenbild vollkommen wiederherzustellen. So
viel vorerst von den Anfängen dieses merkwürdigen Mannes, und nun vor
allen Dingen eine heitere Schilderung unseres persönlichen
Zusammentreffens und Beisammenseins. Denn unser Briefwechsel hatte nicht
lange gedauert, als er mir und andern ankündigte, er werde bald, auf
einer vorzunehmenden Rheinreise, in Frankfurt einsprechen. Sogleich
entstand im Publikum die größte Bewegung; alle waren neugierig, einen
so merkwürdigen Mann zu sehn; viele hofften für ihre sittliche und
religiöse Bildung zu gewinnen; die Zweifler dachten sich mit
bedeutenden Einwendungen hervorzutun, die Einbildischen waren gewiß,
ihn durch Argumente, in denen sie sich selbst bestärkt hatten, zu
verwirren und zu beschämen, und was sonst alles Williges und Unwilliges
einen bemerkten Menschen erwartet, der sich mit dieser gemischten Welt
abzugeben gedenkt. Unser
erstes Begegnen war herzlich; wir umarmten uns aufs freundlichste, und
ich fand ihn gleich, wie mir ihn so manche Bilder schon überliefert
hatten. Ein Individuum, einzig, ausgezeichnet wie man es nicht gesehn
hat und nicht wieder sehn wird, sah ich lebendig und wirksam vor mir. Er
hingegen verriet im ersten Augenblick durch einige sonderbare
Ausrufungen, daß er mich anders erwartet habe. Ich versicherte ihm
dagegen, nach meinem angeborenen und engebildeten Realismus, daß, da es
Gott und der Natur nun einmal gefallen habe, mich so zu machen, wir es
auch dabei wollten bewenden lassen. Nun kamen zwar sogleich die
bedeutendsten Punkte zur Sprache, über die wir uns in Briefen am
wenigsten vereinigen konnten; allein dieselben ausführlich zu
behandeln, ward uns nicht Raum gelassen, und ich erfuhr, was mir noch
nie vorgekommen. Wir
andern, wenn wir uns über Angelegenheiten des Geistes und Herzens
unterhalten wollten, pflegten uns von der Menge, ja von der Gesellschaft
zu entfernen, weil es, bei der vielfachen Denkweise und den
verschiedenen Bildungsstufen, schon schwer fällt, sich auch nur mit
wenigen zu verständigen. Allein Lavater war ganz anders gesinnt; er
liebte seine Wirkungen ins Weite und Breite auszudehnen, ihm ward nicht
wohl als in der Gemeine, für deren Belehrung und Unterhaltung er ein
besonderes Talent besaß, welches auf jener großen physiognomischen
Gabe ruhte. Ihm war eine richtige Unterscheidung der Personen und
Geister verliehen, so daß er einem jeden geschwind ansah, wie ihm
allenfalls zumute sein möchte. Fügte sich hiezu nun ein aufrichtiges
Bekenntnis, eine treuherzige Frage, so wußte er aus der großen Fülle
innerer und äußerer Erfahrung, zu jedermanns Befriedigung, das Gehörige
zu erwidern. Die tiefe Sanftmut seines Blicks, die bestimmte
Lieblichkeit seiner Lippen, selbst der durch sein Hochdeutsch durchtönende
treuherzige Schweizerdialekt, und wie manches andere, was ihn
auszeichnete, gab allen, zu denen er sprach, die angenehmste
Sinnesberuhigung; ja seine, bei flacher Brust, etwas vorgebogene Körperhaltung
trug nicht wenig dazu bei, die Übergewalt seiner Gegenwart mit der übrigen
Gesellschaft auszugleichen. Gegen Anmaßung und Dünkel wußte er sich
sehr ruhig und geschickt zu benehmen: denn indem er auszuweichen schien,
wendete er auf einmal eine große Ansicht, auf welche der beschränkte
Gegner niemals denken konnte, wie einen diamantnen Schild hervor, und wußte
denn doch das daher entspringende Licht so angenehm zu mäßigen, daß
dergleichen Menschen, wenigstens in seiner Gegenwart, sich belehrt und
überzeugt fühlten. Vielleicht hat der Eindruck bei manchen
fortgewirkt: denn selbstische Menschen sind wohl zugleich auch gut; es
kommt nur darauf an, daß die harte Schale, die den fruchtbaren Kern
umschließt, durch gelinde Einwirkung aufgelöst werde. Was
ihm dagegen die größte Pein verursachte, war die Gegenwart solcher
Personen, deren äußere Häßlichkeit sie zu entschiedenen Feinden
jener Lehre von der Bedeutsamkeit der Gestalten unwiderruflich stempeln
mußte. Sie wendeten gewöhnlich einen hinreichenden Menschenverstand,
ja sonstige Gaben und Talente, leidenschaftlich mißwollend und
kleinlich zweifelnd an, um eine Lehre zu entkräften, die für ihre Persönlichkeit
beleidigend schien: denn es fand sich nicht leicht jemand so großdenkend
wie Sokrates, der gerade seine faunische Hülle zugunsten einer
erworbenen Sittlichkeit gedeutet hätte. Die Härte, die Verstockung
solcher Gegner war ihm fürchterlich, sein Gegenstreben nicht ohne
Leidenschaft, so wie das Schmelzfeuer die widerstrebenden Erze als lästig
und feindselig anfauchen muß. Unter
solchen Umständen war an ein vertrauliches Gespräch, an ein solches,
das Bezug auf uns selbst gehabt hätte, nicht zu denken, ob ich mich
gleich durch Beobachtung der Art, wie er die Menschen behandelte, sehr
belehrt, jedoch nicht gebildet fand: denn meine Lage war ganz von der
seinigen verschieden. Wer sittlich wirkt, verliert keine seiner Bemühungen:
denn es gedeiht davon weit mehr, als das Evangelium vom Sämanne allzu
bescheiden eingesteht; wer aber künstlerisch verfährt, der hat in
jedem Werke alles verloren, wenn es nicht als ein solches anerkannt
wird. Nun weiß man, wie ungeduldig meine lieben teilnehmenden Leser
mich zu machen pflegten, und aus welchen Ursachen ich höchst abgeneigt
war, mich mit ihnen zu verständigen. Nun fühlte ich den Abstand
zwischen meiner und der Lavaterschen Wirksamkeit nur allzu sehr: die
seine galt in der Gegenwart, die meine in der Abwesenheit; wer mit ihm
in der Ferne unzufrieden war, befreundete sich ihm in der Nähe; und wer
mich nach meinen Werken für liebenswürdig hielt, fand sich sehr getäuscht,
wenn er an einen starren ablehnenden Menschen anstieß. Merck,
der von Darmstadt sogleich herübergekommen war, spielte den
Mephistopheles, spottete besonders über das Zudringen der Weiblein, und
als einige derselben die Zimmer, die man dem Propheten eingeräumt, und
besonders auch das Schlafzimmer mit Aufmerksamkeit untersuchten, sagte
der Schalk: die frommen Seelen wollten doch sehen, wo man den Herrn
hingelegt habe. - Mit alledem mußte er sich so gut wie die andern
exorzisieren lassen: denn Lips, der Lavatern begleitete, zeichnete sein
Profil so ausführlich und brav, wie die Bildnisse bedeutender und
unbedeutender Menschen, welche dereinst in dem großen Werke der
Physiognomik angehäuft werden sollten. Für
mich war der Umgang mit Lavatern höchst wichtig und lehrreich: denn
seine dringenden Anregungen brachten mein ruhiges, künstlerisch
beschauliches Wesen in Umtrieb; freilich nicht zu meinem
augenblicklichen Vorteil, indem die Zerstreuung, die mich schon
ergriffen hatte, sich nur vermehrte; allein es war so viel unter uns zur
Sprache gekommen, daß in mir die größte Sehnsucht entstand, diese
Unterhaltung fortzusetzen. Daher entschloß ich mich, ihn, wenn er nach
Ems gehen würde, zu begleiten, um unterwegs, im Wagen eingeschlossen
und von der Welt abgesondert, diejenigen Gegenstände, die uns
wechselseitig am Herzen lagen, frei abzuhandeln. Sehr
merkwürdig und folgereich waren mir indessen die Unterhaltungen
Lavaters und der Fräulein von Klettenberg. Hier standen nun zwei
entschiedene Christen gegen einander über, und es war ganz deutlich zu
sehen, wie sich eben dasselbe Bekenntnis nach den Gesinnungen
verschiedener Personen umbildet. Man wiederholte so oft in jenen
toleranten Zeiten, jeder Mensch habe seine eigne Religion, seine eigne
Art der Gottesverehrung. Ob ich nun gleich dies nicht geradezu
behauptete, so konnte ich doch im gegenwärtigen Fall bemerken, daß Männer
und Frauen einen verschiedenen Heiland bedürfen. Fräulein von
Klettenberg verhielt sich zu dem ihrigen wie zu einem Geliebten, dem man
sich unbedingt hingibt, alle Freude und Hoffnung auf seine Person legt,
und ihm ohne Zweifel und Bedenken das Schicksal des Lebens anvertraut;
Lavater hingegen behandelte den seinigen als einen Freund, dem man
neidlos und liebevoll nacheifert, seine Verdienste anerkennt, sie
hochpreist, und eben deswegen ihm ähnlich, ja gleich zu werden bemüht
ist. Welch ein Unterschied zwischen beiderlei Richtung! wodurch im
allgemeinen die geistigen Bedürfnisse der zwei Geschlechter
ausgesprochen werden. Daraus mag es auch zu erklären sein, daß zärtere
Männer sich an die Mutter Gottes gewendet, ihr, als einem Ausbund
weiblicher Schönheit und Tugend, wie Sannazar getan, Leben und Talente
gewidmet, und allenfalls nebenher mit dem göttlichen Knaben gespielt
haben. Wie
meine beiden Freunde zu einander standen, wie sie gegen einander gesinnt
waren, erfuhr ich nicht allein aus Gesprächen, denen ich beiwohnte,
sondern auch aus Eröffnungen, welche mir beide ingeheim taten. Ich
konnte weder dem einen noch dem andern völlig zustimmen: denn mein
Christus hatte auch seine eigne Gestalt nach meinem Sinne angenommen.
Weil sie mir aber den meinigen gar nicht wollten gelten lassen, so quälte
ich sie mit allerlei Paradoxien und Extremen, und wenn sie ungeduldig
werden wollten, entfernte ich mich mit einem Scherze. Der
Streit zwischen Wissen und Glauben war noch nicht an der Tagesordnung,
allein die beiden Worte und die Begriffe, die man damit verknüpft,
kamen wohl auch gelegentlich vor, und die wahren Weltverächter
behaupteten, eins sei so unzuverlässig als das andere. Daher beliebte
es mir, mich zugunsten beider zu erklären, ohne jedoch den Beifall
meiner Freunde gewinnen zu können. Beim Glauben, sagte ich, komme alles
darauf an, daß man glaube; was man glaube, sei völlig gleichgültig.
Der Glaube sei ein großes Gefühl von Sicherheit für die Gegenwart und
Zukunft, und diese Sicherheit entspringe aus dem Zutrauen auf ein übergroßes,
übermächtiges und unerforschliches Wesen. Auf die Unerschütterlichkeit
dieses Zutrauens komme alles an; wie wir uns aber dieses Wesen denken,
dies hänge von unsern übrigen Fähigkeiten, ja von den Umständen ab,
und sei ganz gleichgültig. Der Glaube sei ein heiliges Gefäß, in
welches ein jeder sein Gefühl, seinen Verstand, seine Einbildungskraft,
so gut als er vermöge, zu opfern bereit stehe. Mit dem Wissen sei es
gerade das Gegenteil; es komme gar nicht darauf an, daß man wisse,
sondern was man wisse, wie gut und wie viel man wisse. Daher könne man
über das Wissen streiten, weil es sich berichtigen, sich erweitern und
verengern lasse. Das Wissen fange vom einzelnen an, sei endlos und
gestaltlos, und könne niemals, höchstens nur träumerisch,
zusammengefaßt werden, und bleibe also dem Glauben geradezu
entgegengesetzt. Dergleichen
Halbwahrheiten und die daraus entspringenden Irrsale mögen, poetisch
dargestellt, aufregend und unterhaltend sein, im Leben aber stören und
verwirren sie das Gespräch. Ich ließ daher Lavatern gern mit allen
denjenigen allein, die sich an ihm und mit ihm erbauen wollten, und fand
mich für diese Entbehrung genugsam entschädigt durch die Reise, die
wir zusammen nach Ems antraten. Ein schönes Sommerwetter begleitete
uns, Lavater war heiter und allerliebst. Denn bei einer religlösen und
sittlichen, keineswegs ängstlichen Richtung seines Geistes blieb er
nicht unempfindlich, wenn durch Lebensvorfälle die Gemüter munter und
lustig aufgeregt wurden. Er war teilnehmend, geistreich, witzig, und
mochte das gleiche gern an andern, nur daß es innerhalb der Grenzen
bliebe, die seine zarten Gesinnungen ihm vorschrieben. Wagte man sich
allenfalls darüber hinaus, so pflegte er einem auf die Achsel zu
klopfen, und den Verwegenen durch ein treuherziges "Bisch guet!
" zur Sitte aufzufordern. Diese Reise gereichte mir zu mancherlei
Belehrung und Belebung, die mir aber mehr in der Kenntnis seines
Charakters als in der Reglung und Bildung des meinigen zuteil ward. In
Ems sah ich ihn gleich wieder von Gesellschaft aller Art umringt, und
kehrte nach Frankfurt zurück, weil meine kleinen Geschäfte gerade auf
der Bahn waren, so daß ich sie kaum verlassen durfte. Aber
ich sollte sobald nicht wieder zur Ruhe kommen: denn Basedow traf ein,
berührte und ergriff mich von einer andern Seite. Einen entschiedneren
Kontrast konnte man nicht sehen als diese beiden Männer. Schon der
Anblick Basedows deutete auf das Gegenteil. Wenn Lavaters Gesichtszüge
sich dem Beschauenden frei hergaben, so waren die Basedowischen
zusammengepackt und wie nach innen gezogen. Lavaters Auge klar und
fromm, unter sehr breiten Augenlidern, Basedows aber tief im Kopfe,
klein, schwarz, scharf, unter struppigen Augenbrauen hervorblinkend,
dahingegen Lavaters Stirnknochen von den sanftesten braunen Haarbogen
eingefaßt erschien. Basedows heftige rauhe Stimme, seine schnellen und
scharfen Äußerungen, ein gewisses höhnisches Lachen, ein schnelles
Herumwerfen des Gesprächs, und was ihn sonst noch bezeichnen mochte,
alles war den Eigenschaften und dem Betragen entgegengesetzt, durch die
uns Lavater verwöhnt hatte. Auch Basedow ward in Frankfurt sehr
gesucht, und seine großen Geistesgaben bewundert; allein er war nicht
der Mann, weder die Gemüter zu erbauen, noch zu lenken. Ihm war einzig
darum zu tun, jenes große Feld, das er sich bezeichnet hatte, besser
anzubauen, damit die Menschheit künftig bequemer und naturgemäßer
darin ihre Wohnung nehmen sollte; und auf diesen Zweck eilte er nur
allzu gerade los. Mit
seinen Planen konnte ich mich nicht befreunden, ja mir nicht einmal
seine Absichten deutlich machen. Daß er allen Unterricht lebendig und
naturgemäß verlangte, konnte mir wohl gefallen; daß die alten
Sprachen an der Gegenwart geübt werden sollten, schien mir lobenswürdig,
und gern erkannte ich an, was in seinem Vorhaben zu Beförderung der Tätigkeit
und einer frischeren Weltanschauung lag: allein mir mißfiel, daß die
Zeichnungen seines "Elementarwerks " noch mehr als die Gegenstände
selbst zerstreuten, da in der wirklichen Welt doch immer nur das Mögliche
beisammensteht und sie deshalb, ungeachtet aller Mannigfaltigkeit und
scheinbarer Verwirrung, immer noch in allen ihren Teilen etwas
Geregeltes hat. Jenes "Elementarwerk " hingegen zersplittert
sie ganz und gar, indem das, was in der Weltanschauung keineswegs
zusammentrifft, um der Verwandtschaft der Begriffe willen neben einander
steht; weswegen es auch jener sinnlich-methodischen Vorzüge ermangelt,
die wir ähnlichen Arbeiten des Amos Comenius zuerkennen müssen. Viel
wunderbarer jedoch, und schwerer zu begreifen als seine Lehre war
Basedows Betragen. Er hatte bei dieser Reise die Absicht, das Publikum
durch seine Persönlichkeit für sein philanthropisches Unternehmen zu
gewinnen, und zwar nicht etwa die Gemüter, sondern geradezu die Beutel
aufzuschließen. Er wußte von seinem Vorhaben groß und überzeugend zu
sprechen, und jedermann gab ihm gern zu, was er behauptete. Aber auf die
unbegreiflichste Weise verletzte er die Gemüter der Menschen, denen er
eine Beisteuer abgewinnen wollte, ja er beleidigte sie ohne Not, indem
er seine Meinungen und Grillen über religiöse Gegenstände nicht zurückhalten
konnte. Auch hierin erschien Basodow als das Gegenstück von Lavatern.
Wenn dieser die Bibel buchstäblich und mit ihrem ganzen Inhalte, ja
Wort vor Wort, bis auf den heutigen Tag für geltend annahm und für
anwendbar hielt, so fühlte jener den unruhigsten Kitzel, alles zu
verneuen, und sowohl die Glaubenslehren als die äußerlichen
kirchlichen Handlungen nach eignen einmal gefaßten Grillen umzumodeln.
Am unbarmherzigsten jedoch, und am unvorsichtigsten verfuhr er mit
denjenigen Vorstellungen, die sich nicht unmittelbar aus der Bibel,
sondern von ihrer Auslegung herschreiben, mit jenen Ausdrücken,
philosophischen Kunstworten, oder sinnlichen Gleichnissen, womit die
Kirchenväter und Konzilien sich das Unaussprechliche zu verdeutlichen,
oder die Ketzer zu bestreiten gesucht haben. Auf eine harte und
unverantwortliche Weise erklärte er sich vor jedermann als den
abgesagtesten Feind der Dreieinigkeit, und konnte gar nicht fertig
werden, gegen dies allgemein zugestandene Geheimnis zu argumentieren.
Auch ich hatte im Privatgespräch sehr viel zu leiden, und mußte mir
die Hypostasis und Ousia, sowie das Prosopon immer wieder vorführen
lassen. Dagegen griff ich zu den Waffen der Paradoxie, überflügelte
seine Meinungen und wagte das Verwegne mit Verwegnerem zu bekämpfen.
Dies gab meinem Geiste wieder neue Anregung, und weil Basedow viel
belesener war, auch die Fechterstreiche des Disputierens gewandter als
ich Naturalist zu führen wußte, so hatte ich mich immer mehr
anzustrengen, je wichtigere Punkte unter uns abgehandelt wurden. Eine
so herrliche Gelegenheit, mich, wo nicht aufzuklären, doch gewiß zu üben,
konnte ich nicht kurz vorübergehen lassen. Ich vermochte Vater und
Freunde, die notwendigsten Geschäfte zu übernehmen, und fuhr nun,
Basedow begleitend, abermals von Frankfurt ab. Welchen Unterschied
empfand ich aber, wenn ich der Anmut gedachte, die von Lavatern ausging!
Reinlich wie er war, verschaffte er sich auch eine reinliche Umgebung.
Man ward jungfräulich an seiner Seite, um ihn nicht mit etwas Widrigem
zu berühren. Basedow hingegen, viel zu sehr in sich gedrängt, konnte
nicht auf sein Äußeres merken. Schon daß er ununterbrochen schlechten
Tabak rauchte, fiel äußerst lästig, um so mehr, als er einen
unreinlich bereiteten, schnell Feuer fangenden, aber häßlich
dunstenden Schwamm, nach ausgerauchter Pfeife, sogleich wieder
aufschlug, und jedesmal mit den ersten Zügen die Luft unerträglich
verpestete. Ich nannte dieses Präparat Basedowschen Stinkschwamm, und
wollte ihn unter diesem Titel in der Naturgeschichte eingeführt wissen;
woran er großen Spaß hatte, mir die widerliche Bereitung, recht zum
Ekel, umständlich auseinandersetzte, und mit großer Schadenfreude sich
an meinem Abscheu behagte. Denn dieses war eine von den tiefgewurzelten
üblen Eigenheiten des so trefflich begabten Mannes, daß er gern zu
necken und die Unbefangensten tückisch anzustechen beliebte. Ruhen
konnte er niemand sehn; durch grinsenden Spott mit heiserer Stimme
reizte er auf, durch eine überraschende Frage setzte er in
Verlegenheit, und lachte bitter, wenn er seinen Zweck erreicht hatte,
war es aber wohl zufrieden, wenn man, schnell gefaßt, ihm etwas dagegen
abgab. Um
wie viel größer war nun meine Sehnsucht nach Lavatern. Auch er schien
sich zu freuen, als er mich wiedersah, vertraute mir manches bisher
Erfahrne, besonders was sich auf den verschiedenen Charakter der Mitgäste
bezog, unter denen er sich schon viele Freunde und Anhänger zu
verschaffen gewußt. Nun fand ich selbst manchen alten Bekannten, und an
denen, die ich in Jahren nicht gesehn, fing ich an die Bemerkung zu
machen, die uns in der Jugend lange verborgen bleibt, daß die Männer
altern und die Frauen sich verändern. Die Gesellschaft nahm täglich
zu. Es ward unmäßig getanzt, und, weil man sich in den beiden großen
Badehäusern ziemlich nahe berührte, bei guter und genauer
Bekanntschaft mancherlei Scherz getrieben. Einst verkleidete ich mich in
einen Dorfgeistlichen, und ein namhafter Freund in dessen Gattin; wir
fielen der vornehmen Gesellschaft durch allzu große Höflichkeit
ziemlich zur Last, wodurch denn jedermann in guten Humor versetzt wurde.
An Abend-, Mitternacht- und Morgenständchen fehlte es auch nicht, und
wir Jüngeren genossen des Schlafs sehr wenig. Im
Gegensatze zu diesen Zerstreuungen brachte ich immer einen Teil der
Nacht mit Basedow zu. Dieser legte sich nie zu Bette, sondern diktierte
unaufhörlich. Manchmal warf er sich aufs Lager und schlummerte,
indessen sein Tiro, die Feder in der Hand, ganz ruhig sitzen blieb, und
sogleich bereit war fortzuschreiben, wenn der Halberwachte seinen
Gedanken wieder freien Lauf gab. Dies alles geschah in einem
dichtverschlossenen, von Tabaks- und Schwammdampf erfüllten Zimmer. So
oft ich nun einen Tanz aussetzte, sprang ich zu Basedow hinauf, der
gleich über jedes Problem zu sprechen und zu disputieren geneigt war,
und, wenn ich nach Verlauf einiger Zeit wieder zum Tanze hineilte, noch
eh ich die Türe hinter mir anzog, den Faden seiner Abhandlung so ruhig
diktierend aufnahm, als wenn weiter nichts gewesen wäre. Wir
machten dann zusammen auch manche Fahrt in die Nachbarschaft, besuchten
die Schlösser, besonders adliger Frauen, welche durchaus mehr als die Männer
geneigt waren, etwas Geistiges und Geistliches aufzunehmen. Zu Nassau,
bei Frau von Stein, einer höchst ehrwürdigen Dame, die der
allgemeinsten Achtung genoß, fanden wir große Gesellschaft. Frau von
La Roche war gleichfalls gegenwärtig, an jungen Frauenzimmern und
Kindern fehlte es auch nicht. Hier sollte nun Lavater in physiognomische
Versuchung geführt werden, welche meist darin bestand, daß man ihn
verleiten wollte, Zufälligkeiten der Bildung für Grundform zu halten;
er war aber beaugt genug, um sich nicht täuschen zu lassen. Ich sollte
nach wie vor die Wahrhaftigkeit der Leiden Werthers und den Wohnort
Lottens bezeugen, welchem Ansinnen ich mich nicht auf die artigste Weise
entzog, dagegen die Kinder um mich versammelte, um ihnen recht seltsame
Märchen zu erzählen, welche aus lauter bekannten Gegenständen
zusammengesonnen waren; wobei ich den großen Vorteil hatte, daß kein
Glied meines Hörerkreises mich etwa zudringlich gefragt hätte, was
denn wohl daran für Wahrheit oder Dichtung zu halten sein möchte. Basedow
brachte das einzige vor, das not sei, nämlich eine bessere Erziehung
der Jugend; weshalb er die Vornehmen und Begüterten zu ansehnlichen
Beiträgen aufforderte. Kaum aber hatte er, durch Gründe sowohl als
durch leidenschaftliche Beredsamkeit, die Gemüter, wo nicht sich
zugewendet, doch zum guten Willen vorbereitet, als ihn der böse
antitrinitarische Geist ergriff, und er, ohne das mindeste Gefühl wo er
sich befinde, in die wunderlichsten Reden ausbrach, in seinem Sinne höchst
religiös, nach Überzeugung der Gesellschaft höchst lästerlich.
Lavater, durch sanften Ernst, ich, durch abteilende Scherze, die Frauen,
durch zerstreuende Spaziergänge, suchten Mittel gegen dieses Unheil;
die Verstimmung jedoch konnte nicht geheilt werden. Eine christliche
Unterhaltung, die man sich von Lavaters Gegenwart versprochen, eine pädagogische,
wie man sie von Basedow erwartete, eine sentimentale, zu der ich mich
bereit finden sollte, alles war auf einmal gestört und aufgehoben. Auf
dem Heimwege machte Lavater ihm Vorwürfe, ich aber bestrafte ihn auf
eine lustige Weise. Es war heiße Zeit, und der Tabaksdampf mochte
Basedows Gaumen noch mehr getrocknet haben; sehnlichst verlangte er nach
einem Glase Bier, und als er an der Landstraße von weitem ein Wirtshaus
erblickte, befahl er höchst gierig dem Kutscher, dort stille zu halten.
Ich aber, im Augenblicke, daß derselbe anfahren wollte, rufe ihm mit
Gewalt gebieterisch zu, er solle weiter fahren! Basedow, überrascht,
konnte kaum mit heiserer Stimme das Gegenteil hervorbringen. Ich trieb
den Kutscher nur heftiger an, der mir gehorchte. Basedow verwünschte
mich, und hätte gern mit Fäusten zugeschlagen; ich aber erwiderte ihm
mit der größten Gelassenheit: "Vater, seid ruhig! Ihr habt mir
großen Dank zu sagen. Glücklicherweise saht Ihr das Bierzeichen nicht!
Es ist aus zwei verschränkten Triangeln zusammengesetzt. Nun werdet Ihr
über einen Triangel gewöhnlich schon toll; wären Euch die beiden zu
Gesicht gekommen, man hätte Euch müssen an Ketten legen. " Dieser
Spaß brachte ihn zu einem unmäßigen Gelächter, zwischendurch schalt
und verwünschte er mich, und Lavater übte seine Geduld an dem alten
und jungen Toren. Als
nun in der Hälfte des Juli Lavater sich zur Abreise bereitete, fand
Basedow seinen Vorteil, sich anzuschließen, und ich hatte mich in diese
bedeutende Gesellschaft schon so eingewohnt, daß ich es nicht über
mich gewinnen konnte, sie zu verlassen. Eine sehr angenehme, Herz und
Sinn erfreuende Fahrt hatten wir die Lahn hinab. Beim Anblick einer
merkwürdigen Burgruine schrieb ich jenes Lied: "Hoch auf dem alten
Turme steht " in Lipsens Stammbuch und, als es wohl aufgenommen
wurde, um, nach meiner bösen Art, den Eindruck wieder zu verderben,
allerlei Knittelreime und Possen auf die nächsten Blätter. Ich freute
mich, den herrlichen Rhein wiederzusehn, und ergetzte mich an der Überraschung
derer, die dieses Schauspiel noch nicht genossen hatten. Nun landeten
wir in Koblenz; wohin wir traten, war der Zudrang sehr groß, und jeder
von uns dreien erregte nach seiner Art Anteil und Neugierde. Basedow und
ich schienen zu wetteifern, wer am unartigsten sein könnte; Lavater
benahm sich vernünftig und klug, nur daß er seine Herzensmeinungen
nicht verbergen konnte, und dadurch, mit dem reinsten Willen, allen
Menschen vom Mittelschlag höchst auffallend erschien. Das
Andenken an einen wunderlichen Wirtstisch in Koblenz habe ich in
Knittelversen aufbewahrt, die nun auch, mit ihrer Sippschaft, in meiner
neuen Ausgabe stehn mögen. Ich saß zwischen Lavater und Basedow; der
erste belehrte einen Landgeistlichen über die Geheimnisse der
Offenbarung Johannis, und der andere bemühte sich vergebens, einem
hartnäckigen Tanzmeister zu beweisen, daß die Taufe ein veralteter und
für unsere Zeiten gar nicht berechneter Gebrauch sei. Und wie wir nun fürder
nach Köln zogen, schrieb ich in irgend ein Album: Und,
wie nach Emmaus, weiter ging's Glücklicherweise
hatte dieses Weltkind auch eine Seite, die nach dem Himmlischen deutete,
welche nun auf eine ganz eigne Weise berührt werden sollte. Schon in
Ems hatte ich mich gefreut, als ich vernahm, daß wir in Köln die Gebrüder
Jacobi treffen sollten, welche mit andern vorzüglichen und aufmerksamen
Männern sich jenen beiden merkwürdigen Reisenden entgegen bewegten.
Ich an meinem Teile hoffte von ihnen Vergebung wegen kleiner Unarten zu
erhalten, die aus unserer großen, durch Herders scharfen Humor veranlaßten
Unart entsprungen waren. Jene Briefe und Gedichte, worin Gleim und Georg
Jacobi sich öffentlich an einander erfreuten, hatten uns zu mancherlei
Scherzen Gelegenheit gegeben, und wir bedachten nicht, daß ebenso viel
Selbstgefälligkeit dazu gehöre, andern, die sich behaglich fühlen
wehe zu tun, als sich selbst oder seinen Freunden überflüssiges Gute
zu erzeigen. Es war dadurch eine gewisse Mißhelligkeit zwischen dem
Ober- und Unterrhein entstanden, aber von so geringer Bedeutung, daß
sie leicht vermittelt werden konnte, und hierzu waren die Frauen vorzüglich
geeignet. Schon Sophie La Roche gab uns den besten Begriff von diesen
edlen Brüdern; Demoiselle Fahlmer, von Düsseldorf nach Frankfurt
gezogen, und jenem Kreise innig verwandt, gab durch die große Zartheit
ihres Gemüts, durch die ungemeine Bildung des Geistes ein Zeugnis von
dem Wert der Gesellschaft, in der sie heransgewachsen. Sie beschämte
uns nach und nach durch ihre Geduld mit unserer grellen oberdeutschen
Manier, sie lehrte uns Schonung, indem sie uns fühlen ließ, daß wir
derselben auch wohl bedürften. Die Treuherzigkeit der jüngern
Jacobischen Schwester, die große Heiterkeit der Gattin von Fritz Jacobi
leiteten unsern Geist und Sinn immer mehr und mehr nach jenen Gegenden.
Die Letztgedachte war geeignet, mich völlig einzunehmen: ohne eine Spur
von Sentimentalität richtig fühlend, sich munter ausdrückend, eine
herrliche Niederländerin, die, ohne Ausdruck von Sinnlichkeit, durch
ihr tüchtiges Wesen an die Rubensischen Frauen erinnerte. Genannte
Damen hatten, bei längerem und kürzerem Aufenthalt in Frankfurt, mit
meiner Schwester die engste Verbindung geknüpft, und das ernste,
starre, gewissermaßen lieblose Wesen Corneliens aufgeschlossen und
erheitert, und so war uns denn ein Düsseldorf, ein Pempelfort dem Geist
und Herzen nach in Frankfurt zuteil geworden. Unser
erstes Begegnen in Köln konnte daher sogleich offen und zutraulich
sein: denn jener Frauen gute Meinung von uns hatte gleichfalls nach
Hause gewirkt; man behandelte mich nicht, wie bisher auf der Reise, bloß
als den Dunstschweif jener beiden großen Wandelsterne, sondern man
wendete sich auch besonders an mich, um mir manches Gute zu erteilen,
und schien geneigt, auch von mir zu empfangen. Ich war meiner bisherigen
Torheiten und Frechheiten müde, hinter denen ich doch eigentlich nur
den Unmut verbarg, daß für mein Herz, für mein Gemüt auf dieser
Reise so wenig gesorgt werde; es brach daher mein Inneres mit Gewalt
hervor, und dies mag die Ursache sein, warum ich mich der einzelnen Vorgänge
wenig erinnere. Das, was man gedacht, die Bilder, die man gesehn, lassen
sich in dem Verstand und in der Einbildungskraft wieder hervorrufen;
aber das Herz ist nicht so gefällig, es wiederholt uns nicht die schönen
Gefühle, und am wenigsten sind wir vermögend, uns enthusiastische
Momente wieder zu vergegenwärtigen; man wird unvorbereitet davon überfallen
und überläßt sich ihnen unbewußt. Andere, die uns in solchen
Augenblicken beobachten, haben deshalb davon eine klarere und reinere
Ansicht als wir selbst. Religiöse
Gespräche hatte ich bisher sachte abgelehnt, und verständige Anfragen
selten mit Bescheidenheit erwidert, weil sie mir gegen das, was ich
suchte, nur allzu beschränkt schienen. Wenn man mir seine Gefühle,
seine Meinungen über meine eignen Produktionen aufdringen wollte,
besonders aber wenn man mich mit den Forderungen des Alltagsverstandes
peinigte und mir sehr entschieden vortrug, was ich hätte tun und lassen
sollen, dann zerriß der Geduldsfaden, und das Gespräch zerbrach oder
zerbröckelte sich, so daß niemand mit einer sonderlich günstigen
Meinung von mir scheiden konnte. Viel natürlicher wäre mir gewesen,
mich freundlich und zart zu erweisen; aber mein Gemüt wollte nicht
geschulmeistert, sondern durch freies Wohlwollen aufgeschlossen, und
durch wahre Teilnahme zur Hingebung angeregt sein. Ein Gefühl aber, das
bei mir gewaltig überhand nahm, und sich nicht wundersam genug äußern
konnte, war die Empfindung der Vergangenheit und Gegenwart in Eins: eine
Anschauung, die etwas Gespenstermäßiges in die Gegenwart brachte. Sie
ist in vielen meiner größern und kleinern Arbeiten ausgedrückt, und
wirkt im Gedicht immer wohltätig, ob sie gleich im Augenblick, wo sie
sich unmittelbar am Leben und im Leben selbst ausdrückte, jedermann
seltsam, unerklärlich, vielleicht unerfreulich scheinen mußte. Köln
war der Ort, wo das Altertum eine solche unzuberechnende Wirkung auf
mich ausüben konnte. Die Ruine des Doms (denn ein nichtfertiges Werk
ist einem zerstörten gleich) erregte die von Straßburg her gewohnten
Gefühle. Kunstbetrachtungen konnte ich nicht anstellen, mir war zu viel
und zu wenig gegeben, und niemand fand sich, der mir aus dem Labyrinth
des Geleisteten und Beabsichtigten, der Tat und des Vorsatzes, des
Erbauten und Angedeuteten hätte heraushelfen können, wie es jetzt wohl
durch unsere fleißigen beharrlichen Freunde geschieht. In Gesellschaft
bewunderte ich zwar diese merkwürdigen Hallen und Pfeiler, aber einsam
versenkte ich mich in dieses, mitten in seiner Erschaffung, fern von der
Vollendung, schon erstarrte Weltgebäude immer mißmutig. Hier war
abermals ein ungeheuerer Gedanke nicht zur Ausführung gekommen! Scheint
es doch, als wäre die Architektur nur da, um uns zu überzeugen, daß
durch mehrere Menschen, in einer Folge von Zeit, nichts zu leisten ist,
und daß in Künsten und Taten nur dasjenige zustande kommt, was, wie
Minerva, erwachsen und gerüstet aus des Erfinders Haupt hervorspringt. In
diesen mehr drückenden als herzerhebenden Augenblicken ahndete ich
nicht, daß mich das zarteste und schönste Gefühl so ganz nah
erwartete. Man führte mich in Jabachs Wohnung, wo mir das, was ich
sonst nur innerlich zu bilden pflegte, wirklich und sinnlich
entgegentrat. Diese Familie mochte längst ausgestorben sein, aber in
dem Untergeschoß, das an einen Garten stieß, fanden wir nichts verändert.
Ein durch braunrote Ziegelrauten regelmäßig verziertes Estrich, hohe
geschnitzte Sessel mit ausgenähten Sitzen und Rücken, Tischblätter, künstlich
eingelegt, auf schweren Füßen, metallene Hängeleuchter, ein
ungeheures Kamin und dem angemessenes Feuergeräte, alles mit jenen früheren
Tagen übereinstimmend und in dem ganzen Raume nichts neu, nichts heutig
als wir selber. Was nun aber die hiedurch wundersam aufgeregten
Empfindungen überschwenglich vermehrte und vollendete, war ein großes
Familiengemälde über dem Kamin. Der ehmalige reiche Inhaber dieser
Wohnung saß mit seiner Frau, von Kindern umgeben, abgebildet: alle
gegenwärtig, frisch und lebendig wie von gestern, ja von heute, und
doch waren sie schon alle vorübergegangen. Auch diese frischen rundbäckigen
Kinder hatten gealtert, und ohne diese kunstreiche Abbildung wäre kein
Gedächtnis von ihnen übrig geblieben. Wie ich, überwältigt von
diesen Eindrücken, mich verhielt und benahm, wüßte ich nicht zu
sagen. Der tiefste Grund meiner menschlichen Anlagen und dichterischen Fähigkeiten
ward durch die unendliche Herzensbewegung aufgedeckt, und alles Gute und
Liebevolle, was in meinem Gemüte lag, mochte sich aufschließen und
hervorbrechen: denn von dem Augenblick an ward ich, ohne weitere
Untersuchung und Verhandlung, der Neigung, des Vertrauens jener vorzüglichen
Männer für mein Leben teilhaft. In
Gefolg von diesem Seelen- und Geistesverein, wo alles, was in einem
jeden lebte, zur Sprache kam, erbot ich mich, meine neusten und liebsten
Balladen zu rezitieren. "Der König von Thule " und "Es
war ein Buhle frech genung " taten gute Wirkung, und ich trug sie
um so gemütlicher vor, als meine Gedichte mir noch ans Herz geknüpft
waren, und nur selten über die Lippen kamen. Denn mich hinderten leicht
gewisse gegenwärtige Personen, denen mein überzartes Gefühl
vielleicht unrecht tun mochte; ich ward manchmal mitten im Rezitieren
irre und konnte mich nicht wieder zurecht finden. Wie oft bin ich nicht
deshalb des Eigensinns und eines wunderlichen grillenhaften Wesens
angeklagt worden! Ob
mich nun gleich die dichterische Darstellungsweise am meisten beschäftigte,
und meinem Naturell eigentlich zusagte, so war mir doch auch das
Nachdenken über Gegenstände aller Art nicht fremd, und Jacobis
originelle, seiner Natur gemäße Richtung gegen das Unerforschliche höchst
willkommen und gemütlich. Hier tat sich kein Widerstreit hervor, nicht
ein christlicher wie mit Lavater, nicht ein didaktischer wie mit
Basedow. Die Gedanken, die mir Jacobi mitteilte, entsprangen unmittelbar
aus seinem Gefühl, und wie eigen war ich durchdrungen, als er mir, mit
unbedingtem Vertrauen, die tiefsten Seelenforderungen nicht verhehlte.
Aus einer so wundersamen Vereinigung von Bedürfnis, Leidenschaft und
Ideen konnten auch für mich nur Vorahndungen entspringen dessen, was
mir vielleicht künftig deutlicher werden sollte. Glücklicherweise
hatte ich mich auch schon von dieser Seite, wo nicht gebildet, doch
bearbeitet und in mich das Dasein und die Denkweise eines außerordentlichen
Mannes aufgenommen, zwar nur unvollständig und wie auf den Raub, aber
ich empfand davon doch schon bedeutende Wirkungen. Dieser Geist, der so
entschieden auf mich wirkte, und der auf meine ganze Denkweise so großen
Einfluß haben sollte, war Spinoza. Nachdem ich mich nämlich in aller
Welt um ein Bildungsmittel meines wunderlichen Wesens vergebens umgesehn
hatte, geriet ich endlich an die "Ethik " dieses Mannes. Was
ich mir aus dem Werke mag herausgelesen, was ich in dasselbe mag
hineingelesen haben, davon wüßte ich keine Rechenschaft zu geben,
genug, ich fand hier eine Beruhigung meiner Leidenschaften, es schien
sich mir eine große und freie Aussicht über die sinnliche und
sittliche Welt aufzutun. Was mich aber besonders an ihn fesselte, war
die grenzenlose Uneigennützigkeit, die aus jedem Satze hervorleuchtete.
Jenes wunderliche Wort: "Wer Gott recht liebt, muß nicht
verlangen, daß Gott ihn wieder liebe ", mit allen den Vordersätzen,
worauf es ruht, mit allen den Folgen, die daraus entspringen, erfüllte
mein ganzes Nachdenken. Uneigennützig zu sein in allem, am uneigennützigsten
in Liebe und Freundschaft, war meine höchste Lust, meine Maxime, meine
Ausübung, so daß jenes freche spätere Wort: "Wenn ich dich
liebe, was geht's dich an? " mir recht aus dem Herzen gesprochen
ist. Übrigens möge auch hier nicht verkannt werden, daß eigentlich
die innigsten Verbindungen nur aus dem Entgegengesetzten folgen. Die
alles ausgleichende Ruhe Spinozas kontrastierte mit meinem alles
aufregenden Streben, seine mathematische Methode war das Widerspiel
meiner poetischen Sinnes- und Darstellungsweise, und eben jene geregelte
Behandlungsart, die man sittlichen Gegenständen nicht angemessen finden
wollte, machte mich zu seinem leidenschaftlichen Schüler, zu seinem
entschiedensten Verehrer. Geist und Herz, Verstand und Sinn suchten sich
mit notwendiger Wahlverwandtschaft, und durch diese kam die Vereinigung
der verschiedensten Wesen zustande. Noch
war aber alles in der ersten Wirkung und Gegenwirkung, gärend und
siedend. Fritz Jacobi, der erste, den ich in dieses Chaos hineinblicken
ließ, er, dessen Natur gleichfalls im Tiefsten arbeitete, nahm mein
Vertrauen herzlich auf, erwiderte dasselbe und suchte mich in seinen
Sinn einzuleiten. Auch er empfand ein unaussprechliches geistiges Bedürfnis,
auch er wollte es nicht durch fremde Hülfe beschwichtigt, sondern aus
sich selbst herausgebildet und aufgeklärt haben. Was er mir von dem
Zustande seines Gemütes mitteilte, konnte ich nicht fassen, um so
weniger, als ich mir keinen Begriff von meinem eignen machen konnte.
Doch er, der in philosophischem Denken, selbst in Betrachtung des
Spinoza, mir weit vorgeschritten war, suchte mein dunkles Bestreben zu
leiten und aufzuklären. Eine solche reine Geistesverwandtschaft war mir
neu, und erregte ein leidenschaftliches Verlangen fernerer Mitteilung.
Nachts, als wir uns schon getrennt und in die Schlafzimmer zurückgezogen
hatten, suchte ich ihn nochmals auf. Der Mondschein zitterte über dem
breiten Rheine, und wir, am Fenster stehend, schwelgten in der Fülle
des Hin- und Widergebens, das in jener herrlichen Zeit der Entfaltung so
reichlich aufquillt. Doch
wüßte ich von jenem Unaussprechlichen gegenwärtig keine Rechenschaft
zu liefern; deutlicher ist mir eine Fahrt nach dem Jagdschlosse
Bensberg, das, auf der rechten Seite des Rheins gelegen, der
herrlichsten Aussicht genoß. Was mich daselbst über die Maßen entzückte,
waren die Wandverzierungen durch Weenix. Wohlgeordnet lagen alle Tiere,
welche die Jagd nur liefern kann, rings umher wie auf dem Sockel einer
großen Säulenhalle; über sie hinaus sah man in eine weite Landschaft.
Jene entlebten Geschöpfe zu beleben, hatte der außerordentliche Mann
sein ganzes Talent erschöpft, und in Darstellung des mannigfaltigsten
tierischen Überkleides, der Borsten, der Haare, der Federn, des
Geweihes, der Klauen, sich der Natur gleichgestellt, in Absicht auf
Wirkung sie übertroffen. Hatte man die Kunstwerke im ganzen genugsam
bewundert, so ward man genötigt, über die Handgriffe nachzudenken,
wodurch solche Bilder so geistreich als mechanisch hervorgebracht werden
konnten. Man begriff nicht, wie sie durch Menschenhände entstanden
seien und durch was für Instrumente. Der Pinsel war nicht hinreichend;
man mußte ganz eigne Vorrichtungen annehmen, durch welche ein so
Mannigfaltiges möglich geworden. Man näherte, man entfernte sich mit
gleichem Erstaunen: die Ursache war so bewundernswert als die Wirkung. Die
weitere Fahrt rheinabwärts ging froh und glücklich vonstatten. Die
Ausbreitung des Flusses ladet auch das Gemüt ein, sich auszubreiten und
nach der Ferne zu sehen. Wir gelangten nach Düsseldorf und von da nach
Pempelfort, dem angenehmsten und heitersten Aufenthalt, wo ein geräumiges
Wohngebäude, an weite wohlunterhaltene Gärten stoßend, einen sinnigen
und sittigen Kreis versammelte. Die Familienglieder waren zahlreich und
an Fremden fehlte es nie, die sich in diesen reichlichen und angenehmen
Verhältnissen gar wohl gefielen. In
der Düsseldorfer Galerie konnte meine Vorliebe für die niederländische
Schule reichliche Nahrung finden. Der tüchtigen, derben, von Naturfülle
glänzenden Bilder fanden sich ganze Säle, und wenn auch nicht eben
meine Einsicht vermehrt wurde, meine Kenntnis ward doch bereichert und
meine Liebhaberei bestärkt. Die
schöne Ruhe, Behaglichkeit und Beharrlichkeit, welche den
Hauptcharakter dieses Familienvereins bezeichneten, belebten sich gar
bald vor den Augen des Gastes, indem er wohl bemerken konnte, daß ein
weiter Wirkungskreis von hier ausging und anderwärts eingriff. Die Tätigkeit
und Wohlhabenheit benachbarter Städte und Ortschaften trug nicht wenig
bei, das Gefühl einer inneren Zufriedenheit zu erhöhen. Wir besuchten
Elberfeld und erfreuten uns an der Rührigkeit so mancher wohlbestellten
Fabriken. Hier fanden wir unsern Jung, genannt Stilling, wieder, der uns
schon in Koblenz entgegengekommen war, und der den Glauben an Gott und
die Treue gegen die Menschen immer zu seinem köstlichen Geleit hatte.
Hier sahen wir ihn in seinem Kreise und freuten uns des Zutrauens, das
ihm seine Mitbürger schenkten, die, mit irdischem Erwerb beschäftigt,
die himmlischen Güter nicht außer acht ließen. Die betriebsame Gegend
gab einen beruhigenden Anblick, weil das Nützliche hier aus Ordnung und
Reinlichkeit hervortrat. Wir verlebten in diesen Betrachtungen glückliche
Tage. Kehrte
ich dann wieder zu meinem Freunde Jacobi zurück, so genoß ich des entzückenden
Gefühls einer Verbindung durch das innerste Gemüt. Wir waren beide von
der lebendigsten Hoffnung gemeinsamer Wirkung belebt, dringend forderte
ich ihn auf, alles, was in ihm sich rege und bewege, in irgend einer
Form kräftig darzustellen. Es war das Mittel, wodurch ich mich aus so
viel Verwirrungen herausgerissen hatte, ich hoffte, es solle auch ihm
zusagen. Er säumte nicht, es mit Mut zu ergreifen, und wie viel Gutes,
Schönes, Herzerfreuendes hat er nicht geleistet! Und so schieden wir
endlich in der seligen Empfindung ewiger Vereinigung, ganz ohne Vorgefühl,
daß unser Streben eine entgegengesetzte Richtung nehmen werde, wie es
sich im Laufe des Lebens nur allzu sehr offenbarte. Was
mir ferner auf dem Rückwege rheinaufwärts begegnet, ist mir ganz aus
der Erinnerung verschwunden, teils, weil der zweite Anblick der Gegenstände
in Gedanken mit dem ersten zu verfließen pflegt, teils auch, weil ich,
in mich gekehrt, das Viele, was ich erfahren hatte, zurecht zu legen,
das, was auf mich gewirkt, zu verarbeiten trachtete. Von einem wichtigen
Resultat, das mir eine Zeitlang viel Beschäftigung gab, indem es mich
zum Hervorbringen aufforderte, gedenke ich gegenwärtig zu reden. Bei
meiner überfreien Gesinnung, bei meinem völlig zweck- und planlosen
Leben und Handeln konnte mir nicht verborgen bleiben, daß Lavater und
Basedow geistige, ja geistliche Mittel zu irdischen Zwecken gebrauchten.
Mir, der ich mein Talent und meine Tage absichtslos vergeudete, mußte
schnell auffallen, daß beide Männer, jeder auf seine Art, indem sie zu
lehren, zu unterrichten und zu überzeugen bemüht waren, doch auch
gewisse Absichten im Hinterhalte verbargen, an deren Beförderung ihnen
sehr gelegen war. Lavater ging zart und klug, Basedow heftig,
frevelhaft, sogar plump zu Werke; auch waren beide von ihren
Liebhabereien, Unternehmungen und von der Vortrefflichkeit ihres
Treibens so überzeugt, daß man sie für redliche Männer halten, sie
lieben und verehren mußte. Lavatern besonders konnte man zum Ruhme
nachsagen, daß er wirklich höhere Zwecke hatte und, wenn er weltklug
handelte, wohl glauben durfte, der Zweck heilige die Mittel. Indem ich
nun beide beobachtete, ja ihnen frei heraus meine Meinung gestand, und
die ihrige dagegen vernahm, so wurde der Gedanke rege, daß freilich der
vorzügliche Mensch das Göttliche, was in ihm ist, auch außer sich
verbreiten möchte. Dann aber trifft er auf die rohe Welt, und um auf
sie zu wirken, muß er sich ihr gleichstellen; hierdurch aber vergibt er
jenen hohen Vorzügen gar sehr, und am Ende begibt er sich ihrer gänzlich.
Das Himmlische, Ewige wird in den Körper irdischer Absichten eingesenkt
und zu vergänglichen Schicksalen mit fortgerissen. Nun betrachtete ich
den Lebensgang beider Männer aus diesem Gesichtspunkt, und sie schienen
mir ebenso ehrwürdig als bedauernswert: denn ich glaubte vorauszusehn,
daß beide sich genötigt finden könnten, das Obere dem Unteren
aufzuopfern. Weil ich nun aber alle Betrachtungen dieser Art bis aufs Äußerste
verfolgte, und, über meine enge Erfahrung hinaus nach ähnlichen Fällen
in der Geschichte mich umsah; so entwickelte sich bei mir der Vorsatz,
an dem Leben Mahomets, den ich nie als einen Betrüger hatte ansehn können,
jene von mir in der Wirklichkeit so lebhaft angeschauten Wege, die,
anstatt zum Heil, vielmehr zum Verderben führen, dramatisch
darzustellen. Ich hatte kurz vorher das Leben des orientalischen
Propheten mit großem Interesse gelesen und studiert, und war daher, als
der Gedanke mir aufging, ziemlich vorbereitet. Das Ganze näherte sich
mehr der regelmäßigen Form, zu der ich mich schon wieder hinneigte, ob
ich mich gleich der dem Theater einmal errungenen Freiheit, mit Zeit und
Ort nach Belieben schalten zu dürfen, mäßig bediente. Das Stück fing
mit einer Hymne an, welche Mahomet allein unter dem heiteren Nachthimmel
anstimmt. Erst verehrt er die unendlichen Gestirne als ebenso viele Götter;
dann steigt der freundliche Stern Gad (unser Jupiter) hervor, und nun
wird diesem, als dem König der Gestirne, ausschließliche Verehrung
gewidmet. Nicht lange, so bewegt sich der Mond herauf und gewinnt Aug
und Herz des Anbetenden, der sodann, durch die hervortretende Sonne
herrlich erquickt und gestärkt, zu neuem Preise aufgerufen wird. Aber
dieser Wechsel, wie erfreulich er auch sein mag, ist dennoch
beunruhigend, das Gemüt empfindet, daß es sich nochmals überbieten muß;
es erhebt sich zu Gott, dem Einzigen, Ewigen, Unbegrenzten, dem alle
diese begrenzten herrlichen Wesen ihr Dasein zu verdanken haben. Diese
Hymne hatte ich mit viel Liebe gedichtet; sie ist verloren gegangen, würde
sich aber zum Zweck einer Kantate wohl wieder herstellen lassen, und
sich dem Musiker durch die Mannigfaltigkeit des Ausdrucks empfehlen. Man
müßte sich aber, wie es auch damals schon die Absicht war, den Anführer
einer Karawane mit seiner Familie und dem ganzen Stamme denken, und so würde
für die Abwechselung der Stimmen und die Macht der Chöre wohl gesorgt
sein. Nachdem
sich also Mahomet selbst bekehrt, teilt er diese Gefühle und
Gesinnungen den Seinigen mit; seine Frau und Ali fallen ihm unbedingt
zu. Im zweiten Akt versucht er selbst, heftiger aber Ali, diesen Glauben
in dem Stamme weiter auszubreiten. Hier zeigt sich Beistimmung und
Widersetzlichkeit, nach Verschiedenheit der Charakter. Der Zwist
beginnt, der Streit wird gewaltsam, und Mahomet muß entfliehen. Im
dritten Akt bezwingt er seine Gegner, macht seine Religion zur öffentlichen,
reinigt die Kaaba von den Götzenbildern; weil aber doch nicht alles
durch Kraft zu tun ist, so muß er auch zur List seine Zuflucht nehmen.
Das Irdische wächst und breitet sich aus, das Göttliche tritt zurück
und wird getrübt. Im vierten Akte verfolgt Mahomet seine Eroberungen,
die Lehre wird mehr Vorwand als Zweck, alle denkbaren Mittel müssen
benutzt werden; es fehlt nicht an Grausamkeiten. Eine Frau, deren Mann
er hat hinrichten lassen, vergiftet ihn. Im fünften fühlt er sich
vergiftet. Seine große Fassung, die Wiederkehr zu sich selbst, zum höheren
Sinne machen ihn der Bewunderung würdig. Er reinigt seine Lehre,
befestigt sein Reich und stirbt. So
war der Entwurf einer Arbeit, die mich lange im Geist beschäftigte:
denn gewöhnlich mußte ich erst etwas im Sinne beisammen haben, eh ich
zur Ausführung schritt. Alles, was das Genie durch Charakter und Geist
über die Menschen vermag, sollte dargestellt werden, und wie es dabei
gewinnt und verliert. Mehrere einzuschaltende Gesänge wurden vorläufig
gedichtet, von denen ist allein noch übrig, was, überschrieben "Mahomets
Gesang ", unter meinen Gedichten steht. Im Stücke sollte Ali, zu
Ehren seines Meisters, auf dem höchsten Punkte des Gelingens diesen
Gesang vortragen, kurz vor der Umwendung, die durch das Gift geschieht.
Ich erinnere mich auch noch der Intentionen einzelner Stellen, doch würde
mich die Entwickelung derselben hier zu weit führen.
|
|
<zurück | Inhalt | weiter> |
Wolfgang
Peter, Ketzergasse 261/3,
A-2380 Perchtoldsdorf, Austria Tel/Fax: +43-1- 86 59 103 Mobil: 0676 9
414 616 |
|