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Johann Wolfgang
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Fünfzehntes BuchVon
so vielfachen Zerstreuungen, die doch meist zu ernsten, ja religiösen
Betrachtungen Anlaß gaben, kehrte ich immer wieder zu meiner edlen
Freundin von Klettenberg zurück, deren Gegenwart meine stürmischen,
nach allen Seiten hinstrebenden Neigungen und Leidenschaften, wenigstens
für einen Augenblick, beschwichtigte, und der ich von solchen Vorsätzen,
nach meiner Schwester, am liebsten Rechenschaft gab. Ich hätte wohl
bemerken können, daß von Zeit zu Zeit ihre Gesundheit abnahm, allein
ich verhehlte mir's, und durfte dies um so eher, als ihre Heiterkeit mit
der Krankheit zunahm. Sie pflegte nett und reinlich am Fenster in ihrem
Sessel zu sitzen, vernahm die Erzählungen meiner Ausflüge mit
Wohlwollen, sowie dasjenige, was ich ihr vorlas. Manchmal zeichnete ich
ihr auch etwas hin, um die Gegenden leichter zu beschreiben, die ich
gesehn hatte. Eines Abends, als ich mir eben mancherlei Bilder wieder
hervorgerufen, kam, bei untergehender Sonne, sie und ihre Umgebung mir
wie verklärt vor, und ich konnte mich nicht enthalten, so gut es meine
Unfähigkeit zuließ, ihre Person und die Gegenstände des Zimmers in
ein Bild zu bringen, das unter den Händen eines kunstfertigen Malers,
wie Kersting, höchst anmutig geworden wäre. Ich sendete es an eine
auswärtige Freundin und legte als Kommentar und Supplement ein Lied
hinzu.
Einen
Traum, wie lieb und gut, Schaue,
wie sie sich hinüber Fühle,
was ich in dem Weben Wenn
ich mich in diesen Strophen, wie auch sonst wohl manchmal geschah, als
einen Auswärtigen, Fremden, sogar als einen Heiden gab, war ihr dieses
nicht zuwider, vielmehr versicherte sie mir, daß ich ihr so lieber sei
als früher, da ich mich der christlichen Terminologie bedient, deren
Anwendung mir nie recht habe glücken wollen; ja es war schon
hergebracht, wenn ich ihr Missionsberichte vorlas, welche zu hören ihr
immer sehr angenehm war, daß ich mich der Völker gegen die
Missionarien annehmen, und ihren früheren Zustand dem neuern vorziehen
durfte. Sie blieb immer freundlich und sanft, und schien meiner und
meines Heils wegen nicht in der mindesten Sorge zu sein.
Daß ich mich aber nach und nach immer mehr von jenem Bekenntnis
entfernte, kam daher, weil ich dasselbe mit allzu großem Ernst, mit
leidenschaftlicher Liebe zu ergreifen gesucht hatte. Seit meiner Annäherung
an die Brüdergemeine hatte meine Neigung zu dieser Gesellschaft, die
sich unter der Siegesfahne Christi versammelte, immer zugenommen. Jede
positive Religion hat ihren größten Reiz, wenn sie im Werden begriffen
ist; deswegen ist es so angenehm, sich in die Zeiten der Apostel zu
denken, wo sich alles noch frisch und unmittelbar geistig darstellt, und
die Brüdergemeine hatte hierin etwas Magisches, daß sie jenen ersten
Zustand fortzusetzen, ja zu verewigen schien. Sie knüpfte ihren
Ursprung an die frühsten Zeiten an, sie war niemals fertig geworden,
sie hatte sich nur in unbemerkten Ranken durch die rohe Welt
hindurchgewunden; nun schlug ein einzelnes Auge, unter dem Schutz eines
frommen vorzüglichen Mannes, Wurzel, um sich abermals aus unmerklichen,
zufälligscheinenden Anfängen weit über die Welt auszubreiten. Der
wichtigste Punkt hierbei war der, daß man die religiöse und bürgerliche
Verfassung unzertrennlich in eins zusammenschlang, daß der Lehrer
zugleich als Gebieter, der Vater zugleich als Richter dastand; ja, was
noch mehr war, das göttliche Oberhaupt, dem man in geistlichen Dingen
einen unbedingten Glauben geschenkt hatte, ward auch zu Lenkung
weltlicher Angelegenheiten angerufen, und seine Antwort, sowohl was die
Verwaltung im ganzen, als auch was jeden einzelnen bestimmen sollte,
durch den Ausspruch des Loses mit Ergebenheit vernommen. Die schöne
Ruhe, wie sie wenigstens das Äußere bezeugte, war höchst einladend,
indem von der andern Seite, durch den Missionsberuf, alle Tatkraft, die
in dem Menschen liegt, in Anspruch genommen wurde. Die trefflichen Männer,
die ich auf dem Synodus zu Marienborn, wohin mich Legationsrat Moritz,
Geschäftsträger der Grafen von Isenburg, mitnahm, kennen lernte,
hatten meine ganze Verehrung gewonnen, und es wäre nur auf sie
angekommen, mich zu dem Ihrigen zu machen. Ich beschäftigte mich mit
ihrer Geschichte, mit ihrer Lehre, der Herkunft und Ausbildung
derselben, und fand mich in dem Fall, davon Rechenschaft zu geben, und
mich mit Teilnehmenden darüber zu unterhalten. Ich mußte jedoch
bemerken, daß die Brüder so wenig als Fräulein von Klettenberg mich für
einen Christen wollten gelten lassen, welches mich anfangs beunruhigte,
nachher aber meine Neigung einigermaßen erkältete. Lange konnte ich
jedoch den eigentlichen Unterscheidungsgrund nicht auffinden, ob er
gleich ziemlich am Tage lag, bis er mir mehr zufällig als durch
Forschung entgegendrang. Was mich nämlich von der Brüdergemeine so wie
von andern werten Christenseelen absonderte, war dasselbige, worüber
die Kirche schon mehr als einmal in Spaltung geraten war. Ein Teil
behauptete, daß die menschliche Natur durch den Sündenfall dergestalt
verdorben sei, daß auch bis in ihren innersten Kern nicht das mindeste
Gute an ihr zu finden, deshalb der Mensch auf seine eignen Kräfte
durchaus Verzicht zu tun, und alles von der Gnade und ihrer Einwirkung
zu erwarten habe. Der andere Teil gab zwar die erblichen Mängel der
Menschen sehr gern zu, wollte aber der Natur inwendig noch einen
gewissen Keim zugestehn, welcher, durch göttliche Gnade belebt, zu
einem frohen Baume geistiger Glückseligkeit emporwachsen könne. Von
dieser letztern Überzeugung war ich aufs innigste durchdrungen, ohne es
selbst zu wissen, obwohl ich mich mit Mund und Feder zu dem Gegenteile
bekannt hatte; aber ich dämmerte so hin, das eigentliche Dilemma hatte
ich mir nie ausgesprochen. Aus diesem Traume wurde ich jedoch einst ganz
unvermutet gerissen, als ich diese meine, wie mir schien, höchst
unschuldige Meinung in einem geistlichen Gespräch ganz unbewunden eröffnete,
und deshalb eine große Strafpredigt erdulden mußte. Dies sei eben,
behauptete man mir entgegen, der wahre Pelagianismus, und gerade zum
Unglück der neueren Zeit wolle diese verderbliche Lehre wieder um sich
greifen. Ich war hierüber erstaunt, ja erschrocken. Ich ging in die
Kirchengeschichte zurück, betrachtete die Lehre und die Schicksale des
Pelagius näher, und sah nun deutlich, wie diese beiden unvereinbaren
Meinungen durch Jahrhunderte hin und her gewogt, und von den Menschen,
je nachdem sie mehr tätiger oder leidender Natur gewesen, aufgenommen
und bekannt worden.
Mich hatte der Lauf der vergangenen Jahre unablässig zu Übung
eigner Kraft aufgefordert, in mir arbeitete eine rastlose Tätigkeit,
mit dem besten Willen, zu moralischer Ausbildung. Die Außenwelt
forderte, daß diese Tätigkeit geregelt und zum Nutzen anderer
gebraucht werden sollte, und ich hatte diese große Forderung in mir
selbst zu verarbeiten. Nach allen Seiten hin war ich an die Natur
gewiesen, sie war mir in ihrer Herrlichkeit erschienen; ich hatte so
viel wackere und brave Menschen kennen gelernt, die sich's in ihrer
Pflicht, um der Pflicht willen, sauer werden ließen; ihnen, ja mir
selbst zu entsagen, schien mir unmöglich; die Kluft, die mich von jener
Lehre trennte, ward mir deutlich, ich mußte also auch aus dieser
Gesellschaft scheiden, und da mir meine Neigung zu den Heiligen
Schriften sowie zu dem Stifter und den früheren Bekennern nicht geraubt
werden konnte, so bildete ich mir ein Christentum zu meinem
Privatgebrauch, und suchte dieses durch fleißiges Studium der
Geschichte, und durch genaue Bemerkung derjenigen, die sich zu meinem
Sinne hingeneigt hatten, zu begründen und aufzubauen.
Weil nun aber alles, was ich mit Liebe in mich aufnahm, sich
sogleich zu einer dichterischen Form anlegte, so ergriff ich den
wunderlichen Einfall, die Geschichte des ewigen Juden, die sich schon früh
durch die Volksbücher bei mir eingedrückt hatte, episch zu behandeln,
um an diesem Leitfaden die hervorstehenden Punkte der Religions- und
Kirchengeschichte nach Befinden darzustellen. Wie ich mir aber die Fabel
gebildet, und welchen Sinn ich ihr untergelegt, gedenke ich nunmehr zu
erzählen.
In Jerusalem befand sich ein Schuster, dem die Legende den Namen
Ahasverus gibt. Zu diesem hatte mir mein Dresdner Schuster die Grundzüge
geliefert. Ich hatte ihn mit eines Handwerksgenossen, mit Hans Sachsens,
Geist und Humor bestens ausgestattet, und ihn durch eine Neigung zu
Christo veredelt. Weil er nun, bei offener Werkstatt, sich gern mit den
Vorbeigehenden unterhielt, sie neckte und, auf sokratische Weise, jeden
nach seiner Art anregte; so verweilten die Nachbarn und andre vom Volk
gern bei ihm, auch Pharisäer und Sadduzäer sprachen zu, und begleitet
von seinen Jüngern, mochte der Heiland selbst wohl auch manchmal bei
ihm verweilen. Der Schuster, dessen Sinn bloß auf die Welt gerichtet
war, faßte doch zu unserem Herrn eine besondere Neigung, die sich
hauptsächlich dadurch äußerte, daß er den hohen Mann, dessen Sinn er
nicht faßte, zu seiner eignen Denk- und Handelsweise bekehren wollte.
Er lag daher Christo sehr inständig an, doch aus der Beschaulichkeit
hervorzutreten, nicht mit solchen Müßiggängern im Lande herumzuziehn,
nicht das Volk von der Arbeit hinweg an sich in die Einöde zu locken:
ein versammeltes Volk sei immer ein aufgeregtes, und es werde nichts
Gutes daraus entstehn.
Dagegen suchte ihn der Herr von seinen höheren Ansichten und
Zwecken sinnbildlich zu belehren, die aber bei dem derben Manne nicht
fruchten wollten. Daher, als Christus immer bedeutender, ja eine öffentliche
Person ward, ließ sich der wohlwollende Handwerker immer schärfer und
heftiger vernehmen, stellte vor, daß hieraus notwendig Unruhen und
Aufstände erfolgen, und Christus selbst genötigt sein würde, sich als
Parteihaupt zu erklären, welches doch unmöglich seine Absicht sei. Da
nun der Verlauf der Sache wie wir wissen erfolgt, Christus gefangen und
verurteilt ist, so wird Ahasverus noch heftiger aufgeregt, als Judas,
der scheinbar den Herrn verraten, verzweifelnd in die Werkstatt tritt,
und jammernd seine mißlungene Tat erzählt. Er sei nämlich, so gut als
die klügsten der übrigen Anhänger, fest überzeugt gewesen, daß
Christus sich als Regent und Volkshaupt erklären werde, und habe das
bisher unüberwindliche Zaudern des Herrn mit Gewalt zur Tat nötigen
wollen, und deswegen die Priesterschaft zu Tätlichkeiten aufgereizt,
welche auch diese bisher nicht gewagt. Von der Jünger Seite sei man
auch nicht unbewaffnet gewesen, und wahrscheinlicherweise wäre alles
gut abgelaufen, wenn der Herr sich nicht selbst ergeben und sie in den
traurigsten Zuständen zurückgelassen hätte. Ahasverus, durch diese
Erzählungen keineswegs zur Milde gestimmt, verbittert vielmehr noch den
Zustand des armen Exapostels, so daß diesem nichts übrig bleibt, als
in der Eile sich aufzuhängen.
Als nun Jesus vor der Werkstatt des Schusters vorbei zum Tode geführt
wird, ereignet sich gerade dort die bekannte Szene, daß der Leidende
unter der Last des Kreuzes erliegt, und Simon von Cyrene dasselbe weiter
zu tragen gezwungen wird. Hier tritt Ahasverus hervor, nach hartverständiger
Menschen Art, die, wenn sie jemand durch eigne Schuld unglücklich sehn,
kein Mitleid fühlen, ja vielmehr, durch unzeitige Gerechtigkeit
gedrungen, das Übel durch Vorwürfe vermehren; er tritt heraus und
wiederholt alle früheren Warnungen, die er in heftige Beschuldigungen
verwandelt, wozu ihn seine Neigung für den Leidenden zu berechtigen
scheint. Dieser antwortet nicht, aber im Augenblicke bedeckt die
liebende Veronika des Heilands Gesicht mit dem Tuche, und da sie es
wegnimmt, und in die Höhe hält, erblickt Ahasverus darauf das Antlitz
des Herrn, aber keineswegs des in Gegenwart Leidenden, sondern eines
herrlich Verklärten und himmlisches Leben Ausstrahlenden. Geblendet von
dieser Erscheinung wendet er die Augen weg, und vernimmt die Worte:
"Du wandelst auf Erden, bis du mich in dieser Gestalt wieder
erblickst." Der Betroffene kommt erst einige Zeit nachher zu sich
selbst zurück, findet, da alles sich zum Gerichtsplatz gedrängt hat,
die Straßen Jerusalems öde, Unruhe und Sehnsucht treiben ihn fort, und
er beginnt seine Wanderung.
Von dieser und von dem Ereignis, wodurch das Gedicht zwar
geendigt, aber nicht abgeschlossen wird, vielleicht ein andermal. Der
Anfang, zerstreute Stellen, und der Schluß waren geschrieben; aber mir
fehlte die Sammlung, mir fehlte die Zeit, die nötigen Studien zu
machen, daß ich ihm hätte den Gehalt, den ich wünschte, geben können,
und es blieben die wenigen Blätter um desto eher liegen, als sich eine
Epoche in mir entwickelte, die sich schon, als ich den
"Werther" schrieb, und nachher dessen Wirkungen sah, notwendig
anspinnen mußte.
Das gemeine Menschenschicksal, an welchem wir alle zu tragen
haben, muß denjenigen am schwersten aufliegen, deren Geisteskräfte
sich früher und breiter entwickeln. Wir mögen unter dem Schutz von
Eltern und Verwandten emporkommen, wir mögen uns an Geschwister und
Freunde anlehnen, durch Bekannte unterhalten, durch geliebte Personen
beglückt werden; so ist doch immer das Final, daß der Mensch auf sich
zurückgewiesen wird, und es scheint, es habe sogar die Gottheit sich so
zu dem Menschen gestellt, daß sie dessen Ehrfurcht, Zutrauen und Liebe
nicht immer, wenigstens nicht grade im dringenden Augenblick, erwidern
kann. Ich hatte jung genug gar oft erfahren, daß in den hülfsbedürftigsten
Momenten uns zugerufen wird: "Arzt, hilf dir selber!", und wie
oft hatte ich nicht schmerzlich ausseufzen müssen: "Ich trete die
Kelter allein." Indem ich mich also nach Bestätigung der Selbständigkeit
umsah, fand ich als die sicherste Base derselben mein produktives
Talent. Es verließ mich seit einigen Jahren keinen Augenblick; was ich
wachend am Tage gewahr wurde, bildete sich sogar öfters nachts in
regelmäßige Träume, und wie ich die Augen auftat, erschien mir
entweder ein wunderliches neues Ganze, oder der Teil eines schon
Vorhandenen. Gewöhnlich schrieb ich alles zur frühsten Tageszeit; aber
auch abends, ja tief in die Nacht, wenn Wein und Geselligkeit die
Lebensgeister erhöhten, konnte man von mir fordern, was man wollte; es
kam nur auf eine Gelegenheit an, die einigen Charakter hatte, so war ich
bereit und fertig. Wie ich nun über diese Naturgabe nachdachte und
fand, daß sie mir ganz eigen angehöre und durch nichts Fremdes weder
begünstigt noch gehindert werden könne, so mochte ich gern hierauf
mein ganzes Dasein in Gedanken gründen. Diese Vorstellung verwandelte
sich in ein Bild, die alte mythologische Figur des Prometheus fiel mir
auf, der, abgesondert von den Göttern, von seiner Werkstätte aus eine
Welt bevölkerte. Ich fühlte recht gut, daß sich etwas Bedeutendes nur
produzieren lasse, wenn man sich isoliere. Meine Sachen, die so viel
Beifall gefunden hatten, waren Kinder der Einsamkeit, und seitdem ich zu
der Welt in einem breitern Verhältnis stand, fehlte es nicht an Kraft
und Lust der Erfindung, aber die Ausführung stockte, weil ich weder in
Prosa noch in Versen eigentlich einen Stil hatte, und bei einer jeden
neuen Arbeit, je nachdem der Gegenstand war, immer von vorne tasten und
versuchen mußte. Indem ich nun hierbei die Hülfe der Menschen
abzulehnen, ja auszuschließen hatte, so sonderte ich mich, nach
Prometheischer Weise, auch von den Göttern ab, um so natürlicher, als
bei meinem Charakter und meiner Denkweise eine Gesinnung jederzeit die
übrigen verschlang und abstieß.
Die Fabel des Prometheus ward in mir lebendig. Das alte
Titanengewand schnitt ich mir nach meinem Wuchse zu, und fing, ohne
weiter nachgedacht zu haben, ein Stück zu schreiben an, worin das Mißverhältnis
dargestellt ist, in welches Prometheus zu dem Zeus und den neuen Göttern
gerät, indem er auf eigne Hand Menschen bildet, sie durch Gunst der
Minerva belebt, und eine dritte Dynastie stiftet. Und wirklich hatten
die jetzt regierenden Götter sich zu beschweren völlig Ursache, weil
man sie als unrechtmäßig zwischen die Titanen und Menschen
eingeschobene Wesen betrachten konnte. Zu dieser seltsamen Komposition
gehört als Monolog jenes Gedicht, das in der deutschen Literatur
bedeutend geworden, weil, dadurch veranlaßt, Lessing über wichtige
Punkte des Denkens und Empfindens sich gegen Jacobi erklärte. Es diente
zum Zündkraut einer Explosion, welche die geheimsten Verhältnisse würdiger
Männer aufdeckte und zur Sprache brachte: Verhältnisse, die, ihnen
selbst unbewußt, in einer sonst höchst aufgeklärten Gesellschaft
schlummerten. Der Riß war so gewaltsam, daß wir darüber, bei
eintretenden Zufälligkeiten, einen unserer würdigsten Männer,
Mendelssohn, verloren.
Ob man nun wohl, wie auch geschehn, bei diesem Gegenstande
philosophische, ja religiöse Betrachtungen anstellen kann, so gehört
er doch ganz eigentlich der Poesie. Die Titanen sind die Folie des
Polytheismus, so wie man als Folie des Monotheismus den Teufel
betrachten kann; doch ist dieser so wie der einzige Gott, dem er
entgegensteht, keine poetische Figur. Der Satan Miltons, brav genug
gezeichnet, bleibt immer in dem Nachteil der Subalternität, indem er
die herrliche Schöpfung eines oberen Wesens zu zerstören sucht,
Prometheus hingegen im Vorteil, der, zum Trutz höherer Wesen, zu
schaffen und zu bilden vermag. Auch ist es ein schöner, der Poesie
zusagender Gedanke, die Menschen nicht durch den obersten Weltherrscher,
sondern durch eine Mittelfigur hervorbringen zu lassen, die aber doch,
als Abkömmling der ältesten Dynastie, hierzu würdig und wichtig genug
ist; wie denn überhaupt die griechische Mythologie einen unerschöpflichen
Reichtum göttlicher und menschlicher Symbole darbietet.
Der titanisch-gigantische, himmelstürmende Sinn jedoch verlieh
meiner Dichtungsart keinen Stoff. Eher ziemte sich mir, darzustellen
jenes friedliche, plastische, allenfalls duldende Widerstreben, das die
Obergewalt anerkannt, aber sich ihr gleichsetzen möchte. Doch auch die
Kühneren jenes Geschlechts, Tantalus, Ixion, Sisyphus, waren meine
Heiligen. In die Gesellschaft der Götter aufgenommen, mochten sie sich
nicht untergeordnet genug betragen, als übermütige Gäste ihres
wirtlichen Gönners Zorn verdient und sich eine traurige Verbannung
zugezogen haben. Ich bemitleidete sie, ihr Zustand war von den Alten
schon als wahrhaft tragisch anerkannt, und wenn ich sie als Glieder
einer ungeheuren Opposition im Hintergrunde meiner "Iphigenie"
zeigte, so bin ich ihnen wohl einen Teil der Wirkung schuldig, welche
dieses Stück hervorzubringen das Glück hatte.
Zu jener Zeit aber ging bei mir das Dichten und Bilden
unaufhaltsam miteinander. Ich zeichnete die Porträte meiner Freunde im
Profil auf grau Papier mit weißer und schwarzer Kreide. Wenn ich
diktierte oder mir vorlesen ließ, entwarf ich die Stellungen der
Schreibenden und Lesenden, mit ihrer Umgebung; die Ähnlichkeit war
nicht zu verkennen, und die Blätter wurden gut aufgenommen. Diesen
Vorteil haben Dilettanten immer, weil sie ihre Arbeit umsonst geben. Das
Unzulängliche dieses Abbildens jedoch fühlend, griff ich wieder zu
Sprache und Rhythmus, die mir besser zu Gebote standen. Wie munter, froh
und rasch ich dabei zu Werke ging, davon zeugen manche Gedichte, welche,
die Kunstnatur und die Naturkunst enthusiastisch verkündend, im
Augenblicke des Entstehens sowohl mir als meinen Freunden immer neuen
Mut beförderten.
Als ich nun einst in dieser Epoche und so beschäftigt, bei
gesperrtem Lichte, in meinem Zimmer saß, dem wenigstens der Schein
einer Künstlerwerkstatt hierdurch verliehen war, überdies auch die Wände,
mit halbfertigen Arbeiten besteckt und behangen, das Vorurteil einer großen
Tätigkeit gaben; so trat ein wohlgebildeter schlanker Mann bei mir ein,
den ich zuerst in der Halbdämmerung für Fritz Jacobi hielt, bald aber
meinen Irrtum erkennend als einen Fremden begrüßte. An seinem freien
anständigen Betragen war eine gewisse militärische Haltung nicht zu
verkennen. Er nannte mir seinen Namen von Knebel, und aus einer kurzen
Eröffnung vernahm ich, daß er, im preußischen Dienste, bei einem längern
Aufenthalt in Berlin und Potsdam, mit den dortigen Literatoren und der
deutschen Literatur überhaupt ein gutes und tätiges Verhältnis angeknüpft
habe. An Ramlern hatte er sich vorzüglich gehalten und dessen Art,
Gedichte zu rezitieren, angenommen. Auch war er genau mit allem bekannt,
was Götz geschrieben, der unter den Deutschen damals noch keinen Namen
hatte. Durch seine Veranstaltung war die "Mädcheninsel"
dieses Dichters in Potsdam abgedruckt worden und sogar dem König in die
Hände gekommen, welcher sich günstig darüber geäußert haben soll.
Kaum hatten wir diese allgemein deutschen literarischen Gegenstände
durchgesprochen, als ich zu meinem Vergnügen erfuhr, daß er gegenwärtig
in Weimar angestellt und zwar dem Prinzen Konstantin zum Begleiter
bestimmt sei. Von den dortigen Verhältnissen hatte ich schon manches Günstige
vernommen: denn es kamen viele Fremde von daher zu uns, die Zeugen
gewesen waren, wie die Herzogin Amalia zu Erziehung ihrer Prinzen die
vorzüglichsten Männer berufen; wie die Akademie Jena durch ihre
bedeutenden Lehrer zu diesem schönen Zweck gleichfalls das Ihrige
beigetragen; wie die Künste nicht nur von gedachter Fürstin geschützt,
sondern selbst von ihr gründlich und eifrig getrieben würden. Auch
vernahm man, daß Wieland in vorzüglicher Gunst stehe; wie denn auch
der "Deutsche Merkur", der die Arbeiten so mancher auwärtigen
Gelehrten versammelte, nicht wenig zu dem Rufe der Stadt beitrug, wo er
herausgegeben wurde. Eins der besten deutschen Theater war dort
eingerichtet, und berühmt durch Schauspieler sowohl als Autoren, die
dafür arbeiteten. Diese schönen Anstalten und Anlagen schienen jedoch
durch den schrecklichen Schloßbrand, der im Mai desselben Jahres sich
ereignet hatte, gestört und mit einer langen Stockung bedroht; allein
das Zutrauen auf den Erbprinzen war so groß, daß jedermann sich überzeugt
hielt, dieser Schade werde nicht allein bald ersetzt, sondern auch
dessen ungeachtet jede andere Hoffnung reichlich erfüllt werden. Wie
ich mich nun, gleichsam als ein alter Bekannter, nach diesen Personen
und Gegenständen erkundigte und den Wunsch äußerte, mit den dortigen
Verhältnissen näher bekannt zu sein; so versetzte der Ankömmling gar
freundlich: es sei nichts leichter als dieses, denn soeben lange der
Erbprinz mit seinem Herrn Bruder, dem Prinzen Konstantin, in Frankfurt
an, welche mich zu sprechen und zu kennen wünschten. Ich zeigte
sogleich die größte Bereitwilligkeit ihnen aufzuwarten, und der neue
Freund versetzte, daß ich damit nicht säumen solle, weil der
Aufenthalt nicht lange dauern werde. Um mich hiezu anzuschicken, führte
ich ihn zu meinen Eltern, die, über seine Ankunft und Botschaft höchst
verwundert, mit ihm sich ganz vergnüglich unterhielten. Ich eilte
nunmehr mit demselben zu den jungen Fürsten, die mich sehr frei und
freundlich empfingen, so wie auch der Führer des Erbprinzen, Graf Görtz,
mich nicht ungern zu sehen schien. Ob es nun gleich an literarischer
Unterhaltung nicht fehlte, so machte doch ein Zufall die beste
Einleitung, daß sie gar bald bedeutend und fruchtbar werden konnte.
Es lagen nämlich Mösers "Patriotische Phantasien",
und zwar der erste Teil, frisch geheftet und unaufgeschnitten, auf dem
Tische. Da ich sie nun sehr gut, die Gesellschaft sie aber wenig kannte,
so hatte ich den Vorteil, davon eine ausführliche Relation liefern zu können;
und hier fand sich der schicklichste Anlaß zu einem Gespräch mit einem
jungen Fürsten, der den besten Willen und den festen Vorsatz hatte, an
seiner Stelle entschieden Gutes zu wirken. Mösers Darstellung, so dem
Inhalt als dem Sinne nach, muß einem jeden Deutschen höchst
interessant sein. Wenn man sonst dem Deutschen Reiche Zersplitterung,
Anarchie und Ohnmacht vorwarf, so erschien aus dem Möserischen
Standpunkte gerade die Menge kleiner Staaten als höchst erwünscht zu
Ausbreitung der Kultur im einzelnen, nach den Bedürfnissen, welche aus
der Lage und Beschaffenheit der verschiedensten Provinzen hervorgehe;
und wenn Möser, von der Stadt, vom Stift Osnabrück ausgehend und über
den westfälischen Kreis sich verbreitend, nunmehr dessen Verhältnis zu
dem ganzen Reiche zu schildern wußte, und bei Beurteilung der Lage, das
Vergangene mit dem Gegenwärtigen zusammenknüpfend, dieses aus jenem
ableitete und dadurch, ob eine Veränderung lobens- oder tadelnswürdig
sei, gar deutlich auseinander setzte: so durfte nur jeder
Staatsverweser, an seinem Ort, auf gleiche Weise verfahren, um die
Verfassung seines Umkreises und deren Verknüpfung mit Nachbarn und mit
dem Ganzen aufs beste kennen zu lernen, und sowohl Gegenwart als Zukunft
zu beurteilen.
Bei dieser Gelegenheit kam manches aufs Tapet, was den
Unterschied der ober- und niedersächsischen Staaten betraf, und wie
sowohl die Naturprodukte als die Sitten, Gesetze und Gewohnheiten sich
von den frühesten Zeiten her anders gebildet und, nach der
Regierungsform und der Religion, bald auf die eine bald auf die andere
Weise gelenkt hatten. Man versuchte, die Unterschiede von beiden etwas
genauer herauszusetzen, und es zeigte sich gerade daran, wie vorteilhaft
es sei, ein gutes Muster vor sich zu haben, welches, wenn man nicht
dessen Einzelnheiten, sondern die Methode betrachtet, nach welcher es
angelegt ist, auf die verschiedensten Fälle angewendet und eben dadurch
dem Urteil höchst ersprießlich werden kann.
Bei Tafel wurden diese Gespräche fortgesetzt, und sie erregten für
mich ein besseres Vorurteil, als ich vielleicht verdiente. Denn anstatt
daß ich diejenigen Arbeiten, die ich selbst zu liefern vermochte, zum
Gegenstand des Gesprächs gemacht, für das Schauspiel, für den Roman
eine ungeteilte Aufmerksamkeit gefordert hätte, so schien ich vielmehr
in Mösern solche Schriftsteller vorzuziehen, deren Talent aus dem tätigen
Leben ausging und in dasselbe unmittelbar nützlich sogleich wieder zurückkehrte,
während eigentlich poetische Arbeiten, die über dem Sittlichen und
Sinnlichen schweben, erst durch einen Umschweif und gleichsam nur zufällig
nützen können. Bei diesen Gesprächen ging es nun wie bei den Märchen
der "Tausendundeinen Nacht": es schob sich eine bedeutende
Materie in und über die andere, manches Thema klang nur an, ohne daß
man es hätte verfolgen können; und so ward, weil der Aufenthalt der
jungen Herrschaften in Frankfurt nur kurz sein konnte, mir das
Versprechen abgenommen, daß ich nach Mainz folgen und dort einige Tage
zubringen sollte, welches ich denn herzlich gern ablegte und mit dieser
vergnügten Nachricht nach Hause eilte, um solche meinen Eltern
mitzuteilen. Meinem Vater wollte es jedoch keineswegs gefallen: denn
nach seinen reichsbürgerlichen Gesinnungen hatte er sich jederzeit von
den Großen entfernt gehalten, und obgleich mit den Geschäftsträgern
der umliegenden Fürsten und Herren in Verbindung, stand er doch
keineswegs in persönlichen Verhältnissen zu ihnen; ja es gehörten die
Höfe unter die Gegenstände, worüber er zu scherzen pflegte, auch wohl
gern sah, wenn man ihm etwas entgegensetzte, nur mußte man sich dabei,
nach seinem Bedünken, geistreich und witzig verhalten. Hatten wir ihm
das Procul a Jove procul a fulmine gelten lassen, doch aber bemerkt, daß
beim Blitze nicht sowohl vom Woher als vom Wohin die Rede sei; so
brachte er das alte Sprüchlein, mit großen Herren sei Kirschessen
nicht gut, auf die Bahn. Wir erwiderten, es sei noch schlimmer, mit genäschigen
Leuten aus einem Korbe speisen. Das wollte er nicht leugnen, hatte aber
schnell einen anderen Spruchreim zur Hand, der uns in Verlegenheit
setzen sollte. Denn da Sprüchworte und Denkreime vom Volke ausgehn,
welches, weil es gehorchen muß, doch wenigstens gern reden mag, die
Oberen dagegen durch die Tat sich zu entschädigen wissen; da ferner die
Poesie des sechzehnten Jahrhunderts fast durchaus kräftig didaktisch
ist: so kann es in unserer Sprache an Ernst und Scherz nicht fehlen, den
man von unten nach oben hinauf ausgeübt hat. Und so übten wir Jüngeren
uns nun auch von oben herunter, indem wir, uns was Großes einbildend,
auch die Partei der Großen zu nehmen beliebten; von welchen Reden und
Gegenreden ich einiges einschalte: A. Lang
bei Hofe, lang bei Höll!
B. Dort
wärmt sich mancher gute Gesell!
A. So
wie ich bin, bin ich mein eigen; Mir
soll niemand eine Gunst erzeigen. B. Was
willst du dich der Gunst denn schämen? Willst
du sie geben, mußt du sie nehmen. A. Willst
du die Not des Hofes schauen: Da
wo dich's juckt, darfst du nicht krauen! B. Wenn
der Redner zum Volke spricht, Da
wo er kraut, da juckt's ihn nicht. A. Hat
einer Knechtschaft sich erkoren, Ist
gleich die Hälfte des Lebens verloren; Ergeb'
sich was da will, so denk' er, Die
andere Hälft' geht auch zum Henker. B. Wer
sich in Fürsten weiß zu schicken, Dem
wird's heut oder morgen glücken; Wer
sich in den Pöbel zu schicken sucht, Der
hat sein ganzes Jahr verflucht. A. Wenn
dir der Weizen bei Hofe blüht, So
denke nur, daß nichts geschieht; Und
wenn du denkst, du hättest's in der Scheuer, Da
eben ist es nicht geheuer. B. Und
blüht der Weizen, so reift er auch, Das
ist immer so ein alter Brauch; Und
schlägt der Hagel die Ernte nieder, 's
andre Jahr trägt der Boden wieder. A. Wer
ganz will sein eigen sein, Schließe
sich ins Häuschen ein, Geselle
sich zu Frau und Kindern, Genieße
leichten Rebenmost Und
überdies frugale Kost, Und
nichts wird ihn am Leben hindern. B. Du
willst dem Herrscher dich entziehn? So
sag, wohin willst du denn fliehn? O
nimm es nur nicht so genau! Denn
es beherrscht dich deine Frau, Und
die beherrscht ihr dummer Bube, So
bist du Knecht in deiner Stube.
Soeben,
da ich aus alten Denkblättchen die vorstehenden Reime zusammensuche,
fallen mir mehr solche lustige Übungen in die Hände, wo wir alte
deutsche Kernworte amplifiziert und ihnen sodann andere Sprüchlein,
welche sich in der Erfahrung ebenso gut bewahrheiten, entgegengesetzt
hatten. Eine Auswahl derselben mag dereinst als Epilog der Puppenspiele
zu einem heiteren Denken Anlaß geben.
Durch alle solche Erwiderungen ließ sich jedoch mein Vater von
seinen Gesinnungen nicht abwendig machen. Er pflegte gewöhnlich sein stärkstes
Argument bis zum Schlusse der Unterhaltung aufzusparen, da er denn
Voltaires Abenteuer mit Friedrich dem Zweiten umständlich ausmalte: wie
die übergroße Gunst, die Familiarität, die wechselseitigen
Verbindlichkeiten auf einmal aufgehoben und verschwanden, und wir das
Schauspiel erlebt, daß jener außerordentliche Dichter und
Schriftsteller, durch Frankfurter Stadtsoldaten, auf Requisition des
Residenten Freitag und nach Befehl des Burgemeisters von Fichard,
arretiert und eine ziemliche Zeit im Gasthof "Zur Rose" auf
der Zeil gefänglich angehalten worden. Hierauf hätte sich zwar manches
einwenden lassen, unter andern, daß Voltaire selbst nicht ohne Schuld
gewesen; aber wir gaben uns aus kindlicher Achtung jedesmal gefangen.
Da nun auch bei dieser Gelegenheit auf solche und ähnliche Dinge
angespielt wurde, so wußte ich kaum, wie ich mich benehmen sollte: denn
er warnte mich unbewunden und behauptete, die Einladung sei nur, um mich
in eine Falle zu locken, und wegen jenes gegen den begünstigten Wieland
verübten Mutwillens Rache an mir zu nehmen. Wie sehr ich nun auch vom
Gegenteil überzeugt war, indem ich nur allzu deutlich sah, daß eine
vorgefaßte Meinung, durch hypochondrische Traumbilder aufgeregt, den würdigen
Mann beängstigte; so wollte ich gleichwohl nicht gerade wider seine Überzeugung
handeln, und konnte doch auch keinen Vorwand finden, unter dem ich, ohne
undankbar und unartig zu erscheinen, mein Versprechen wieder zurücknehmen
durfte. Leider war unsere Freundin von Klettenberg bettlägrig, auf die
wir in ähnlichen Fällen uns zu berufen pflegten. An ihr und meiner
Mutter hatte ich zwei vortreffliche Begleiterinnen; ich nannte sie nur
immer Rat und Tat: denn wenn jene einen heitern ja seligen Blick über
die irdischen Dinge warf, so entwirrte sich vor ihr gar leicht, was uns
andere Erdenkinder verwirrte, und sie wußte den rechten Weg gewöhnlich
anzudeuten, eben weil sie ins Labyrinth von oben herabsah und nicht
selbst darin befangen war; hatte man sich aber entschieden, so konnte
man sich auf die Bereitwilligkeit und auf die Tatkraft meiner Mutter
verlassen. Wie jener das Schauen, so kam dieser der Glaube zu Hülfe,
und weil sie in allen Fällen ihre Heiterkeit behielt, fehlte es ihr
auch niemals an Hülfsmitteln, das Vorgesetzte oder Gewünschte zu
bewerkstelligen. Gegenwärtig wurde sie nun an die kranke Freundin
abgesendet, um deren Gutachten einzuholen, und, da dieses für meine
Seite günstig ausfiel, sodann ersucht, die Einwilligung des Vaters zu
erlangen, der denn auch, obgleich ungläubig und ungern, nachgab.
Ich gelangte also in sehr kalter Jahreszeit zur bestimmten Stunde
nach Mainz, und wurde von den jungen Herrschaften und ihren Begleitern,
der Einladung gemäß, gar freundlich aufgenommen. Der in Frankfurt geführten
Gespräche erinnerte man sich, die begonnenen wurden fortgesetzt, und
als von der neuesten deutschen Literatur und von ihren Kühnheiten die
Rede war, fügte es sich ganz natürlich, daß auch jenes famose Stück,
"Götter, Helden und Wieland", zur Sprache kam; wobei ich
gleich anfangs mit Vergnügen bemerkte, daß man die Sache heiter und
lustig betrachtete. Wie es aber mit dieser Posse, welche so großes
Aufsehn erregt, eigentlich zugegangen, war ich zu erzählen veranlaßt,
und so konnte ich nicht umhin, vor allen Dingen einzugestehn, daß wir,
als wahrhaft oberrheinische Gesellen, sowohl der Neigung als Abneigung
keine Grenzen kannten. Die Verehrung Shakespeares ging bei uns bis zur
Anbetung. Wieland hatte hingegen, bei der entschiedenen Eigenheit, sich
und seinen Lesern das Interesse zu verderben und den Enthusiasmus zu
verkümmern, in den Noten zu seiner Übersetzung gar manches an dem großen
Autor getadelt, und zwar auf eine Weise, die uns äußerst verdroß und
in unsern Augen das Verdienst dieser Arbeit schmälerte. Wir sahen
Wielanden, den wir als Dichter so hoch verehrten, der uns als Übersetzer
so großen Vorteil gebracht, nunmehr als Kritiker launisch, einseitig
und ungerecht. Hiezu kam noch, daß er sich auch gegen unsere Abgötter,
die Griechen, erklärte und dadurch unsern bösen Willen gegen ihn noch
schärfte. Es ist genugsam bekannt, daß die griechischen Götter und
Helden nicht auf moralischen, sondern auf verklärten physischen
Eigenschaften ruhen, weshalb sie auch dem Künstler so herrliche
Gestalten anbieten. Nun hatte Wieland in der "Alceste" Helden
und Halbgötter nach moderner Art gebildet; wogegen denn auch nichts wäre
zu sagen gewesen, weil ja einem jeden freisteht, die poetischen
Traditionen nach seinen Zwecken und seiner Denkweise umzuformen. Allein
in den Briefen, die er über gedachte Oper in den "Merkur"
einrückte, schien er uns diese Behandlungsart allzu parteiisch
hervorzuheben und sich an den trefflichen Alten und ihrem höhern Stil
unverantwortlich zu versündigen, indem er die derbe gesunde Natur, die
jenen Produktionen zum Grunde liegt, keinesweges anerkennen wollte.
Diese Beschwerden hatten wir kaum in unserer kleinen Sozietät
leidenschaftlich durchgesprochen, als die gewöhnliche Wut, alles zu
dramatisieren, mich eines Sonntags nachmittags anwandelte, und ich, bei
einer Flasche guten Burgunders, das ganze Stück, wie es jetzt daliegt,
in einer Sitzung niederschrieb. Es war nicht so bald meinen gegenwärtigen
Mitgenossen vorgelesen und von ihnen mit großem Jubel aufgenommen
worden, als ich die Handschrift an Lenz nach Straßburg schickte,
welcher gleichfalls davon entzückt schien und behauptete, es müsse auf
der Stelle gedruckt werden. Nach einigem Hin- und Widerschreiben gestand
ich es zu, und er gab es in Straßburg eilig unter die Presse. Erst
lange nachher erfuhr ich, daß dieses einer von Lenzens ersten Schritten
gewesen, wodurch er mir zu schaden und mich beim Publikum in üblen Ruf
zu setzen die Absicht hatte; wovon ich aber zu jener Zeit nichts spürte
noch ahndete.
Und so hatte ich meinen neuen Gönnern mit aller Naivetät diesen
arglosen Ursprung des Stücks, so gut wie ich ihn selbst wußte, vorerzählt
und, um sie völlig zu überzeugen, daß hiebei keine Persönlichkeit
noch eine andere Absicht obwalte, auch die lustige und verwegene Art
mitgeteilt, wie wir uns untereinander zu necken und zu verspotten
pflegten. Hierauf sah ich die Gemüter völlig erheitert, und man
bewunderte uns beinah, daß wir eine so große Furcht hatten, es möge
irgend jemand auf seinen Lorbeern einschlafen. Man verglich eine solche
Gesellschaft jenen Flibustiers, welche sich in jedem Augenblick der Ruhe
zu verweichlichen fürchteten, weshalb der Anführer, wenn es keine
Feinde und nichts zu rauben gab, unter den Gelagtisch eine Pistole
losschoß, damit es auch im Frieden nicht an Wunden und Schmerzen fehlen
möge. Nach manchen Hin- und Widerreden über diesen Gegenstand ward ich
endlich veranlaßt, Wielanden einen freundlichen Brief zu schreiben,
wozu ich die Gelegenheit sehr gern ergriff, da er sich schon im
"Merkur" über diesen Jugendstreich sehr liberal erklärt und,
wie er es in literarischen Fehden meist getan, geistreich abschließend
benommen hatte.
Die wenigen Tage des Mainzer Aufenthalts verstrichen sehr
angenehm: denn wenn die neuen Gönner durch Visiten und Gastmähler außer
dem Hause gehalten wurden, blieb ich bei den Ihrigen, porträtierte
manchen und fuhr auch wohl Schlittschuh, wozu die eingefrornen
Festungsgraben die beste Gelegenheit verschafften. Voll von dem Guten,
was mir dort begegnet war, kehrte ich nach Hause zurück und stand im
Begriff, beim Eintreten mir durch umständliche Erzählung das Herz zu
erleichtern; aber ich sah nur verstörte Gesichter, und es blieb mir
nicht lange verborgen, daß unsere Freundin Klettenberg von uns
geschieden sei. Ich war hierüber sehr betroffen, weil ich ihrer gerade
in meiner gegenwärtigen Lage mehr als jemals bedurfte. Man erzählte
mir zu meiner Beruhigung, daß ein frommer Tod sich an ein seliges Leben
angeschlossen und ihre gläubige Heiterkeit sich bis ans Ende ungetrübt
erhalten habe. Noch ein anderes Hindernis stellte sich einer freien
Mitteilung entgegen: mein Vater, anstatt sich über den guten Ausgang
dieses kleinen Abenteuers zu freuen, verharrte auf seinem Sinne und
behauptete, dieses alles sei von jener Seite nur Verstellung, und man
gedenke vielleicht in der Folge etwas Schlimmeres gegen mich auszuführen.
Ich war daher mit meiner Erzählung zu den jüngern Freunden hingedrängt,
denen ich denn freilich die Sache nicht umständlich genug überliefern
konnte. Aber auch hier entsprang aus Neigung und gutem Willen eine mir höchst
unangenehme Folge: denn kurz darauf erschien eine Flugschrift,
"Prometheus und seine Rezensenten", gleichfalls in
dramatischer Form. Man hatte darin den neckischen Einfall ausgeführt,
anstatt der Personennamen kleine Holzschnittfiguren zwischen den Dialog
zu setzen, und durch allerlei satirische Bilder diejenigen Kritiker zu
bezeichnen, die sich über meine Arbeiten und was ihnen verwandt war, öffentlich
hatten vernehmen lassen. Hier stieß der Altonaer Postreiter ohne Kopf
ins Horn, hier brummte ein Bär, dort schnatterte eine Gans; der Merkur
war auch nicht vergessen, und manches wilde und zahme Geschöpf suchte
den Bildner in seiner Werkstatt irre zu machen, welcher aber, ohne
sonderlich Notiz zu nehmen, seine Arbeit eifrig fortsetzte und dabei
nicht verschwieg, wie er es überhaupt zu halten denke. Dieser
unerwartet hervorbrechende Scherz fiel mir sehr auf, weil er dem Stil
und Ton nach von jemand aus unserer Gesellschaft sein mußte, ja man hätte
das Werklein für meine eigene Arbeit halten sollen. Am unangenehmsten
aber war mir, daß Prometheus einiges verlauten ließ, was sich auf den
Mainzer Aufenthalt und die dortigen Äußerungen bezog, und was
eigentlich niemand als ich wissen sollte. Mir aber bewies es, daß der
Verfasser von denjenigen sei, die meinen engsten Kreis bildeten und mich
jene Ereignisse und Umstände weitläuftig hatten erzählen hören. Wir
sahen einer den andern an, und jeder hatte die übrigen im Verdacht; der
unbekannte Verfasser wußte sich gut zu verstellen. Ich schalt sehr
heftig auf ihn, weil es mir äußerst verdrießlich war, nach einer so günstigen
Aufnahme und so bedeutender Unterhaltung, nach meinem an Wieland
geschriebenen zutraulichen Briefe hier wieder Anlässe zu neuem Mißtrauen
und frische Unannehmlichkeiten zu sehen. Die Ungewißheit hierüber
dauerte jedoch nicht lange: denn als ich in meiner Stube auf und ab
gehend mir das Büchlein laut vorlas, hörte ich an den Einfällen und
Wendungen ganz deutlich die Stimme Wagners, und er war es auch. Wie ich
nämlich zur Mutter hinunter sprang, ihr meine Entdeckung mitzuteilen,
gestand sie mir, daß sie es schon wisse. Der Autor, beängstigt über
den schlimmen Erfolg bei einer, wie ihm deuchte, so guten und löblichen
Absicht, hatte sich ihr entdeckt und um Fürsprache gebeten, damit meine
ausgestoßene Drohung, ich würde mit dem Verfasser, wegen mißbrauchten
Vertrauens, keinen Umgang mehr haben, an ihm nicht erfüllt werden möchte.
Hier kam ihm nun sehr zustatten, daß ich es selbst entdeckt hatte und
durch das Behagen, wovon ein jedes eigene Gewahrwerden begleitet wird,
zur Versöhnung gestimmt war. Der Fehler war verziehen, der zu einem
solchen Beweis meiner Spürkraft Gelegenheit gegeben hatte. Indessen war
das Publikum so leicht nicht zu überzeugen, daß Wagner der Verfasser
sei, und daß ich keine Hand mit im Spiel gehabt habe. Man traute ihm
die Vielseitigkeit nicht zu, weil man nicht bedachte, daß er alles, was
in einer geistreichen Gesellschaft seit geraumer Zeit bescherzt und
verhandelt worden, aufzufassen, zu merken und in einer bekannten Manier
wohl darzustellen vermochte, ohne deshalb ein ausgezeichnetes Talent zu
besitzen. Und so hatte ich nicht allein meine eigenen Torheiten, sondern
auch den Leichtsinn, die Übereilung meiner Freunde diesmal und in der
Folge sehr oft zu büßen.
Erinnert durch mehrere zusammentreffende Umstände, will ich noch
einiger bedeutenden Männer gedenken, die, zu verschiedener Zeit vorüberreisend,
teils in unserem Haus gewohnt, teils freundliche Bewirtung angenommen
haben. Klopstock steht hier billig abermals obenan. Ich hatte schon
mehrere Briefe mit ihm gewechselt, als er mir anzeigte, daß er nach
Karlsruhe zu gehen und daselbst zu wohnen eingeladen sei; er werde zur
bestimmten Zeit in Friedberg eintreffen, und wünsche, daß ich ihn
daselbst abhole. Ich verfehlte nicht, zur rechten Stunde mich
einzufinden; allein er war auf seinem Wege zufällig aufgehalten worden,
und nachdem ich einige Tage vergebens gewartet, kehrte ich nach Hause
zurück, wo er denn erst nach einiger Zeit eintraf, sein Außenbleiben
entschuldigte und meine Bereitwilligkeit, ihm entgegen zu kommen, sehr
wohl aufnahm. Er war klein von Person, aber gut gebaut, sein Betragen
ernst und abgemessen, ohne steif zu sein, seine Unterhaltung bestimmt
und angenehm. Im ganzen hatte seine Gegenwart etwas von der eines
Diplomaten. Ein solcher Mann unterwindet sich der schweren Aufgabe,
zugleich seine eigene Würde und die Würde eines Höheren, dem er
Rechenschaft schuldig ist, durchzuführen, seinen eigenen Vorteil neben
dem viel wichtigern eines Fürsten, ja ganzer Staaten zu befördern, und
sich in dieser bedenklichen Lage vor allen Dingen den Menschen gefällig
zu machen. Und so schien sich auch Klopstock als Mann von Wert und als
Stellvertreter höherer Wesen, der Religion, der Sittlichkeit und
Freiheit, zu betragen. Eine andere Eigenheit der Weltleute hatte er auch
angenommen, nämlich nicht leicht von Gegenständen zu reden, über die
man gerade ein Gespräch erwartet und wünscht. Von poetischen und
literarischen Dingen hörte man ihn selten sprechen. Da er aber an mir
und meinen Freunden leidenschaftliche Schlittschuhfahrer fand, so
unterhielt er sich mit uns weitläuftig über diese edle Kunst, die er
gründlich durchgedacht und, was dabei zu suchen und zu meiden sei, sich
wohl überlegt hatte. Ehe wir jedoch seiner geneigten Belehrung teilhaft
werden konnten, mußten wir uns gefallen lassen, über den Ausdruck
selbst, den wir verfehlten, zurecht gewiesen zu werden. Wir sprachen nämlich
auf gut oberdeutsch von Schlittschuhen, welches er durchaus nicht wollte
gelten lassen: denn das Wort komme keinesweges von Schlitten, als wenn
man auf kleinen Kufen dahinführe, sondern von Schreiten, indem man, den
Homerischen Göttern gleich, auf diesen geflügelten Sohlen über das
zum Boden gewordene Meer hinschritte. Nun kam es an das Werkzeug selbst;
er wollte von den hohen hohlgeschliffenen Schrittschuhen nichts wissen,
sondern empfahl die niedrigen, breiten, flachgeschliffenen friesländischen
Stähle, als welche zum Schnellaufen die dienlichsten seien. Von Kunststücken,
die man bei dieser Übung zu machen pflegt, war er kein Freund. Ich
schaffte mir nach seinem Gebot so ein Paar flache Schuhe mit langen Schnäbeln,
und habe solche, obschon mit einiger Unbequemlichkeit, viele Jahre geführt.
Auch vom Kunstreiten, und sogar vom Bereiten der Pferde wußte er
Rechenschaft zu geben und tat es gern; und so lehnte er, wie es schien
vorsätzlich, das Gespräch über sein eigen Metier gewöhnlich ab, um
über fremde Künste, die er als Liebhaberei trieb, desto unbefangener
zu sprechen. Von diesen und andern Eigentümlichkeiten des außerordentlichen
Mannes würde ich noch manches erwähnen können, wenn nicht Personen,
die länger mit ihm gelebt, uns bereits genugsam hievon unterrichtet hätten;
aber einer Betrachtung kann ich mich nicht erwehren, daß nämlich
Menschen, denen die Natur außerordentliche Vorzüge gegeben, sie aber
in einen engen oder wenigstens nicht verhältnismäßigen Wirkungskreis
gesetzt, gewöhnlich auf Sonderbarkeiten verfallen, und, weil sie von
ihren Gaben keinen direkten Gebrauch zu machen wissen, sie auf außerordentlichen
und wunderlichen Wegen geltend zu machen versuchen.
Zimmermann war gleichfalls eine Zeitlang unser Gast. Dieser, groß
und stark gebaut, von Natur heftig und gerade vor sich hin, hatte doch
sein Äußeres und sein Betragen völlig in der Gewalt, so daß er im
Umgang als ein gewandter weltmännischer Arzt erschien, und seinem
innerlich ungebändigten Charakter nur in Schriften und im vertrautesten
Umgang einen ungeregelten Lauf ließ. Seine Unterhaltung war
mannigfaltig und höchst unterrichtend; und konnte man ihm nachsehen, daß
er sich, seine Persönlichkeit, seine Verdienste, sehr lebhaft
vorempfand, so war kein Umgang wünschenswerter zu finden. Da mich nun
überhaupt das, was man Eitelkeit nennt, niemals verletzte, und ich mir
dagegen auch wieder eitel zu sein erlaubte, das heißt, dasjenige
unbedenklich hervorkehrte, was mir an mir selbst Freude machte; so kam
ich mit ihm gar wohl überein, wir ließen uns wechselsweise gelten und
schalten, und weil er sich durchaus offen und mitteilend erwies, so
lernte ich in kurzer Zeit sehr viel von ihm.
Beurteil' ich nun aber einen solchen Mann dankbar, wohlwollend
und gründlich, so darf ich nicht einmal sagen, daß er eitel gewesen.
Wir Deutschen mißbrauchen das Wort eitel nur allzu oft: denn eigentlich
führt es den Begriff von Leerheit mit sich, und man bezeichnet damit
billigerweise nur einen, der die Freude an seinem Nichts, die
Zufriedenheit mit einer hohlen Existenz nicht verbergen kann. Bei
Zimmermann war gerade das Gegenteil, er hatte große Verdienste und kein
inneres Behagen; wer sich aber an seinen Naturgaben nicht im stillen
erfreuen kann, wer sich bei Ausübung derselben nicht selbst seinen Lohn
dahinnimmt, sondern erst darauf wartet und hofft, daß andere das
Geleistete anerkennen und es gehörig würdigen sollen, der endet sich
in einer übeln Lage; weil es nur allzu bekannt ist, daß die Menschen
den Beifall sehr spärlich austeilen, daß sie das Lob verkümmern, ja,
wenn es nur einigermaßen tunlich ist, in Tadel verwandeln. Wer, ohne
hierauf vorbereitet zu sein, öffentlich auftritt, der kann nichts als
Verdruß erwarten: denn wenn er das, was von ihm ausgeht, auch nicht überschätzt,
so schätzt er es doch unbedingt, und jede Aufnahme, die wir in der Welt
erfahren, wird bedingt sein; und sodann gehört ja für Lob und Beifall
auch eine Empfänglichkeit, wie für jedes Vergnügen. Man wende dieses
auf Zimmermann an, und man wird auch hier gestehen müssen: was einer
nicht schon mitbringt, kann er nicht erhalten.
Will man diese Entschuldigung nicht gelten lassen, so werden wir
diesen merkwürdigen Mann wegen eines andern Fehlers noch weniger
rechtfertigen können, weil das Glück anderer dadurch gestört, ja
vernichtet worden. Es war das Betragen gegen seine Kinder. Eine Tochter,
die mit ihm reiste, war, als er sich in der Nachbarschaft umsah, bei uns
geblieben. Sie konnte etwa sechzehn Jahr alt sein. Schlank und
wohlgewachsen, trat sie auf ohne Zierlichkeit; ihr regelmäßiges
Gesicht wäre angenehm gewesen, wenn sich ein Zug von Teilnahme darin
aufgetan hätte; aber sie sah immer so ruhig aus wie ein Bild, sie äußerte
sich selten, in der Gegenwart ihres Vaters nie. Kaum aber war sie einige
Tage mit meiner Mutter allein, und hatte die heitere liebevolle
Gegenwart dieser teilnehmenden Frau in sich aufgenommen, als sie sich
ihr mit aufgeschlossenem Herzen zu Füßen warf und unter tausend Tränen
bat, sie da zu behalten. Mit dem leidenschaftlichsten Ausdruck erklärte
sie: als Magd, als Sklavin wolle sie zeitlebens im Hause bleiben, nur um
nicht zu ihrem Vater zurückzukehren, von dessen Härte und Tyrannei man
sich keinen Begriff machen könne. Ihr Bruder sei über diese Behandlung
wahnsinnig geworden; sie habe es mit Not so lange getragen, weil sie
geglaubt, es sei in jeder Familie nicht anders, oder nicht viel besser;
da sie aber nun eine so liebevolle, heitere, zwanglose Behandlung
erfahren, so werde ihr Zustand zu einer wahren Hölle. Meine Mutter war
sehr bewegt, als sie mir diesen leidenschaftlichen Erguß hinterbrachte,
ja sie ging in ihrem Mitleiden so weit, daß sie nicht undeutlich zu
verstehen gab, sie würde es wohl zufrieden sein, das Kind im Hause zu
behalten, wenn ich mich entschließen könnte, sie zu heiraten.
"Wenn es eine Waise wäre", versetzt' ich, "so ließe
sich darüber denken und unterhandeln, aber Gott bewahre mich vor einem
Schwiegervater, der ein solcher Vater ist!" Meine Mutter gab sich
noch viel Mühe mit dem guten Kinde, aber es ward dadurch nur immer unglücklicher.
Man fand zuletzt noch einen Ausweg, sie in eine Pension zu tun. Sie hat
übrigens ihr Leben nicht hoch gebracht.
Dieser tadelnswürdigen Eigenheit eines so verdienstvollen Mannes
würde ich kaum erwähnen, wenn dieselbe nicht schon öffentlich wäre
zur Sprache gekommen, und zwar als man nach seinem Tode der unseligen
Hypochondrie gedachte, womit er sich und andere in seinen letzten
Stunden gequält. Denn auch jene Härte gegen seine Kinder war
Hypochondrie, ein partieller Wahnsinn, ein fortdauerndes moralisches
Morden, das er, nachdem er seine Kinder aufgeopfert hatte, zuletzt gegen
sich selbst kehrte. Wir wollen aber bedenken, daß dieser so rüstig
scheinende Mann in seinen besten Jahren leidend war, daß ein
Leibesschaden unheilbar den geschickten Arzt quälte, ihn, der so
manchem Kranken geholfen hatte und half. Ja, dieser brave Mann führte,
bei äußerem Ansehen, Ruhm, Ehre, Rang und Vermögen, das traurigste
Leben, und wer sich davon, aus vorhandenen Druckschriften, noch weiter
unterrichten will, der wird ihn nicht verdammen, sondern bedauern.
Erwartet man nun aber, daß ich von der Wirkung dieses
bedeutenden Mannes auf mich nähere Rechenschaft gebe, so muß ich im
allgemeinen jener Zeit abermals gedenken. Die Epoche, in der wir lebten,
kann man die fordernde nennen: denn man machte, an sich und andere,
Forderungen auf das, was noch kein Mensch geleistet hatte. Es war nämlich
vorzüglichen, denkenden und fühlenden Geistern ein Licht aufgegangen,
daß die unmittelbare originelle Ansicht der Natur und ein darauf gegründetes
Handeln das Beste sei, was der Mensch sich wünschen könne, und nicht
einmal schwer zu erlangen. Erfahrung war also abermals das allgemeine
Losungswort, und jedermann tat die Augen auf, so gut er konnte;
eigentlich aber waren es die Ärzte, die am meisten Ursache hatten,
darauf zu dringen, und Gelegenheit, sich darnach umzutun. Hier leuchtete
ihnen nun aus alter Zeit ein Gestirn entgegen, welches als Beispiel
alles Wünschenswerten gelten konnte. Die Schriften, die uns unter dem
Namen Hippokrates zugekommen waren, gaben das Muster, wie der Mensch die
Welt anschauen und das Gesehene, ohne sich selbst hinein zu mischen, überliefern
sollte. Allein niemand bedachte, daß wir nicht sehen können wie die
Griechen, und daß wir niemals wie sie dichten, bilden und heilen
werden. Zugegeben aber auch, daß man von ihnen lernen könne, so war
unterdessen unendlich viel und nicht immer so rein erfahren worden, und
gar oft hatten sich die Erfahrungen nach den Meinungen gebildet. Dieses
aber sollte man auch wissen, unterscheiden und sichten; abermals eine
ungeheure Forderung; dann sollte man auch, persönlich umherblickend und
handelnd, die gefundene Natur selbst kennen lernen, eben als wenn sie
zum erstenmal beachtet und behandelt würde; hiebei sollte denn nur das
Echte und Rechte geschehen. Allein weil sich die Gelahrtheit überhaupt
nicht wohl ohne Polyhistorie und Pedanterie, die Praxis aber wohl
schwerlich ohne Empirie und Scharlatanerie denken läßt; so entstand
ein gewaltiger Konflikt, indem man den Mißbrauch vom Gebrauch sondern
und der Kern die Oberhand über die Schale gewinnen sollte. Wie man nun
auch hier zur Ausübung schritt, so sah man, am kürzesten sei zuletzt
aus der Sache zu kommen, wenn man das Genie zu Hülfe riefe, das durch
seine magische Gabe den Streit schlichten und die Forderungen leisten würde.
Der Verstand mischte sich indessen auch in die Sache, alles sollte auf
klare Begriffe gebracht und in logischer Form dargelegt werden, damit
jedes Vorurteil beseitigt und aller Aberglaube zerstört werde. Weil nun
wirklich einige außerordentliche Menschen, wie Boerhaave und Haller,
das Unglaubliche geleistet, so schien man sich berechtigt, von ihren Schülern
und Nachkömmlingen noch mehr zu fordern. Man behauptete, die Bahn sei
gebrochen, da doch in allen irdischen Dingen selten von Bahn die Rede
sein kann: denn wie das Wasser, das durch ein Schiff verdrängt wird,
gleich hinter ihm wieder zusammenstürzt, so schließt sich auch der
Irrtum, wenn vorzügliche Geister ihn beiseitegedrängt und sich Platz
gemacht haben, hinter ihnen sehr geschwind wieder naturgemäß zusammen.
Aber hievon wollte sich der brave Zimmermann ein für allemal
keinen Begriff machen; er wollte nicht eingestehen, daß das Absurde
eigentlich die Welt erfülle. Bis zur Wut ungeduldig, schlug er auf
alles los, was er für unrecht erkannte und hielt. Ob er sich mit dem
Krankenwärter oder mit Paracelsus, mit einem Harnpropheten oder
Chymisten balgte, war ihm gleich; er hieb ein wie das andre Mal zu, und
wenn er sich außer Atem gearbeitet hatte, war er höchlich erstaunt, daß
die sämtlichen Köpfe dieser Hydra, die er mit Füßen zu treten
geglaubt, ihm schon wieder ganz frisch von unzähligen Hälsen die Zähne
wiesen.
Wer seine Schriften, besonders sein tüchtiges Werk "Über
die Erfahrung" liest, wird bestimmter einsehen, was zwischen diesem
trefflichen Manne und mir verhandelt worden; welches auf mich um so kräftiger
wirken mußte, da er zwanzig Jahr älter war denn ich. Als berühmter
Arzt war er vorzüglich in den höhern Ständen beschäftigt, und hier
kam die Verderbnis der Zeit, durch Verweichlichung und Übergenuß,
jeden Augenblick zur Sprache; und so drängten auch seine ärztlichen
Reden, wie die der Philosophen und meiner dichterischen Freunde, mich
wieder auf die Natur zurück. Seine leidenschaftliche Verbesserungswut
konnte ich vollends nicht mit ihm teilen. Ich zog mich vielmehr, nachdem
wir uns getrennt, gar bald wieder in mein eigentümliches Fach zurück
und suchte die von der Natur mir verliehenen Gaben mit mäßiger
Anstrengung anzuwenden, und in heiterem Widerstreit gegen das, was ich
mißbilligte, mir einigen Raum zu verschaffen, unbesorgt, wie weit meine
Wirkungen reichen und wohin sie mich führen könnten.
Von Salis, der in Marschlins die große Pensionsanstalt
errichtete, ging ebenfalls bei uns vorüber, ein ernster verständiger
Mann, der über die genialischtolle Lebensweise unserer kleinen
Gesellschaft gar wunderliche Anmerkungen im stillen wird gemacht haben.
Ein gleiches mag Sulzern, der uns auf seiner Reise nach dem südlichen
Frankreich berührte, begegnet sein; wenigstens scheint eine Stelle
seiner Reisebeschreibung, worin er mein gedenkt, dahin zu deuten.
Diese so angenehmen als förderlichen Besuche waren aber auch mit
solchen durchwebt, die man lieber abgelehnt hätte. Wahrhaft Dürftige
und unverschämte Abenteurer wendeten sich an den zutraulichen Jüngling,
ihre dringenden Forderungen durch wirkliche wie durch vorgebliche
Verwandtschaften oder Schicksale unterstützend. Sie borgten mir Geld
ab, und setzten mich in den Fall, wieder borgen zu müssen, so daß ich
mit begüterten und wohlwollenden Freunden darüber in das unangenehmste
Verhältnis geriet. Wünschte ich nun solche Zudringlinge allen Raben
zur Beute, so fühlte sich mein Vater gleichfalls in der Lage des
Zauberlehrlings, der wohl sein Haus gerne rein gewaschen sähe, sich
aber entsetzt, wenn die Flut über Schwellen und Stufen unaufhaltsam
einhergestürzt kommt. Denn es ward durch das allzu viele Gute der mäßige
Lebensplan, den sich mein Vater für mich ausgedacht hatte, Schritt für
Schritt verrückt, verschoben und von einem Tag zum andern wider
Erwarten umgestaltet. Der Aufenthalt zu Regensburg und Wien war so gut
als aufgegeben, aber doch sollte auf dem Wege nach Italien eine
Durchreise stattfinden, damit man wenigstens eine allgemeine Übersicht
gewänne. Dagegen aber waren andere Freunde, die einen so großen Umweg,
ins tätige Leben zu gelangen, nicht billigen konnten, der Meinung, man
solle den Augenblick, wo manche Gunst sich auftat, benutzen und an eine
bleibende Einrichtung in der Vaterstadt denken. Denn ob ich gleich erst
durch den Großvater, sodann aber durch den Oheim von dem Rate
ausgeschlossen war; so gab es doch noch manche bürgerliche Stellen, an
die man Anspruch machen, sich einstweilen festsetzen und die Zukunft
erwarten konnte. Manche Agentschaften gaben zu tun genug, und ehrenvoll
waren die Residentenstellen. Ich ließ mir davon vorreden und glaubte
wohl auch, daß ich mich dazu schicke, ohne mich geprüft zu haben, ob
eine solche Lebens- und Geschäftsweise, welche fordert, daß man am
liebsten in der Zerstreuung zweckmäßig tätig sei, für mich passen möchte;
und nun gesellte sich zu diesen Vorschlägen und Vorsätzen noch eine
zarte Neigung, welche zu bestimmter Häuslichkeit aufzufordern und jenen
Entschluß zu beschleunigen schien.
Die früher erwähnte Gesellschaft nämlich von jungen Männern
und Frauenzimmern, welche meiner Schwester, wo nicht den Ursprung, doch
die Konsistenz verdankte, war nach ihrer Verheiratung und Abreise noch
immer bestanden, weil man sich einmal aneinander gewöhnt hatte, und
einen Abend in der Woche nicht besser als in diesem freundschaftlichen
Zirkel zuzubringen wußte. Auch jener wunderliche Redner, den wir schon
aus dem sechsten Buche kennen, war nach mancherlei Schicksalen
gescheiter und verkehrter zu uns zurückgewandert, und spielte abermals
den Gesetzgeber des kleinen Staats. Er hatte sich in Gefolg von jenen frühern
Scherzen etwas Ähnliches ausgedacht: es sollte nämlich alle Tage
gelost werden, nicht um, wie vormals, liebende Paare, sondern wahrhafte
Ehegatten zu bestimmen. Wie man sich gegen Geliebte betrage, das sei uns
bekannt genug; aber wie sich Gatte und Gattin in Gesellschaft zu nehmen
hätten, das sei uns unbewußt und müsse nun, bei zunehmenden Jahren,
vor allen Dingen gelernt werden. Er gab die Regeln an im allgemeinen,
welche bekanntlich darin bestehen, daß man tun müsse, als wenn man
einander nicht angehöre; man dürfe nicht neben einander sitzen, nicht
viel mit einander sprechen, viel weniger sich Liebkosungen erlauben:
dabei aber habe man nicht allein alles zu vermeiden, was wechselseitig
Verdacht und Unannehmlichkeit erregen könnte, ja man würde im
Gegenteil das größte verdienen, wenn man seine Gattin auf eine
ungezwungene Weise zu verbinden wisse.
Das Los wurde hierauf zur Entscheidung herbeigeholt, über einige
barocke Paarungen, die es beliebt, gelacht und gescherzt, und die
allgemeine Ehestandskomödie mit gutem Humor begonnen und jedesmal am
achten Tage wiederum erneuert.
Hier traf es sich nun wunderbar genug, daß mir das Los gleich
von Anfang eben dasselbe Frauenzimmer zweimal bestimmte, ein sehr gutes
Wesen gerade von der Art, die man sich als Frau gern denken mag. Ihre
Gestalt war schön und regelmäßig, ihr Gesicht angenehm, und in ihrem
Betragen waltete eine Ruhe, die von der Gesundheit ihres Körpers und
ihres Geistes zeugte. Sie war sich zu allen Tagen und Stunden völlig
gleich. Ihre häusliche Tätigkeit wurde höchlich gerühmt. Ohne daß
sie gesprächig gewesen wäre, konnte man an ihren Äußerungen einen
geraden Verstand und eine natürliche Bildung erkennen. Nun war es
leicht, einer solchen Person mit Freundlichkeit und Achtung zu begegnen;
schon vorher war ich gewohnt, es aus allgemeinen Gefühlen zu tun, jetzt
wirkte bei mir ein herkömmliches Wohlwollen als gesellige Pflicht. Wie
uns nun aber das Los zum dritten Male zusammenbrachte, so erklärte der
neckische Gesetzgeber feierlichst: der Himmel habe gesprochen, und wir könnten
nunmehr nicht geschieden werden. Wir ließen es uns beiderseits
gefallen, und fügten uns wechselsweise so hübsch in die offenbaren
Ehestandspflichten, daß wir wirklich für ein Muster gelten konnten. Da
nun, nach der allgemeinen Verfassung, die sämtlichen für den Abend
vereinten Paare sich auf die wenigen Stunden mit Du anreden mußten; so
waren wir dieser traulichen Anrede durch eine Reihe von Wochen so
gewohnt, daß auch in der Zwischenzeit, wenn wir uns begegneten, das Du
gemütlich hervorsprang. Die Gewohnheit ist aber ein wunderliches Ding:
wir beide fanden nach und nach nichts natürlicher als dieses Verhältnis;
sie ward mir immer werter, und ihre Art, mit mir zu sein, zeugte von
einem schönen ruhigen Vertrauen, so daß wir uns wohl gelegentlich,
wenn ein Priester zugegen gewesen wäre, ohne vieles Bedenken auf der
Stelle hätten zusammengeben lassen.
Weil nun bei jeder unserer geselligen Zusammenkünfte etwas Neues
vorgelesen werden mußte, so brachte ich eines Abends, als ganz frische
Neuigkeit, das Memoire des Beaumarchais gegen Clavigo im Original mit.
Es erwarb sich sehr vielen Beifall; die Bemerkungen, zu denen es
auffordert, blieben nicht aus, und nachdem man viel darüber hin und
wider gesprochen hatte, sagte mein lieber Partner: "Wenn ich deine
Gebieterin und nicht deine Frau wäre, so würde ich dich ersuchen,
dieses Memoire in ein Schauspiel zu verwandeln, es scheint mir ganz dazu
geeignet zu sein." - "Damit du siehst, meine Liebe",
antwortete ich, "daß Gebieterin und Frau auch in einer Person
vereinigt sein können; so verspreche ich, heute über acht Tage den
Gegenstand dieses Heftes als Theaterstück vorzulesen, wie es jetzt mit
diesen Blättern geschehen." Man verwunderte sich über ein so kühnes
Versprechen, und ich säumte nicht, es zu erfüllen. Denn was man in
solchen Fällen Erfindung nennt, war bei mir augenblicklich; und gleich,
als ich meine Titulargattin nach Hause führte, war ich still; sie
fragte, was mir sei? - "Ich sinne", versetzte ich, "schon
das Stück aus und bin mitten drin; ich wünsche dir zu zeigen, daß ich
dir gerne etwas zu Liebe tue." Sie drückte mir die Hand, und als
ich sie dagegen eifrig küßte, sagte sie: "Du mußt nicht aus der
Rolle fallen! Zärtlich zu sein, meinen die Leute, schicke sich nicht für
Ehegatten." - "Laß sie meinen", versetzte ich, "wir
wollen es auf unsere Weise halten."
Ehe ich, freilich durch einen großen Umweg, nach Hause kam, war
das Stück schon ziemlich herangedacht; damit dies aber nicht gar zu großsprecherisch
scheine, so will ich gestehen, daß schon beim ersten und zweiten Lesen
der Gegenstand mir dramatisch, ja theatralisch vorgekommen, aber ohne
eine solche Anregung wäre das Stück, wie so viele andere, auch bloß
unter den möglichen Geburten geblieben. Wie ich dabei verfahren, ist
bekannt genug. Der Bösewichter müde, die aus Rache, Haß oder
kleinlichen Absichten sich einer edlen Natur entgegensetzen und sie
zugrunde richten, wollt' ich in Carlos den reinen Weltverstand mit
wahrer Freundschaft gegen Leidenschaft, Neigung und äußere Bedrängnis
wirken lassen, um auch einmal auf diese Weise eine Tragödie zu
motivieren. Berechtigt durch unsern Altvater Shakespeare, nahm ich nicht
einen Augenblick Anstand, die Hauptszene und die eigentlich
theatralische Darstellung wörtlich zu übersetzen. Um zuletzt
abzuschließen, entlehnt' ich den Schluß einer englischen Ballade, und
so war ich immer noch eher fertig, als der Freitag herankam. Die gute
Wirkung, die ich beim Vorlesen erreichte, wird man mir leicht
zugestehen. Meine gebietende Gattin erfreute sich nicht wenig daran, und
es war, als wenn unser Verhältnis, wie durch eine geistige
Nachkommenschaft, durch diese Produktion sich enger zusammenzöge und
befestigte.
Mephistopheles Merck aber tat mir zum erstenmal hier einen großen
Schaden. Denn als ich ihm das Stück mitteilte, erwiderte er:
"Solch einen Quark mußt du mir künftig nicht mehr schreiben; das
können die andern auch." Und doch hatt' er hierin unrecht. Muß ja
doch nicht alles über alle Begriffe hinausgehen, die man nun einmal
gefaßt hat; es ist auch gut, wenn manches sich an den gewöhnlichen
Sinn anschließt. Hätte ich damals ein Dutzend Stücke der Art
geschrieben, welches mir bei einiger Aufmunterung ein leichtes gewesen wäre;
so hätten sich vielleicht drei oder vier davon auf dem Theater
erhalten. Jede Direktion, die ihr Repertorium zu schätzen weiß, kann
sagen, was das für ein Vorteil wäre.
Durch solche und andre geistreiche Scherze ward unser
wunderliches Mariagespiel, wo nicht zum Stadt -, doch zum Familienmärchen,
das den Müttern unserer Schönen gar nicht unangenehm in die Ohren
klang. Auch meiner Mutter war ein solcher Zufall nicht zuwider: Sie begünstigte
schon früher das Frauenzimmer, mit dem ich in ein so seltsames Verhältnis
gekommen war, und mochte ihr zutrauen, daß sie eine ebenso gute
Schwiegertochter als Gattin werden könnte. Jenes unbestimmte Rumoren,
in welchem ich mich schon seit geraumer Zeit herumtrieb, wollte ihr
nicht behagen, und wirklich hatte sie auch die größte Beschwerde
davon. Sie war es, welche die zuströmenden Gäste reichlich bewirten mußte,
ohne sich für die literarische Einquartierung anders als durch die
Ehre, die man ihrem Sohne antat, ihn zu beschmausen, entschädigt zu
sehen. Ferner war es ihr klar, daß so viele junge Leute, sämtlich ohne
Vermögen, nicht allein zum Wissen und Dichten, sondern auch zum
lustigen Leben versammelt, sich unter einander und zuletzt am sichersten
mir, dessen leichtsinnige Freigebigkeit und Verbürgungslust sie kannte,
zur Last und zum Schaden gereichen würden.
Sie hielt daher die schon längst bezweckte italienische Reise,
die der Vater wieder in Anregung brachte, für das sicherste Mittel,
alle diese Verhältnisse auf einmal durchzuschneiden. Damit aber ja
nicht wieder in der weiten Welt sich neues Gefährliche anschließen möge,
so dachte sie vorher die schon eingeleitete Verbindung zu befestigen,
damit eine Rückkehr ins Vaterland wünschenswerter und eine endliche
Bestimmung entschieden werde. Ob ich ihr diesen Plan nur unterlege, oder
ob sie ihn deutlich, vielleicht mit der seligen Freundin, entworfen, möchte
ich nicht entscheiden: genug, ihre Handlungen schienen auf einen
bedachten Vorsatz gegründet. Denn ich hatte manchmal zu vernehmen,
unser Familienkreis sei nach Verheiratung Corneliens doch gar zu eng;
man wollte finden, daß mir eine Schwester, der Mutter eine Gehülfin,
dem Vater ein Lehrling abgehe; und bei diesen Reden blieb es nicht. Es
ergab sich wie von ungefähr, daß meine Eltern jenem Frauenzimmer auf
einem Spaziergang begegneten, sie in den Garten einluden und sich mit
ihr längere Zeit unterhielten. Hierüber ward nun beim Abendtische
gescherzt, und mit einem gewissen Behagen bemerkt, daß sie dem Vater
wohlgefallen, indem sie die Haupteigenschaften, die er als ein Kenner
von einem Frauenzimmer fordere, sämtlich besitze. Hierauf ward im
ersten Stock eins und das andere veranstaltet, eben als wenn man Gäste
zu erwarten habe, das Leinwandgeräte gemustert, und auch an einigen
bisher vernachlässigten Hausrat gedacht. Da überraschte ich nun einst
meine Mutter, als sie in einer Bodenkammer die alten Wiegen betrachtete,
worunter eine übergroße von Nußbaum, mit Elfenbein und Ebenholz
eingelegt, die mich ehmals geschwenkt hatte, besonders hervorstach. Sie
schien nicht ganz zufrieden, als ich ihr bemerkte, daß solche
Schaukelkasten nunmehr völlig aus der Mode seien, und daß man die
Kinder mit freien Gliedern in einem artigen Körbchen, an einem Bande über
die Schulter, wie andre kurze Ware, zur Schau trage.
Genug, dergleichen Vorboten zu erneuernder Häuslichkeit zeigten
sich öfter, und da ich mich dabei ganz leidend verhielt; so verbreitete
sich, durch den Gedanken an einen Zustand, der fürs Leben dauern
sollte, ein solcher Friede über unser Haus und dessen Bewohner,
dergleichen es lange nicht genossen hatte.
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Wolfgang
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