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Johann Wolfgang
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Vierter TeilVorwortBei
Behandlung einer mannigfaltig vorschreitenden Lebensgeschichte, wie die
ist, die wir zu unternehmen gewagt haben, kommen wir, um gewisse
Ereignisse faßlich und lesbar zu machen, in den Fall, einiges, was in
der Zeit sich verschlingt, notwendig zu trennen, anderes, was nur durch
eine Folge begriffen werden kann, in sich selbst zusammenzuziehn und so
das Ganze in Teile zusammenzustellen, die man sinnig überschauend
beurteilen und sich davon manches zueignen mag. Mit
dieser Betrachtung eröffnen wir den gegenwärtigen Band, damit sie zu
Rechtfertigung unseres Verfahrens beitrage, und fügen die Bitte hinzu,
unsre Leser möchten bedenken, daß sich diese hier fortgesetzte Erzählung
nicht gerade ans Ende des vorigen Buches anschließt, sondern daß sie
die Hauptfäden sämtlich nach und nach wieder aufzunehmen und sowohl
Personen als Gesinnungen und Handlungen in einer redlich gründlichen
Folge vorzuführen beabsichtigt. Sechzehntes BuchWie
man zu sagen pflegt: daß kein Unglück allein komme, so läßt sich
auch wohl bemerken, daß es mit dem Glück ähnlicher Weise beschaffen
sei; ja auch mit andern Umständen, die sich auf eine harmonische Weise
um uns versammeln; - es sei nun, daß ein Schicksal dergleichen auf uns
lege, oder daß der Mensch die Kraft habe, das, was zusammengehört, an
sich heranzuziehen. Wenigstens
machte ich diesmal die Erfahrung, daß alles übereinstimmte, um einen
äußeren und inneren Frieden hervorzubringen. Jener ward mir zuteil,
indem ich den Ausgang dessen gelassen abwartete, was man für mich im
Sinne hegte und vornahm; zu diesem aber sollte ich durch erneute Studien
gelangen. Ich
hatte lange nicht an Spinoza gedacht, und nun ward ich durch Widerrede
zu ihm getrieben. In unsrer Bibliothek fand ich ein Büchlein, dessen
Autor gegen jenen eigenen Denker heftig kämpfte, und, um dabei recht
wirksam zu Werke zu gehen, Spinozas Bildnis dem Titel gegenüber gesetzt
hatte, mit der Unterschrift: Signum reprobationis in vultu gerens, daß
er nämlich das Zeichen der Verwerfung und Verworrenheit im Angesicht
trage. Dieses konnte man freilich bei Erblickung des Bildes nicht
leugnen: denn der Kupferstich war erbärmlich schlecht und eine
vollkommne Fratze; wobei mir denn jene Gegner einfallen mußten, die
irgend jemand, dem sie mißwollen, zuvörderst entstellen und dann als
ein Ungeheuer bekämpfen. Dieses
Büchlein jedoch machte keinen Eindruck auf mich, weil ich überhaupt
Kontroversen nicht liebte; indem ich immer lieber von dem Menschen
erfahren mochte, wie er dachte, als von einem andern hören, wie er hätte
denken sollen. Doch führte mich die Neugierde auf den Artikel "Spinoza
" in Bayles Wörterbuch, einem Werke, das wegen Gelehrsamkeit und
Scharfsinn ebenso schätzbar und nützlich, als wegen Klätscherei und
Salbaderei lächerlich und schädlich ist. Der
Artikel "Spinoza " erregte in mir Mißbehagen und Mißtrauen.
Zuerst sogleich wird der Mann als Atheist, und seine Meinungen als höchst
verwerflich angegeben; sodann aber zugestanden, daß er ein ruhig
nachdenkender und seinen Studien obliegender Mann, ein guter Staatsbürger,
ein mitteilender Mensch, ein ruhiger Particulier gewesen; und so schien
man ganz das evangelische Wort vergessen zu haben: an ihren Früchten
sollt ihr sie erkennen! - Denn wie will doch ein Menschen und Gott gefälliges
Leben aus verderblichen Grundsätzen entspringen? Ich
erinnerte mich noch gar wohl, welche Beruhigung und Klarheit über mich
gekommen, als ich einst die nachgelassenen Werke jenes merkwürdigen
Mannes durchblättert. Diese Wirkung war mir noch ganz deutlich, ohne daß
ich mich des Einzelnen hätte erinnern können; ich eilte daher abermals
zu den Werken, denen ich so viel schuldig geworden, und dieselbe
Friedensluft wehte mich wieder an. Ich ergab mich dieser Lektüre und
glaubte, indem ich in mich selbst schaute, die Welt niemals so deutlich
erblickt zu haben. Da
über diesen Gegenstand so viel und auch in der neuern Zeit gestritten
worden, so wünschte ich nicht mißverstanden zu werden und will hier
einiges über jene so gefürchtete, ja verabscheute Vorstellungsart
einzurücken nicht unterlassen. Unser
physisches sowohl als geselliges Leben, Sitten, Gewohnheiten,
Weltklugheit, Philosophie, Religion, ja so manches zufällige Ereignis,
alles ruft uns zu, daß wir entsagen sollen. So manches, was uns
innerlich eigenst angehört, sollen wir nicht nach außen hervorbilden,
was wir von außen zu Ergänzung unsres Wesens bedürfen, wird uns
entzogen, dagegen aber so vieles aufgedrungen, das uns so fremd als lästig
ist. Man beraubt uns des mühsam Erworbenen, des freundlich Gestatteten,
und ehe wir hierüber recht ins klare sind, finden wir uns genötigt,
unsere Persönlichkeit erst stückweis und dann völlig aufzugeben.
Dabei ist es aber hergebracht, daß man denjenigen nicht achtet, der
sich deshalb ungebärdig stellt, vielmehr soll man, je bittrer der Kelch
ist, eine desto süßere Miene machen, damit ja der gelassene Zuschauer
nicht durch irgend eine Grimasse beleidigt werde. Diese
schwere Aufgabe jedoch zu lösen, hat die Natur den Menschen mit
reichlicher Kraft, Tätigkeit und Zähigkeit ausgestattet. Besonders
aber kommt ihm der Leichtsinn zu Hülfe, der ihm unzerstörlich
verliehen ist. Hiedurch wird er fähig, dem Einzelnen in jedem
Augenblick zu entsagen, wenn er nur in dem andern nach etwas Neuem
greifen darf; und so stellen wir uns unbewußt unser ganzes Leben immer
wieder her. Wir setzen eine Leidenschaft an die Stelle der andern; Beschäftigungen,
Neigungen, Liebhabereien, Steckenpferde, alles probieren wir durch, um
zuletzt auszurufen, daß alles eitel sei. Niemand entsetzt sich vor
diesem falschen, ja gotteslästerlichen Spruch, ja man glaubt etwas
Weises und Unwiderlegliches gesagt zu haben. Nur wenige Menschen gibt
es, die diese unerträgliche Empfindung vorausahnden, und, um allen
partiellen Resignationen auszuweichen, sich ein für allemal im ganzen
resignieren. Diese
überzeugen sich von dem Ewigen, Notwendigen, Gesetzlichen und suchen
sich solche Begriffe zu bilden, welche unverwüstlich sind, ja durch die
Betrachtung des Vergänglichen nicht aufgehoben, sondern viel mehr bestätigt
werden. Weil aber hierin wirklich etwas Übermenschliches liegt, so
werden solche Personen gewöhnlich für Unmenschen gehalten, für Gott-
und Weltlose; ja man weiß nicht, was man ihnen alles für Hörner und
Klauen andichten soll. Mein
Zutrauen auf Spinoza ruhte auf der friedlichen Wirkung, die er in mir
hervorbrachte, und es vermehrte sich nur, als man meine werten Mystiker
des Spinozismus anklagte; als ich erfuhr, daß Leibniz selbst diesem
Vorwurf nicht entgehen können, ja daß Boerhaave, wegen gleicher
Gesinnungen verdächtig, von der Theologie zur Medizin übergehen müssen. Denke
man aber nicht, daß ich seine Schriften hätte unterschreiben und mich
dazu buchstäblich bekennen mögen. Denn daß niemand den andern
versteht, daß keiner bei denselben Worten dasselbe was der andere
denkt, daß ein Gespräch, eine Lektüre bei verschiedenen Personen
verschiedene Gedankenfolgen aufregt, hatte ich schon allzu deutlich
eingesehn, und man wird dem Verfasser von "Werther " und
"Faust " wohl zutrauen, daß er, von solchen Mißverständnissen
tief durchdrungen, nicht selbst den Dünkel gehegt, einen Mann
vollkommen zu verstehen, der, als Schüler von Descartes, durch
mathematische und rabbinische Kultur sich zu dem Gipfel des Denkens
hervorgehoben, der bis auf den heutigen Tag noch das Ziel aller
spekulativen Bemühungen zu sein scheint. Was
ich mir aber aus ihm zugeeignet, würde sich deutlich genug darstellen,
wenn der Besuch, den der ewige Jude bei Spinoza abgelegt, und den ich
als ein wertes Ingrediens zu jenem Gedichte mir ausgedacht hatte,
niedergeschrieben übrig geblieben wäre. Ich gefiel mir aber in dem
Gedanken so wohl, und beschäftigte mich im stillen so gern damit, daß
ich nicht dazu gelangte, etwas aufzuschreiben; dadurch erweiterte sich
aber der Einfall, der als vorübergehender Scherz nicht ohne Verdienst
gewesen wäre, dergestalt, daß er seine Anmut verlor und ich ihn als lästig
aus dem Sinne schlug. Insofern mir aber die Hauptpunkte jenes Verhältnisses
zu Spinoza unvergeßlich geblieben sind, indem sie eine große Wirkung
auf die Folge meines Lebens ausübten, will ich so kurz und bündig als
möglich eröffnen und darstellen. Die
Natur wirkt nach ewigen, notwendigen, dergestalt göttlichen Gesetzen,
daß die Gottheit selbst daran nichts ändern könnte. Alle Menschen
sind hierin, unbewußt, vollkommen einig. Man bedenke, wie eine
Naturerscheinung, die auf Verstand, Vernunft, ja auch nur auf Willkür
deutet, uns Erstaunen, ja Entsetzen bringt. Wenn
sich in Tieren etwas Vernunftähnliches hervortut, so können wir uns
von unserer Verwunderung nicht erholen: denn ob sie uns gleich so nahe
stehen, so scheinen sie doch durch eine unendliche Kluft von uns
getrennt und in das Reich der Notwendigkeit verwiesen. Man kann es daher
jenen Denkern nicht übelnehmen, welche die unendlich kunstreiche aber
doch genau beschränkte Technik jener Geschöpfe für ganz maschinenmäßig
erklärten. Wenden
wir uns zu den Pflanzen, so wird unsre Behauptung noch auffallender bestätigt.
Man gebe sich Rechenschaft von der Empfindung, die uns ergreift, wenn
die berührte Mimosa ihre gefiederten Blätter paarweise zusammen
faltet, und endlich das Stielchen wie an einem Gewerbe niederklappt.
Noch höher steigt jene Empfindung, der ich keinen Namen geben will, bei
Betrachtung des Hedysarum gyrans, das seine Blättchen, ohne sichtlich
äußere Veranlassung, auf und nieder senkt und mit sich selbst, wie mit
unsern Begriffen, zu spielen scheint. Denke man sich einen Pisang, dem
diese Gabe zugeteilt wäre, so daß er die ungeheuren Blätterschirme für
sich selbst wechselsweise niedersenkte und aufhöbe, jedermann, der es
zum erstenmal sähe, würde vor Entsetzen zurücktreten. So eingewurzelt
ist bei uns der Begriff unsrer eignen Vorzüge, daß wir ein für
allemal der Außenwelt keinen Teil daran gönnen mögen, ja daß wir
dieselben, wenn es nur anginge, sogar unsresgleichen gerne verkümmerten. Ein
ähnliches Entsetzen überfällt uns dagegen, wenn wir den Menschen
unvernünftig gegen allgemein anerkannte sittliche Gesetze, unverständig
gegen seinen eignen und fremden Vorteil handeln sehen. Um das Grauen
loszuwerden, das wir dabei empfinden, verwandeln wir es sogleich in
Tadel, in Abscheu und wir suchen uns von einem solchen Menschen entweder
wirklich oder in Gedanken zu befreien. Diesen
Gegensatz, welchen Spinoza so kräftig heraushebt, wendete ich aber auf
mein eignes Wesen sehr wunderlich an, und das Vorhergesagte soll
eigentlich nur dazu dienen, um das, was folgt, begreiflich zu machen. Ich
war dazu gelangt, das mir inwohnende dichterische Talent ganz als Natur
zu betrachten, um so mehr, als ich darauf gewiesen war, die äußere
Natur als den Gegenstand desselben anzusehen. Die Ausübung dieser
Dichtergabe konnte zwar durch Veranlassung erregt und bestimmt werden;
aber am freudigsten und reichlichsten trat sie unwillkürlich, ja wider
Willen hervor. Durch
Feld und Wald zu schweifen, Auch
beim nächtlichen Erwachen trat derselbe Fall ein, und ich hatte oft
Lust, wie einer meiner Vorgänger, mir ein ledernes Wams machen zu
lassen, und mich zu gewöhnen, im Finstern, durchs Gefühl, das, was
unvermutet hervorbrach, zu fixieren. Ich war so gewohnt, mir ein
Liedchen vorzusagen, ohne es wieder zusammen finden zu können, daß ich
einigemal an den Pult rannte und mir nicht die Zeit nahm, einen quer
liegenden Bogen zurecht zu rücken, sondern das Gedicht von Anfang bis
zu Ende, ohne mich von der Stelle zu rühren, in der Diagonale
herunterschrieb. In eben diesem Sinne griff ich weit lieber zu dem
Bleistift, welcher williger die Züge hergab: denn es war mir einigemal
begegnet, daß das Schnarren und Spritzen der Feder mich aus meinem
nachtwandlerischen Dichten aufweckte, mich zerstreute und ein kleines
Produkt in der Geburt erstickte. Für solche Poesien hatte ich eine
besondere Ehrfurcht, weil ich mich doch ohngefähr gegen dieselben
verhielt, wie die Henne gegen die Küchlein, die sie ausgebrütet um
sich her piepsen sieht. Meine frühere Lust, diese Dinge nur durch
Vorlesungen mitzuteilen, erneute sich wieder, sie aber gegen Geld
umzutauschen schien mir abscheulich. Hiebei
will ich eines Falles gedenken, der zwar später eintrat. Als nämlich
meinen Arbeiten immer mehr nachgefragt, ja eine Sammlung derselben
verlangt wurde, jene Gesinnungen aber mich abhielten, eine solche selbst
zu veranstalten; so benutzte Himburg mein Zaudern, und ich erhielt
unerwartet einige Exemplare meiner zusammengedruckten Werke. Mit großer
Frechheit wußte sich dieser unberufene Verleger eines solchen dem
Publikum erzeigten Dienstes gegen mich zu rühmen und erbot sich, mir
dagegen, wenn ich es verlangte, etwas Berliner Porzellan zu senden. Bei
dieser Gelegenheit mußte mir einfallen, daß die Berliner Juden, wenn
sie sich verheurateten, eine gewisse Partie Porzellan nehmen mußten,
damit die königliche Fabrik einen sichern Absatz hätte. Die
Verachtung, welche daraus gegen den unverschämten Nachdrucker entstand,
ließ mich den Verdruß übertragen, den ich bei diesem Raub empfinden
mußte. Ich antwortete ihm nicht, und indessen er sich an meinem
Eigentum gar wohl behaben mochte, rächte ich mich im Stillen mit
folgenden Versen: Holde
Zeugen süß verträumter Jahre, Da
jedoch eben die Natur, die dergleichen größere und kleinere Werke
unaufgefordert in mir hervorbrachte, manchmal in großen Pausen ruhte
und ich in einer großen Zeitstrecke selbst mit Willen nichts
hervorzubringen imstande war, und daher öfters Langeweile empfand; so
trat mir bei jenem strengen Gegensatz der Gedanke entgegen, ob ich nicht
von der andern Seite das, was menschlich, vernünftig und verständig an
mir sei, zu meinem und anderer Nutzen und Vorteil gebrauchen und die
Zwischenzeit, wie ich es ja auch schon getan und wie ich immer stärker
aufgefordert wurde, den Weltgeschäften widmen und dergestalt nichts von
meinen Kräften ungebraucht lassen sollte? Ich fand dieses, was aus
jenen allgemeinen Begriffen hervorzugehen schien, mit meinem Wesen, mit
meiner Lage so übereinstimmend, daß ich den Entschluß faßte, auf
diese Weise zu handeln und mein bisheriges Schwanken und Zaudern dadurch
zu bestimmen. Sehr angenehm war mir zu denken, daß ich für wirkliche
Dienste von den Menschen auch reellen Lohn fordern; jene liebliche
Naturgabe dagegen als ein Heiliges uneigennützig auszuspenden
fortfahren dürfte. Durch diese Betrachtung rettete ich mich von der
Bitterkeit, die sich in mir hätte erzeugen können, wenn ich bemerken
mußte, daß gerade das so sehr gesuchte und bewunderte Talent in
Deutschland als außer dem Gesetz und vogelfrei behandelt werde. Denn
nicht allein in Berlin hielt man den Nachdruck für etwas Zulässiges,
ja Lustiges, sondern der ehrwürdige, wegen seiner Regententugenden
gepriesene Markgraf von Baden, der zu so vielen Hoffnungen berechtigende
Kaiser Joseph begünstigten, jener seinen Macklot, dieser seinen Edlen
von Trattner, und es war ausgesprochen daß die Rechte, sowie das
Eigentum des Genies dem Handwerker und Fabrikanten unbedingt
preisgegeben seien. Als
wir uns einst hierüber bei einem besuchenden Badenser beklagten, erzählte
er uns folgende Geschichte. Die Frau Markgräfin, als eine tätige Dame,
habe auch eine Papierfabrik angelegt, die Ware sei aber so schlecht
geworden, daß man sie nirgends habe unterbringen können. Darauf habe
Buchhändler Macklot den Vorschlag getan, die deutschen Dichter und
Prosaisten auf dieses Papier abzudrucken, um dadurch seinen Wert in
etwas zu erhöhen. Mit beiden Händen habe man dieses angenommen. Wir
erklärten zwar diese böse Nachrede für ein Märchen, ergötzten uns
aber doch daran. Der Name Macklot ward zu gleicher Zeit für einen
Schimpfnamen erklärt und bei schlechten Begebenheiten wiederholt
gebraucht. Und so fand sich eine leichtsinnige Jugend, welche gar
manchmal borgen mußte, indes die Niederträchtigkeit sich an ihren
Talenten bereicherte, durch ein paar gute Einfälle hinreichend entschädigt. Glückliche
Kinder und Jünglinge wandeln in einer Art von Trunkenheit vor sich hin,
die sich dadurch besonders bemerklich macht, daß die Guten,
Unschuldigen das Verhältnis der jedesmaligen Umgebung kaum zu bemerken
noch weniger anzuerkennen wissen. Sie sehen die Welt als einen Stoff an,
den sie bilden, als einen Vorrat, dessen sie sich bemächtigen sollen.
Alles gehört ihnen an, ihrem Willen scheint alles durchdringlich; gar
oft verlieren sie sich deshalb in einem wilden wüsten Wesen. Bei den
Bessern jedoch entfaltet sich diese Richtung zu einem sittlichen
Enthusiasmus, der sich nach Gelegenheit zu irgend einem wirklichen oder
scheinbaren Guten aus eignem Triebe hinbewegt, sich aber auch öfters
leiten, führen und verführen läßt. Der
Jüngling, von dem wir uns unterhalten, war in einem solchen Falle, und
wenn er den Menschen auch seltsam vorkam, so erschien er doch gar
manchem willkommen. Gleich bei dem ersten Zusammentreten fand man einen
unbedingten Freisinn, eine heitere Offenherzigkeit im Gespräch, und ein
gelegentliches Handeln ohne Bedenken. Von letzterem einige
Geschichtchen. In
der sehr eng in einander gebauten Judengasse war ein heftiger Brand
entstanden. Mein allgemeines Wohlwollen, die daraus entspringende Lust
zu tätiger Hülfe trieb mich, gut angekleidet wie ich ging und stand,
dahin. Man hatte von der Allerheiligengasse her durchgebrochen, an
diesen Zugang verfügt ich mich; ich fand daselbst eine große Anzahl
Menschen mit Wassertragen beschäftigt, mit vollen Eimern sich hin drängend,
mit leeren herwärts. Ich sah gar bald, daß, wenn man eine Gasse
bildete, wo man die Eimer herauf- und herabreichte, die Hülfe die
doppelte sein würde. Ich ergriff zwei volle Eimer und blieb stehen,
rief andere an mich heran, den Kommenden wurde die Last abgenommen und
die Rückkehrenden reihten sich auf der andern Seite. Die Anstalt fand
Beifall, mein Zureden und persönliche Teilnahme ward begünstigt und
die Gasse, vom Eintritt bis zum brennenden Ziele, war bald vollendet und
geschlossen. Kaum
aber hatte die Heiterkeit womit dieses geschehen eine frohe, man kann
sagen eine lustige Stimmung in dieser lebendigen, zweckmäßig wirkenden
Maschine aufgeregt, als der Mutwille sich schon hervortat und der
Schadenfreude Raum gab. Armselige Flüchtende, ihre jammervolle Habe auf
dem Rücken schleppend, mußten, einmal in die bequeme Gasse geraten,
unausweichlich hindurch und blieben nicht unangefochten. Mutwillige
Knabenjünglinge spritzten sie an und fügten Verachtung und Unart noch
dem Elend hinzu. Gleich aber, durch mäßiges Zureden und rednerische
Strafworte, mit Rücksicht wahrscheinlich auf meine reinlichen Kleider,
die ich vernachlässigte, ward der Frevel eingestellt. Neugierige
meiner Freunde waren herangetreten, den Unfall zu beschauen, und
schienen verwundert, ihren Gesellen in Schuhen und seidenen Strümpfen -
denn anders ging man damals nicht - in diesem feuchten Geschäfte zu
sehen. Wenige konnt' ich heranziehen, andere lachten und schüttelten
die Köpfe. Wir hielten lange stand, denn bei manchen Abtretenden
verstanden sich auch manche dazu, sich anzuschließen; viele
Schaulustige folgten aufeinander, und so ward mein unschuldiges Wagnis
vielen bekannt, und die wunderliche Lizenz mußte zur Stadtgeschichte
des Tags werden. Ein
solcher Leichtsinn im Handeln nach irgend einer gutmütigen heitern
Grille, hervortretend aus einem glücklichen Selbstgefühl, was von den
Menschen leicht als Eitelkeit getadelt wird, machte unsern Freund auch
noch durch andere Wunderlichkeiten bemerklich. Ein
sehr harter Winter hatte den Main völlig mit Eis bedeckt und in einen
festen Boden verwandelt. Der lebhafteste, notwendige und lustig
gesellige Verkehr regte sich auf dem Eise. Grenzenlose
Schrittschuhbahnen, glattgefrorne weite Stellen wimmelten von bewegter
Versammlung. Ich fehlte nicht vom frühen Morgen an und war also, wie späterhin
meine Mutter, dem Schauspiel zuzusehen, angefahren kam, als
leichtgekleidet wirklich durchgefroren. Sie saß im Wagen in ihrem roten
Sammetpelze, der, auf der Brust mit starken goldnen Schnüren und
Quasten zusammengehalten, ganz stattlich aussah. "Geben Sie mir,
liebe Mutter, Ihren Pelz! " rief ich aus dem Stegreife, ohne mich
weiter besonnen zu haben, "mich friert grimmig. " Auch sie
bedachte nichts weiter; im Augenblick hatte ich den Pelz an, der,
Purpurfarb bis an die Waden reichend, mit Zobel verbrämt und mit Gold
geschmückt, zu der braunen Pelzmütze, die ich trug, gar nicht übel
kleidete. So fuhr ich sorglos auf und ab, auch war das Gedränge so groß,
daß man die seltene Erscheinung nicht einmal sonderlich bemerkte,
obschon einigermaßen: denn man rechnete mir sie später unter meinen
Anomalien im Ernst und Scherze wohl einmal wieder vor. Nach
solchen Erinnerungen eines glücklichen unbedachten Handelns schreiten
wir an dem eigentlichen Faden unsrer Erzählung fort. Ein
geistreicher Franzos hat schon gesagt: wenn irgend ein guter Kopf die
Aufmerksamkeit des Publikums durch ein verdienstliches Werk auf sich
gezogen hat, so tut man das möglichste, um zu verhindern, daß er
jemals dergleichen wieder hervorbringt. Es
ist so wahr: irgend etwas Gutes, Geistreiches wird in stiller
abgesonderter Jugend hervorgebracht, der Beifall wird erworben, aber die
Unabhängigkeit verloren, man zerrt das konzentrierte Talent in die
Zerstreuung, weil man denkt, man könne von seiner Persönlichkeit etwas
abzupfen und sich zueignen. In
diesem Sinne erhielt ich manche Einladungen, oder nicht so wohl
Einladungen. Ein Freund, ein Bekannter schlug mir vor, gar oft mehr als
dringend, mich da oder dort einzuführen. Der
quasi Fremde, angekündigt als Bär, wegen oftmaligen unfreundlichen
Abweisens, dann wieder als Hurone Voltaires, Cumberlands Westindier, als
Naturkind bei so vielen Talenten, erregte die Neugierde, und so beschäftigte
man sich in verschiedenen Häusern mit schicklichen Negotiationen, ihn
zu sehen. Unter
andern ersuchte mich ein Freund eines Abends, mit ihm ein kleines
Konzert zu besuchen, welches in einem angesehnen reformierten
Handelshause gegeben wurde. Es war schon spät, doch weil ich alles aus
dem Stegreife liebte, folgte ich ihm, wie gewöhnlich anständig
angezogen. Wir treten in ein Zimmer gleicher Erde, in das eigentliche
geräumige Wohnzimmer. Die Gesellschaft war zahlreich, ein Flügel stand
in der Mitte, an den sich sogleich die einzige Tochter des Hauses
niedersetzte und mit bedeutender Fertigkeit und Anmut spielte. Ich stand
am unteren Ende des Flügels, um ihre Gestalt und Wesen nahe genug
bemerken zu können; sie hatte etwas Kindartiges in ihrem Betragen, die
Bewegungen, wozu das Spiel sie nötigte, waren ungezwungen und leicht. Nach
geendigter Sonate trat sie ans Ende des Pianos gegen mir über, wir begrüßten
uns ohne weitere Rede, denn ein Quartett war schon angegangen. Am Schluß
trat ich etwas näher und sagte einiges Verbindliche: wie sehr es mich
freue, daß die erste Bekanntschaft mich auch zugleich mit ihrem Talent
bekannt gemacht habe. Sie wußte gar artig meine Worte zu erwidern,
behielt ihre Stellung und ich die meinige. Ich konnte bemerken, daß sie
mich aufmerksam betrachtete und daß ich ganz eigentlich zur Schau
stand, welches ich mir gar wohl konnte gefallen lassen, da man mir auch
etwas gar Anmutiges zu schauen gab. Indessen blickten wir einander an,
und ich will nicht leugnen, daß ich eine Anziehungskraft von der
sanftesten Art zu empfinden glaubte. Das Hin- und Herwogen der
Gesellschaft und ihrer Leistungen verhinderte jedoch jede andere Art von
Annäherung diesen Abend. Doch muß ich eine angenehme Empfindung
gestehen, als die Mutter beim Abschied zu erkennen gab, sie hofften mich
bald wieder zu sehen, und die Tochter mit einiger Freundlichkeit
einzustimmen schien. Ich verfehlte nicht, nach schicklichen Pausen,
meinen Besuch zu wiederholen, da sich denn ein heiteres verständiges
Gespräch bildete, welches kein leidenschaftliches Verhältnis zu
weissagen schien. Indessen
brachte die einmal eingeleitete Gastfreiheit unsres Hauses den guten
Eltern und mir selbst manche Unbequemlichkeit; in meiner Richtung, die
immer darauf hinging, das Höhere gewahr zu werden, es zu erkennen, es
zu fördern und wo möglich solches nachbildend zu gestalten, war ich
dadurch in nichts weiter gebracht. Die Menschen, insofern sie gut waren,
waren fromm, und, insofern sie tätig waren, unklug und oft ungeschickt.
Jenes konnte mir nichts helfen, und dieses verwirrte mich; einen merkwürdigen
Fall habe ich sorgfältig niedergeschrieben. Im
Anfang des Jahres 1775 meldete Jung, nachher Stilling genannt, vom
Niederrhein, daß er nach Frankfurt komme, berufen, eine bedeutende
Augenkur daselbst vorzunehmen; er war mir und meinen Eltern willkommen,
und wir boten ihm das Quartier an. Herr
von Lersner, ein würdiger Mann in Jahren, durch Erziehung und Führung
fürstlicher Kinder, verständiges Betragen bei Hof und auf Reisen überall
geschätzt, erduldete schon lange das Unglück einer völligen
Blindheit, doch konnte seine Sehnsucht nach Hülfe nicht ganz erlöschen.
Nun hatte Jung seit einigen Jahren mit gutem Mut und frommer
Dreistigkeit viele Staroperationen am Niederrhein vollbracht und sich
dadurch einen ausgebreiteten Ruf erworben; Redlichkeit seiner Seele,
Zuverlässigkeit des Charakters und reine Gottesfurcht bewirkten ihm ein
allgemeines Zutrauen, dieses verbreitete sich stromaufwärts auf dem
Wege vielfacher Handelsverbindungen. Herr von Lersner und die Seinigen,
beraten von einem einsichtigen Arzte, entschlossen sich, den glücklichen
Augenarzt kommen zu lassen, wenn schon ein Frankfurter Kaufmann, an dem
die Kur mißglückt war, ernstlich abriet; aber was bewies auch ein
einzelner Fall gegen so viele gelungene! Doch Jung kam, nunmehr
angelockt durch eine bedeutende Belohnung, deren er gewöhnlich bisher
entbehrt hatte; er kam, seinen Ruf zu vermehren, getrost und freudig,
und wir wünschten uns Glück zu einem so wackern und heitern
Tischgenossen. Nach
mehreren ärztlichen Vorbereitungen ward nun endlich der Star auf beiden
Augen gestochen; wir waren höchst gespannt, es hieß, der Patient habe
nach der Operation sogleich gesehen, bis der Verband das Tageslicht
wieder abgehalten. Allein es ließ sich bemerken, daß Jung nicht heiter
war und daß ihm etwas auf dem Herzen lag; wie er mir denn auch auf
weiteres Nachforschen bekannte, daß er wegen Ausgang der Kur in Sorgen
sei. Gewöhnlich, und ich hatte selbst in Straßburg mehrmals zugesehen,
schien nichts leichter in der Welt zu sein, wie es denn auch Stillingen
hundertmal gelungen war. Nach vollbrachtem schmerzlosen Schnitt durch
die unempfindliche Hornhaut sprang bei dem gelindesten Druck die trübe
Linse von selbst heraus, der Patient erblickte sogleich die Gegenstände
und mußte sich nur mit verbundenen Augen gedulden, bis eine vollbrachte
Kur ihm erlaubte, sich des köstlichen Organs nach Willen und
Bequemlichkeit zu bedienen. Wie mancher Arme, dem Jung dieses Glück
verschafft, hatte dem Wohltäter Gottessegen und Belohnung von oben
herabgewünscht, welche nun durch diesen reichen Mann abgetragen werden
sollte. Jung
bekannte, daß es diesmal so leicht und glücklich nicht hergegangen:
die Linse sei nicht herausgesprungen, er habe sie holen und zwar, weil
sie angewachsen, ablösen müssen; dies sei nun nicht ohne einige Gewalt
geschehen. Nun machte er sich Vorwürfe, daß er auch das andere Auge
operiert habe. Allein man hatte sich so fest vorgesetzt, beide zugleich
vorzunehmen, an eine solche Zufälligkeit hatte man nicht gedacht und,
da sie eingetreten, sich nicht sogleich erholt und besonnen. Genug, die
zweite Linse kam nicht von selbst, sie mußte auch mit Unstatten abgelöst
und herausgeholt werden. Wie
übel ein so gutmütiger, wohlgesinnter, gottesfürchtiger Mann in einem
solchen Falle dran sei, läßt keine Beschreibung noch Entwicklung zu;
etwas Allgemeines über eine solche Sinnesart steht vielleicht hier am
rechten Platze. Auf
eigene moralische Bildung loszuarbeiten, ist das Einfachste und
Tulichste, was der Mensch vornehmen kann; der Trieb dazu ist ihm
angeboren; er wird durch Menschenverstand und Liebe dazu im bürgerlichen
Leben geleitet, ja gedrängt. Stilling
lebte in einem sittlich religiosen Liebesgefühl; ohne Mitteilung, ohne
guten Gegenwillen konnte er nicht existieren, er forderte wechselseitige
Neigung; wo man ihn nicht kannte, war er still, wo man den Bekannten
nicht liebte, war er traurig; deswegen befand er sich am besten mit
solchen wohlgesinnten Menschen, die in einem beschränkten ruhigen
Berufskreise mit einiger Bequemlichkeit sich zu vollenden beschäftigt
sind. Diesen
gelingt nun wohl, die Eitelkeit abzutun, dem Bestreben nach äußerer
Ehre zu entsagen, Behutsamkeit im Sprechen sich anzueignen, gegen
Genossen und Nachbarn ein freundliches gleiches Betragen auszuüben. Oft
liegt hier eine dunkle Geistesform zum Grunde, durch Individualität
modifiziert; solche Personen, zufällig angeregt, legen große
Wichtigkeit auf ihre empirische Laufbahn, man hält alles für übernatürliche
Bestimmung, mit der Überzeugung, daß Gott unmittelbar einwirke. Dabei
ist im Menschen eine gewisse Neigung, in seinem Zustand zu verharren,
zugleich aber auch sich stoßen und führen zu lassen, und eine gewisse
Unentschlossenheit, selbst zu handeln; diese vermehrt sich, bei Mißlingen
der verständigsten Plane, sowie durch zufälliges Gelingen günstig
zusammentreffender unvorhergesehener Umstände. Wie
nun durch eine solche Lebensweise ein aufmerksames männliches Betragen
verkümmert wird, so ist die Art, in einen solchen Zustand zu gelangen,
gleichfalls gefährlich. Wovon
sich nun solche Sinnesverwandten am liebsten unterhalten, sind die
sogenannten Erweckungen, Sinnesänderungen, denen wir ihren
psychologischen Wert nicht absprechen. Es sind eigentlich, was wir in
wissenschaftlichen und poetischen Angelegenheiten Aperçus nennen: das
Gewahrwerden einer großen Maxime, welches immer eine genialische
Geistesoperation ist; man kommt durch Anschauen dazu, weder durch
Nachdenken noch durch Lehre oder Überlieferung. Hier ist es das
Gewahrwerden der moralischen Kraft, die im Glauben ankert und so in
stolzer Sicherheit mitten auf den Wogen sich empfinden wird. Ein solches
Aperçu gibt dem Entdecker die größte Freude, weil es auf originelle
Weise nach dem Unendlichen hindeutet, es bedarf keiner Zeitfolge zur Überzeugung,
es entspringt ganz und vollendet im Augenblick; daher das gutmütige
altfranzösische Reimwort: En
peu d'heure Dieu
labeure. Äußere
Anstöße bewirken oft das gewaltsame Losbrechen solcher Sinnesänderung,
man glaubt Zeichen und Wunder zu schauen. Zutrauen
und Liebe verband mich aufs herzlichste mit Stilling; ich hatte doch
auch gut und glücklich auf seinen Lebensgang eingewirkt, und es war
ganz seiner Natur gemäß, alles, was für ihn geschah, in einem
dankbaren feinen Herzen zu behalten; aber sein Umgang war mir in meinem
damaligen Lebensgange weder erfreulich noch förderlich. Zwar überließ
ich gern einem jeden, wie er sich das Rätsel seiner Tage zurechtlegen
und ausbilden wollte, aber die Art, auf einem abenteuerlichen
Lebensgange alles, was uns vernünftigerweise Gutes begegnet, einer
unmittelbaren göttlichen Einwirkung zuzuschreiben, schien mir doch zu
anmaßlich, und die Vorstellungsart, daß alles, was aus unserm
Leichtsinn und Dünkel, übereilt oder vernachlässigt, schlimme, schwer
zu übertragende Folgen hat, gleichfalls für eine göttliche Pädagogik
zu halten, wollte mir auch nicht in den Sinn. Ich konnte also den guten
Freund nur anhören, ihm aber nichts Erfreuliches erwidern; doch ließ
ich ihn, wie so viele andere, gern gewähren und schützte ihn später
wie früher, wenn man, gar zu weltlich gesinnt, sein zartes Wesen zu
verletzen sich nicht scheute. Daher ich ihm auch den Einfall eines
schalkischen Mannes nicht zu Ohren kommen ließ, der einmal ganz
ernsthaft ausrief: "Nein! fürwahr, wenn ich mit Gott so gut stünde
wie Jung, so würde ich das höchste Wesen nicht um Geld bitten, sondern
um Weisheit und guten Rat, damit ich nicht so viel dumme Streiche
machte, die Geld kosten und elende Schuldenjahre nach sich ziehen." Denn
freilich war zu solchem Scherz und Frevel jetzt nicht die Zeit. Zwischen
Furcht und Hoffnung gingen mehrere Tage hin; jene wuchs, diese schwand
und verlor sich gänzlich; die Augen des braven geduldigen Mannes entzündeten
sich, und es blieb kein Zweifel, daß die Kur mißlungen sei. Der
Zustand, in den unser Freund dadurch geriet, läßt keine Schilderung
zu; er wehrte sich gegen die innerste tiefste Verzweiflung von der
schlimmsten Art. Denn was war nicht in diesem Falle verloren! zuvörderst
der größte Dank des zum Lichte wieder Genesenen, das Herrlichste,
dessen sich der Arzt nur erfreuen kann, das Zutrauen so vieler andern Hülfsbedürftigen,
der Kredit, indem die gestörte Ausübung dieser Kunst eine Familie im hülflosen
Zustande zurückließ. Genug, wir spielten das unerfreuliche Drama Hiobs
von Anfang bis zu Ende durch, da denn der treue Mann die Rolle der
scheltenden Freunde selbst übernahm. Er wollte diesen Vorfall als
Strafe bisheriger Fehler ansehen; es schien ihm, als habe er die ihm zufällig
überkommenen Augenmittel frevelhaft als göttlichen Beruf zu diesem
Geschäft betrachtet; er warf sich vor, dieses höchst wichtige Fach
nicht durch und durch studiert, sondern seine Kuren nur so obenhin auf
gut Glück behandelt zu haben; ihm kam augenblicklich vor die Seele, was
Mißwollende ihm nachgeredet; er geriet in Zweifel, ob dies auch nicht
Wahrheit sei, und dergleichen schmerzte um so tiefer, als er sich den für
fromme Menschen so gefährlichen Leichtsinn, leider auch wohl Dünkel
und Eitelkeit, in seinem Lebensgange mußte zuschulden kommen lassen. In
solchen Augenblicken verlor er sich selbst, und wie wir uns auch verständigen
mochten, wir gelangten doch nur zuletzt auf das vernünftig-notwendige
Resultat: daß Gottes Ratschlüsse unerforschlich seien. In
meinem vorstrebend heitern Sinne wäre ich noch mehr verletzt gewesen, hätte
ich nicht, nach herkömmlicher Weise, diese Seelenzustände ernster
freundlicher Betrachtung unterworfen und sie mir nach meiner Weise
zurecht gelegt; nur betrübte es mich, meine gute Mutter für ihre
Sorgfalt und häusliche Bemühung so übel belohnt zu sehen; sie empfand
es jedoch nicht bei ihrem unablässig tätigen Gleichmut. Der Vater
dauerte mich am meisten. Um meinetwillen hatte er einen streng
geschlossenen Haushalt mit Anstand erweitert und genoß besonders bei
Tisch, wo die Gegenwart von Fremden auch einheimische Freunde und immer
wieder sonstige Durchreisende heranzog, sehr gern eines muntern, ja
paradoxen Gespräches, da ich ihm denn, durch allerlei dialektisches
Klopffechten, großes Behagen und ein freundliches Lächeln bereitete:
denn ich hatte die gottlose Art, alles zu bestreiten, aber nur insofern
hartnäckig, daß derjenige, der recht behielt, auf alle Fälle lächerlich
wurde. Hieran war nun in den letzten Wochen gar nicht zu denken, denn
die glücklichsten heitersten Ereignisse, veranlaßt durch wohlgelungene
Nebenkuren des durch die Hauptkur so unglücklichen Freundes, konnten
nicht greifen, viel weniger der traurigen Stimmung eine andere Wendung
geben. Denn
so machte uns im einzelnen ein alter blinder Betteljude aus dem
Isenburgischen zu lachen, der, in dem höchsten Elend nach Frankfurt geführt,
kaum ein Obdach, kaum eine kümmerliche Nahrung und Wartung finden
konnte, dem aber die zähe orientalische Natur so gut nachhalf, daß er,
vollkommen und ohne die mindeste Beschwerde, sich mit Entzücken geheilt
sah. Als man ihn fragte: ob die Operation geschmerzt habe? so sagte er
nach der hyperbolischen Weise: "Wenn ich eine Million Augen hätte,
so wollte ich sie jedesmal für ein halb Kopfstück, sämtlich, nach und
nach operieren lassen. " Bei seinem Abwandern betrug er sich in der
Fahrgasse ebenso exzentrisch, er dankte Gott auf gut alttestamentlich,
pries den Herren und den Wundermann, seinen Gesandten. So schritt er, in
dieser langen gewerbreichen Straße, langsam der Brücke zu. Verkäufer
und Käufer traten aus den Läden heraus, überrascht durch einen so
seltenen frommen, leidenschaftlich vor aller Welt ausgesprochenen
Enthusiasmus; alle waren angeregt zur Teilnahme, dergestalt daß er,
ohne irgend zu fordern oder zu heischen, mit reichlichen Gaben zur
Wegezehrung beglückt wurde. Eines
solchen heitern Vorfalls durfte man in unserm Kreise aber kaum erwähnen;
denn, wenn der Ärmste, in seiner sandigen Heimat über Main, in häuslichem
Elend höchst glücklich gedacht werden konnte, so vermißte dagegen ein
Wohlhabender, Würdiger diesseits das unschätzbare, zunächst gehoffte
Behagen. Kränkend
war daher für unsern guten Jung der Empfang der tausend Gulden, die,
auf jeden Fall bedungen, von großmütigen Menschen edel bezahlt wurden.
Diese Barschaft sollte bei seiner Rückkehr einen Teil der Schulden auslöschen,
die auf traurigen, ja unseligen Zuständen lasteten. Und
so schied er trostlos von uns, denn er sah zurückkehrend den Empfang
einer sorglichen Frau, das veränderte Begegnen von wohldenkenden
Schwiegereltern, die sich, als Bürgen für so manche Schulden des allzu
zuversichtlichen Mannes, in der Wahl eines Lebensgefährten für ihre
Tochter vergriffen zu haben glauben konnten. Hohn und Spott der ohnehin
im Glücke schon Mißwollenden konnte er in diesem und jenem Hause, aus
diesem und jenem Fenster schon voraussehen; eine durch seine Abwesenheit
schon verkümmerte, durch diesen Unfall in ihren Wurzeln bedrohte Praxis
mußte ihn äußerst ängstigen. So
entließen wir ihn, von unserer Seite jedoch nicht ganz ohne Hoffnung;
denn seine tüchtige Natur, gestützt auf den Glauben an übernatürliche
Hülfe, mußte seinen Freunden eine stillbescheidene Zuversicht einflößen.
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Wolfgang
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