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Johann Wolfgang
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Siebzehntes BuchWenn
ich die Geschichte meines Verhältnisses zu Lili wieder aufnehme, so
hab' ich mich zu erinnern, daß ich die angenehmsten Stunden teils in
Gegenwart ihrer Mutter, teils allein mit ihr zubrachte. Man traute mir
aus meinen Schriften Kenntnis des menschlichen Herzens, wie man es
damals nannte, zu, und in diesem Sinne waren unsre Gespräche sittlich
interessant auf jede Weise. Wie
wollte man sich aber von dem Innern unterhalten, ohne sich gegenseitig
aufzuschließen? Es währte daher nicht lange, daß sie mir in ruhiger
Stunde die Geschichte ihrer Jugend erzählte. Sie war im Genuß aller
geselligen Vorteile und Weltvergnügungen aufgewachsen. Sie schilderte
mir ihre Brüder, ihre Verwandten, sowie die nächsten Zustände; nur
ihre Mutter blieb in einem ehrwürdigen Dunkel. Auch
kleiner Schwächen wurde gedacht, und so konnte sie nicht leugnen, daß
sie eine gewisse Gabe anzuziehen an sich habe bemerken müssen, womit
zugleich eine gewisse Eigenschaft fahren zu lassen verbunden sei.
Hiedurch gelangten wir im Hin- und Widerreden auf den bedenklichen
Punkt, daß sie diese Gabe auch an mir geübt habe, jedoch bestraft
worden sei, indem sie auch von mir angezogen worden. Diese
Geständnisse gingen aus einer so reinen kindhaften Natur hervor, daß
sie mich dadurch aufs allerstrengste sich zu eigen machte. Ein
wechselseitiges Bedürfnis, eine Gewohnheit sich zu sehen, trat nun ein;
wie hätt' ich aber manchen Tag, manchen Abend bis in die Nacht hinein
entbehren müssen, wenn ich mich nicht hätte entschließen können, sie
in ihren Zirkeln zu sehen! Mein
Verhältnis zu ihr war von Person zu Person, zu einer schönen, liebenswürdigen,
gebildeten Tochter; es glich meinen früheren Verhältnissen, und war
noch höherer Art. An die Äußerlichkeiten jedoch, an das Mischen und
Wiedermischen eines geselligen Zustandes hatte ich nicht gedacht. Ein
unbezwingliches Verlangen war eingetreten; ich konnte nicht ohne sie,
sie nicht ohne mich sein; aber in den Umgebungen und bei den
Einwirkungen einzelner Glieder ihres Kreises, was ergaben sich da oft für
Mißtage und Fehlstunden! Die
Geschichte von Lustpartien, die zur Unlust ausliefen; ein retardierender
Bruder, mit dem ich nachfahren sollte, welcher seine Geschäfte erst mit
der größten Gelassenheit, ich weiß nicht ob mit Schadenfreude,
langsamst vollendete und dadurch die ganze wohldurchdachte Verabredung
verdarb, auch sonstiges Antreffen und Verfehlen, Ungeduld und
Entbehrung, alle diese Peinen, die in irgend einem Roman, umständlicher
mitgeteilt, gewiß teilnehmende Leser finden würden, muß ich hier
beseitigen. Um aber doch diese betrachtende Darstellung einer lebendigen
Anschauung, einem jugendlichen Mitgefühl anzunähern, mögen einige
Lieder, zwar bekannt, aber vielleicht besonders hier eindrücklich,
eingeschaltet stehen. Herz,
mein Herz, was soll das geben?
______ Warum
ziehst du mich unwiderstehlich
Hat
man sich diese Lieder aufmerksam vorgelesen, lieber noch mit Gefühl
vorgesungen, so wird ein Hauch jener Fülle glücklicher Stunden gewiß
vorüber wehen. Doch
wollen wir aus jener größeren, glänzenden Gesellschaft nicht eilig
abscheiden, ohne vorher noch einige Bemerkungen hinzuzufügen; besonders
den Schluß des zweiten Gedichtes zu erläutern. Diejenige,
die ich nur im einfachen, selten gewechselten Hauskleide zu sehen
gewohnt war, trat mir im eleganten Modeputz nun glänzend entgegen, und
doch war es ganz dieselbe. Ihre Anmut, ihre Freundlichkeit blieb sich
gleich, nur möcht' ich sagen, ihre Anziehungsgabe tat sich mehr hervor;
es sei nun, weil sie hier gegen viele Menschen stand, daß sie sich
lebhafter zu äußern, sich von mehreren Seiten, je nachdem ihr dieser
oder jener entgegen kam, zu vermannigfaltigen Ursache fand; genug, ich
konnte mir nicht leugnen, daß diese Fremden mir zwar einerseits
unbequem fielen, daß ich aber doch um vieles der Freude nicht entbehrt
hätte, ihre geselligen Tugenden kennen zu lernen und einzusehen, sie
sei auch weiteren und allgemeineren Zuständen gewachsen. War
es doch derselbige nun durch Putz verhüllte Busen, der sein Innres mir
geöffnet hatte und in den ich so klar wie in den meinigen hineinsah;
waren es doch dieselben Lippen, die mir so früh den Zustand
schilderten, in dem sie herangewachsen, in dem sie ihre Jahre verbracht
hatte. Jeder wechselseitige Blick, jedes begleitende Lächeln sprach ein
verborgnes edles Verständnis aus, und ich staunte selbst hier in der
Menge über die geheime unschuldige Verabredung, die sich auf das
menschlichste, auf das natürlichste gefunden hatte. Doch
sollte bei eintretendem Frühling eine anständige ländliche Freiheit
dergleichen Verhältnisse enger knüpfen. Offenbach am Main zeigte schon
damals bedeutende Anfänge einer Stadt, die sich in der Folge zu bilden
versprach. Schöne, für die damalige Zeit prächtige Gebäude hatten
sich schon hervorgetan; Onkel Bernard, wie ich ihn gleich mit seinem
Familientitel nennen will, bewohnte das größte; weitläufige Fabrikgebäude
schlossen sich an; d'Orville, ein jüngerer lebhafter Mann von liebenswürdigen
Eigenheiten, wohnte gegenüber. Anstoßende Gärten, Terrassen, bis an
den Main reichend, überall freien Ausgang nach der holden Umgegend
erlaubend, setzten den Eintretenden und Verweilenden in ein stattliches
Behagen. Der Liebende konnte für seine Gefühle keinen erwünschtern
Raum finden. Ich
wohnte bei Johann André, und indem ich diesen Mann, der sich nachher
genugsam bekannt gemacht, hier zu nennen habe, muß ich mir eine kleine
Abschweifung erlauben, um von dem damaligen Opernwesen einigen Begriff
zu geben. In
Frankfurt dirigierte zu der Zeit Marchand das Theater und suchte durch
seine eigne Person das mögliche zu leisten. Es war ein schöner, groß-
und wohlgestalteter Mann in den besten Jahren; das Behagliche,
Weichliche erschien bei ihm vorwaltend; seine Gegenwart auf dem Theater
war daher angenehm genug. Er mochte so viel Stimme haben, als man damals
zu Ausführung musikalischer Werke wohl allenfalls bedurfte, deshalb er
denn die kleineren und größern französischen Opern herüber zu
bequemen bemüht war. Der
Vater in der Grétryschen Oper "Die Schöne bei dem Ungeheuer"
gelang ihm besonders wohl, wo er sich in der hinter dem Flor
veranstalteten Vision gar ausdrücklich zu gebärden wußte. Diese
in ihrer Art wohlgelungene Oper näherte sich jedoch dem edlen Stil, und
war geeignet, die zartesten Gefühle zu erregen. Dagegen hatte sich ein
realistischer Dämon des Operntheaters bemächtigt; Zustands - und
Handwerksopern taten sich hervor. "Die Jäger ", "Der Faßbinder",
und ich weiß nicht was alles, waren vorausgegangen, André wählte sich
den "Töpfer". Er hatte sich das Gedicht selbst geschrieben,
und in den Text, der ihm angehörte, sein ganzes musikalisches Talent
verwendet. Ich
war bei ihm einquartiert, und will von diesem allzeit fertigen Dichter
und Komponisten nur so viel sagen, als hier gefordert wird. Er
war ein Mann von angeborenem lebhaften Talente, eigentlich als Techniker
und Fabrikant in Offenbach ansässig; er schwebte zwischen dem
Kapellmeister und Dilettanten; in Hoffnung, jenes Verdienst zu
erreichen, bemühte er sich ernstlich, in der Musik gründlichen Fuß zu
fassen. Als letzterer war er geneigt, seine Kompositionen ins Unendliche
zu wiederholen. Unter
die Personen, welche damals den Kreis zu füllen und zu beleben sich höchst
tätig erwiesen, ist der Pfarrer Ewald zu nennen, der, geistreich heiter
in Gesellschaft, die Studien seiner Pflichten, seines Standes im stillen
für sich durchzuführen wußte, wie er denn auch in der Folge innerhalb
des theologischen Feldes sich ehrenvoll bekannt gemacht; er muß in dem
damaligen Kreise als unentbehrlich, auffassend und erwidernd, mitgedacht
werden. Lilis
Pianospiel fesselte unsern guten André vollkommen an unsre
Gesellschaft; als unterrichtend, meisternd, ausführend, waren wenige
Stunden des Tags und der Nacht, wo er nicht in das Familienwesen, in die
gesellige Tagesreihe mit eingriff. Bürgers
"Lenore", damals ganz frisch bekannt und mit Enthusiasmus von
den Deutschen aufgenommen, war von ihm komponiert; er trug sie gern und
wiederholt vor. Auch
ich, der viel und lebhaft rezitierend vortrug, war sie zu deklamieren
bereit; man langweilte sich damals noch nicht an wiederholtem Einerlei.
War der Gesellschaft die Wahl gelassen, welchen von uns beiden sie hören
wolle, so fiel die Entscheidung oft zu meinen Gunsten. Dieses
alles aber, wie es auch sei, diente den Liebenden nur zur Verlängerung
des Zusammenseins; sie wissen kein Ende zu finden, und der gute Johann
André war durch wechselsweise Verführung der beiden gar leicht in
ununterbrochene Bewegung zu setzen, um bis Nachmitternacht seine Musik
wiederholend zu verlängern. Die beiden Lieben den versicherten sich
dadurch einer werten unentbehrlichen Gegenwart. Trat
man am Morgen in aller Frühe aus dem Hause, so fand man sich in der
freisten Luft, aber nicht eigentlich auf dem Lande. Ansehnliche Gebäude,
die zu jener Zeit einer Stadt Ehre gemacht hätten, Gärten,
parterreartig übersehbar, mit flachen Blumenund sonstigen Prunkbeeten,
freie Übersicht über den Fluß bis ans jenseitige Ufer, oft schon früh
eine tätige Schiffahrt von Flößen und gelenkten Marktschiffen und Kähnen,
eine sanft hingleitende lebendige Welt, mit liebevollen zarten
Empfindungen im Einklang. Selbst das einsame Vorüberwogen und
Schilfgeflüster eines leise bewegten Stromes ward höchst erquicklich
und verfehlte nicht, einen entschieden-beruhigenden Zauber über den
Herantretenden zu verbreiten. Ein heiterer Himmel der schönsten
Jahrszeit überwölbte das Ganze, und wie angenehm mußte sich eine
traute Gesellschaft, von solchen Szenen umgeben, morgendlich
wiederfinden. Sollte
jedoch einem ernsten Leser eine solche Lebensweise gar zu lose, zu
leichtfertig erscheinen, so möge er bedenken, daß zwischen dasjenige,
was hier, des Vortrags halben, wie im Zusammenhange geschildert ist,
sich Tage und Wochen des Entbehrens, andere Bestimmungen und Tätigkeiten,
sogar unerträgliche Langeweile widerwärtig einstellten. Männer
und Frauen waren in ihrem Pflichtkreise eifrig beschäftigt. Auch ich
versäumte nicht, in Betracht der Gegenwart und Zukunft, das mir
Obliegende zu besorgen, und fand noch Zeit genug, dasjenige zu
vollbringen, wohin mich Talent und Leidenschaft unwiderstehlich hindrängten.
Die frühsten Morgenstunden war ich der Dichtkunst schuldig, der
wachsende Tag gehörte den weltlichen Geschäften, die auf eine ganz
eigene Art behandelt wurden. Mein Vater, ein gründlicher, ja eleganter
Jurist, führte seine Geschäfte selbst, die ihm sowohl die Verwaltung
seines Vermögens als die Verbindung mit wertgeschätzten Freunden
auferlegte, und ob ihm gleich sein Charakter als kaiserlicher Rat zu
praktizieren nicht erlaubte, so war er doch manchen Vertrauten als
Rechtsfreund zur Hand, indem die ausgefertigten Schriften von einem
ordinierten Advokaten unterzeichnet wurden, dem denn jede solche
Signatur ein Billiges einbrachte. Diese
seine Tätigkeit war nur lebhafter geworden durch mein Herantreten, und
ich konnte gar wohl bemerken, daß er mein Talent höher schätzte als
meine Praxis und deswegen alles tat, um mir Zeit genug zu meinen
poetischen Studien und Arbeiten zu lassen. Gründlich und tüchtig, aber
von langsamer Konzeption und Ausführung, studierte er die Akten als
geheimer Referendar, und wenn wir zusammentraten, legte er mir die Sache
vor, und die Ausfertigung ward von mir mit solcher Leichtigkeit
vollbracht, daß es ihm zur höchsten Vaterfreude gedieh, und er auch
wohl einmal auszusprechen nicht unterließ: wenn ich ihm fremd wäre, er
würde mich beneiden. Diese
Angelegenheiten noch mehr zu erleichtern, hatte sich ein Schreiber zu
uns gesellt, dessen Charakter und Wesen, wohl durchgeführt, leicht
einen Roman fördern und schmücken könnte. Nach wohlgenutzten
Schuljahren, worin er des Lateins völlig mächtig geworden, auch
sonstige gute Kenntnisse erlangt hatte, unterbrach ein allzu
leichtfertiges akademisches Leben den übrigen Gang seiner Tage; er
schleppte sich eine Weile mit siechem Körper in Dürftigkeit hin, und
kam erst später in bessere Umstände durch Hülfe einer sehr schönen
Handschrift und Rechnungsfertigkeit. Von einigen Advokaten unterhalten,
ward er nach und nach mit den Förmlichkeiten des Rechtsganges genau
bekannt, und erwarb sich alle, denen er diente, durch Rechtlichkeit und
Pünktlichkeit zu Gönnern. Auch unserm Hause hatte er sich verpflichtet
und war in allen Rechts- und Rechnungssachen bei der Hand. Dieser
hielt nun von seiner Seite unser sich immer mehr ausdehnendes Geschäft,
das sich sowohl auf Rechtsangelegenheiten, als auf mancherlei Aufträge,
Bestellungen und Speditionen bezog, zusammen. Auf dem Rathause wußte er
alle Wege und Schliche, in den beiden burgemeisterlichen Audienzen war
er auf seine Weise gelitten, und da er manchen neuen Ratsherrn, worunter
einige gar bald zu Schöffen herangestiegen waren, von seinem ersten
Eintritt ins Amt her in seinem noch unsichern Benehmen gar wohl kannte,
so hatte er sich ein gewisses Vertrauen erworben, das man gar wohl eine
Art von Einfluß nennen konnte. Das alles wußte er zum Nutzen seiner Gönner
zu verwenden, und da ihn seine Gesundheit nötigte, seine Tätigkeit mit
Maß zu üben, so fand man ihn immer bereit, jeden Auftrag, jede
Bestellung sorgfältig auszurichten. Seine
Gegenwart war nicht unangenehm, von Körper schlank und regelmäßiger
Gesichtsbildung; sein Betragen nicht zudringlich, aber doch mit einem
Ausdruck von Sicherheit seiner Überzeugung, was zu tun sei, auch wohl
heiter und gewandt bei wegzuräumenden Hindernissen. Er mochte stark in
den Vierzigern sein, und es reut mich noch (ich darf das Obengesagte
wiederholen), daß ich ihn nicht als Triebrad in den Mechanismus irgend
einer Novelle mit eingefügt habe. In
Hoffnung, meine ernsten Leser durch das Vorgetragene einigermaßen
befriedigt zu haben, darf ich mich wohl wieder zu denen glänzenden
Tagespunkten hinwenden, wo Freundschaft und Liebe sich in ihrem schönsten
Lichte zeigten. Daß
Geburtstage sorgfältig, froh und mit mancher Abwechselung gefeiert
wurden, liegt in der Natur solcher Verbindungen; dem Geburtstage des
Pfarrers Ewald zu Gunsten ward das Lied gedichtet: In
allen guten Stunden, Da
dies Lied sich bis auf den heutigen Tag erhalten hat und nicht leicht
eine muntere Gesellschaft beim Gastmahl sich versammelt, ohne daß es
freudig wieder aufgefrischt werde, so empfehlen wir es auch unsern
Nachkommen und wünschen allen, die es aussprechen und singen, gleiche
Lust und Behagen von innen heraus, wie wir damals ohne irgend einer
weitern Welt zu gedenken, uns im beschränkten Kreise zu einer Welt
ausgedehnt empfanden. Nun
aber wird man erwarten, daß Lilis Geburtstag, welcher den 23. Juni 1775
sich zum siebenzehnten Mal wiederholte, besonders sollte gefeiert
werden. Sie hatte versprochen, am Mittag nach Offenbach zu kommen, und
ich muß gestehen, daß die Freunde mit glücklicher Übereinkunft von
diesem Feste alle herkömmlichen Verzierungsphrasen ablehnt und sich nur
allein mit Herzlichkeiten, die ihrer würdig wären, zu Empfang und
Unterhaltung vorbereitet hatten. Mit
solchen angenehmen Pflichten beschäftigt, sah ich die Sonne untergehen,
die einen folgenden heitern Tag verkündigte und unserm Fest ihre frohe
glänzende Gegenwart versprach, als Lilis Bruder George, der sich nicht
verstellen konnte, ziemlich ungebärdig ins Zimmer trat, und ohne
Schonung zu erkennen gab, daß unser morgendes Fest gestört sei; er
wisse selbst weder wie noch wodurch, aber die Schwester lasse sagen, daß
es ihr völlig unmöglich sei, morgen mittag nach Offenbach zu kommen
und an dem ihr zugedachten Feste teilzunehmen; erst gegen Abend hoffe
sie ihre Ankunft bewirken zu können. Nun fühle und wisse sie recht
gut, wie unangenehm es mir und unsern Freunden fallen müsse, bitte mich
aber so herzlich dringend als sie könne, etwas zu erfinden, wodurch das
Unangenehme dieser Nachricht, die sie mir überlasse hinaus zu melden,
gemildert ja versöhnt werde; sie wolle mir's zum allerbesten danken. Ich
schwieg einen Augenblick, hatte mich auch sogleich gefaßt und wie durch
himmlische Eingebung gefunden, was zu tun war. "Eile", rief
ich, "George! sag ihr, sie solle sich ganz beruhigen, möglich
machen, daß sie gegen Abend komme, ich verspräche: gerade dieses
Unheil solle zum Fest werden." Der Knabe war neugierig und wünschte
zu wissen wie? dies wurde ihm standhaft verweigert, ob er gleich alle Künste
und Gewalt zu Hülfe rief, die ein Bruder unserer Geliebten auszuüben
sich anmaßt. Kaum
war er weg, so ging ich mit sonderbarer Selbstgefälligkeit in meiner
Stube auf und ab, und mit dem frohen, freien Gefühl, daß hier
Gelegenheit sei, mich als ihren Diener auf eine glänzende Weise zu
zeigen, heftete ich mehrere Bogen mit schöner Seide, wie es dem
Gelegenheitsgedicht ziemt, zusammen und eilte den Titel zu schreiben: "Sie
kommt nicht! ein
jammervolles Familienstück, welches, geklagt sei es Gott, den 23. Juni
1775 in Offenbach am Main auf das allernatürlichste wird aufgeführt
werden. Die Handlung dauert vom Morgen bis auf'n Abend." Da
von diesem Scherze weder Konzept noch Abschrift vorhanden, habe ich mich
oft darnach erkundigt, aber nie etwas davon wieder erfahren können; ich
muß daher es wieder aufs neue zusammendichten, welches im allgemeinen
nicht schwer fällt. Der
Schauplatz ist d'Orvilles Haus und Garten in Offenbach; die Handlung eröffnet
sich durch die Domestiken, wobei jedes genau seine Rolle spielt und die
Anstalten zum Fest vollkommen deutlich werden. Die Kinder mischen sich
drein, nach dem Leben gebildet, dann der Herr, die Frau mit eigentümlichen
Tätigkeiten und Einwirkungen; dann kommt, indem alles sich in einer
gewissen hastigen Geschäftigkeit durcheinander treibt, der unermüdliche
Nachbar Komponist Hans André; er setzt sich an den Flügel und ruft
alles zusammen, sein eben fertig gewordenes Festlied anzuhören und
durchzuprobieren. Das ganze Haus zieht er heran, aber alles macht sich
wieder fort, dringenden Geschäften nachzugehen, eins wird vom andern
abgerufen, eins bedarf des andern, und die Dazwischenkunft des Gärtners
macht aufmerksam auf die Garten- und Wasserszenen; Kränze, Bandrollen
mit Inschriften zierlichster Art, nichts ist vergessen. Als
man sich nun eben um die erfreulichsten Gegenstände versammelt, tritt
ein Bote herein, der, als eine Art von lustigem Hin- und Widerträger,
berechtigt war, auch eine Charakterrolle mitzuspielen, und der durch
manches allzugute Trinkgeld wohl ungefähr merken konnte, was für Verhältnisse
obwalteten; er tut sich auf sein Paket etwas zugute, hofft ein Glas Wein
und Semmelbrot, und übergibt nun, nach einigem schalkhaftem Weigern,
die Depesche. Dem Hausherrn sinken die Arme, die Papiere fallen zu
Boden, er ruft: "Laßt mich zum Tisch! laßt mich zur Kommode,
damit ich nur streichen kann." Das
geistreiche Zusammensein lebelustiger Menschen zeichnet sich vor allem
aus durch eine Sprach- und Gebärdensymbolik. Es entsteht eine Art
Gauneridiom, welches, indem es die Eingeweihten höchst glücklich
macht, den Fremden unbemerkt bleibt, oder, bemerkt, verdrießlich wird. Es
gehörte zu Lilis anmutigsten Eigenheiten eine, die hier durch Wort und
Gebärde als Streichen ausgedrückt ist, und welche stattfand, wenn
etwas Anstößiges gesagt oder gesprochen wurde, besonders indem man bei
Tische saß, oder in der Nähe von einer Fläche sich befand. Es
hatte dieses seinen Ursprung von einer unendlich lieblichen Unart, die
sie einmal begangen, als ein Fremder, bei Tafel neben ihr sitzend, etwas
Unziemliches vorbrachte. Ohne das holde Gesicht zu verändern, strich
sie mit ihrer rechten Hand gar lieblich über das Tischtuch weg, und
schob alles, was sie mit dieser sanften Bewegung erreichte, gelassen auf
den Boden. Ich weiß nicht was alles, Messer, Gabel, Brot, Salzfaß,
auch etwas zum Gebrauch ihres Nachbars gehörig; es war jedermann
erschreckt, die Bedienten liefen zu, niemand wußte was das heißen
sollte, als die Umsichtigen, die sich erfreuten, daß sie eine
Unschicklichkeit auf eine so zierliche Weise erwidert und ausgelöscht. Hier
war nun also ein Symbol gefunden, für das Ablehnen eines Widerwärtigen,
was doch manchmal in tüchtiger, braver, schätzenswerter,
wohlgesinnter, aber nicht durch und durch gebildeter Gesellschaft
vorzukommen pflegt. Die Bewegung mit der rechten Hand als ablehnend
erlaubten wir uns alle, das wirkliche Streichen der Gegenstände hatte
sie selbst in der Folge sich nur mäßig und mit Geschmack erlaubt. Wenn
der Dichter nun also dem Hausherrn diese Begierde zu streichen, eine uns
zur Natur gewordene Gewohnheit, als Mimik aufgibt; so sieht man das
Bedeutende, das Effektvolle; denn indem er alles von allen Flächen
herunter zu streichen droht, so hält ihn alles ab, man sucht ihn zu
beruhigen, bis er sich endlich ganz ermattet in den Sessel wirft. "Was
ist begegnet!" ruft man aus "Ist sie krank? Ist jemand
gestorben?" "Lest! lest!" ruft d'Orville, "dort
liegt's auf der Erde." Die Depesche wird aufgehoben, man liest, man
ruft: "Sie kommt nicht!" Der
große Schreck hatte auf einen größern vorbereitet; - aber sie war
doch wohl! - war ihr nichts begegnet! - Niemand von der Familie hatte
Schaden genommen, Hoffnung blieb auf den Abend. André,
der indessen immerfort musiziert hatte, kam doch endlich auch herbei
gelaufen, tröstete und suchte sich zu trösten. Pfarrer Ewald und seine
Gattin traten gleichfalls charakteristisch ein, mit Verdruß und
Verstand, mit unwilligem Entbehren und gemäßigtem Zurechtlegen. Alles
ging aber noch bunt durcheinander, bis der musterhaft ruhige Onkel
Bernard endlich herankommt, ein gutes Frühstück, ein löblich
Mittagsfest erwartend, und der einzige ist, der die Sache aus dem
rechten Gesichtspunkte ansieht, beschwichtigende, vernünftige Reden äußert
und alles ins gleiche bringt, völlig wie in der griechischen Tragödie
ein Gott die Verworrenheiten der größten Helden mit wenigen Worten
aufzulösen weiß. Dies
alles ward während eines Teiles der Nacht mit laufender Feder
niedergeschrieben und einem Boten übergeben, der am nächsten Morgen
Punkt zehn Uhr mit der Depesche in Offenbach einzutreffen unterrichtet
war. Den
hellsten Morgen erblickend, wacht' ich auf, mit Vorsatz und Einrichtung,
genau mittags gleichfalls in Offenbach anzulangen. Ich
ward empfangen mit dem wunderliebsten Charivari von Entgegnungen; das
gestörte Fest verlautete kaum, sie schalten und schimpften, daß ich
sie so gut getroffen hätte; die Dienerschaft war zufrieden, mit der
Herrschaft auf gleichem Theater aufgetreten zu sein; nur die Kinder, als
die entschiedensten unbestechbarsten Realisten, versicherten hartnäckig:
so hätten sie nicht gesprochen und es sei überhaupt alles ganz anders
gewesen, als wie es hier geschrieben stünde. Ich beschwichtigte sie mit
einigen Vorgaben des Nachtisches, und sie hatten mich wie immer lieb.
Ein fröhliches Mittagsmahl, eine Mäßigung aller Feierlichkeiten gab
uns die Stimmung, Lili ohne Prunk, aber vielleicht um desto lieblicher
zu empfangen. Sie kam und ward von heitern, ja lustigen Gesichtern
bewillkommt, beinah betroffen, daß ihr Außenbleiben so viel Heiterkeit
erlaube. Man erzählte ihr alles, man trug ihr alles vor und sie, nach
ihrer lieben und süßen Art, dankte mir, wie sie allein nur konnte. Es
bedurfte keines sonderlichen Scharfsinns, um zu bemerken, daß ihr
Ausbleiben von dem ihr gewidmeten Feste nicht zufällig, sondern durch
Hin- und Herreden über unser Verhältnis verursacht war. Indessen hatte
dies weder auf unsre Gesinnungen noch auf unser Betragen den mindesten
Einfluß. Ein
vielfacher geselliger Zudrang aus der Stadt konnte in dieser Jahrszeit
nicht fehlen. Oft kam ich nur spät des Abends zur Gesellschaft, und
fand sie dem Scheine nach teilnehmend, und da ich nur oft auf wenige
Stunden erschien, so mocht' ich ihr gern in irgend etwas nützlich sein,
indem ich ihr Größeres oder Kleineres besorgt hatte, oder irgend einen
Auftrag zu übernehmen kam. Und es ist wohl diese Dienstschaft das
Erfreulichste, was einem Menschen begegnen kann; wie uns die alten
Ritterromane dergleichen zwar auf eine dunkle aber kräftige Weise zu überliefern
verstehen. Daß sie mich beherrsche, war nicht zu verbergen, und sie
durfte sich diesen Stolz gar wohl erlauben; hier triumphieren Überwinder
und Überwundene, und beide behagen sich in gleichem Stolze. Dies
mein wiederholtes, oft nur kurzes Einwirken war aber immer desto kräftiger.
Johann André hatte immer Musikvorrat; auch ich brachte fremdes und
eignes Neue; poetische und musikalische Blüten regneten herab. Es war
eine durchaus glänzende Zeit; eine gewisse Exaltation waltete in der
Gesellschaft, man traf niemals auf nüchterne Momente. Ganz ohne Frage
teilte sich dies den übrigen aus unserm Verhältnisse mit. Denn wo
Neigung und Leidenschaft in ihrer eignen kühnen Natur hervortreten,
geben sie verschüchterten Gemütern Mut, die nunmehr nicht begreifen,
warum sie ihre gleichen Rechte verheimlichen sollten. Daher gewahrte man
mehr oder weniger versteckte Verhältnisse, die sich nun mehr ohne Scheu
durchschlangen. Andere, die sich nicht gut bekennen ließen, schlichen
doch behaglich unter der Decke mit durch. Konnt'
ich denn auch wegen vermannigfaltigter Geschäfte die Tage dort draußen
bei ihr nicht zubringen, so gaben die heiteren Nächte Gelegenheit zu
verlängertem Zusammensein im Freien. Liebende Seelen werden
nachstehendes Ereignis mit Wohlgefallen aufnehmen. Es
war ein Zustand, von welchem geschrieben steht: "Ich schlafe, aber
mein Herz wacht"; die hellen wie die dunklen Stunden waren einander
gleich, das Licht des Tages konnte das Licht der Liebe nicht überscheinen,
und die Nacht wurde durch den Glanz der Neigung zum hellsten Tage. Wir
waren beim klarsten Sternhimmel bis spät in der freien Gegend umher
spaziert, und nachdem ich sie und die Gesellschaft von Türe zu Türe
nach Hause begleitet und von ihr zuletzt Abschied genommen hatte, fühlte
ich mir so wenig Schlaf, daß ich eine frische Spazierwanderung
anzutreten nicht säumte. Ich ging die Landstraße nach Frankfurt zu,
mich meinen Gedanken und Hoffnungen zu überlassen; ich setzte mich auf
eine Bank, in der reinsten Nachtstille, unter den blendenden
Sternhimmel, mir selbst und ihr anzugehören. Bemerkenswert
schien mir ein schwer zu erklärender Ton, ganz nahe bei mir; es war
kein Rascheln, kein Rauschen, und bei näherer Aufmerksamkeit entdeckte
ich, daß es unter der Erde und das Arbeiten von kleinem Getier sei. Es
mochten Igel oder Wieseln sein, oder was in solcher Stunde dergleichen
Geschäft vornimmt. Ich
war darauf weiter nach der Stadt zu gegangen und an den Röderberg
gelangt, wo ich die Stufen, welche nach den Weingärten hinaufführen,
an ihrem kalkweißen Scheine erkennen konnte. Ich stieg hinauf, setzte
mich nieder und schlief ein. Als
ich wieder aufwachte, hatte die Dämmerung sich schon verbreitet, ich
sah mich gegen dem hohen Wall über, welcher in früheren Zeiten als
Schutzwehr wider die hüben stehenden Berge aufgerichtet war.
Sachsenhausen lag vor mir, leichte Nebel deuteten den Weg des Flusses
an; es war frisch, mir willkommen. Da
verharrt' ich, bis die Sonne nach und nach hinter mir aufgehend das
Gegenüber erleuchtete. Es war die Gegend, wo ich die Geliebte wieder
sehen sollte, und ich kehrte langsam in das Paradies zurück, das sie,
die noch Schlafende, umgab. Je mehr aber, um des wachsenden Geschäftskreises
willen, den ich aus Liebe zu ihr zu erweitern und zu beherrschen
trachtete, meine Besuche in Offenbach sparsamer werden und dadurch eine
gewisse peinliche Verlegenheit hervorbringen mußten, so ließ sich gar
wohl bemerken, daß man eigentlich um der Zukunft willen das Gegenwärtige
hintansetze und verliere. Wie
nun meine Aussichten sich nach und nach verbesserten, hielt ich sie für
bedeutender, als sie wirklich waren, und dachte um so mehr auf eine
baldige Entscheidung, als ein so öffentliches Verhältnis nicht länger
ohne Mißbehagen fortzuführen war. Und wie es in solchen Fällen zu
gehen pflegt, sprachen wir es nicht ausdrücklich gegen einander aus;
aber das Gefühl eines wechselseitigen unbedingten Behagens, die volle
Überzeugung, eine Trennung sei unmöglich, das ineinander gleichmäßig
gesetzte Vertrauen, das alles brachte einen solchen Ernst hervor, daß
ich, der ich mir fest vorgenommen hatte, kein schleppendes Verhältnis
wieder anzuknüpfen, und mich doch in dieses, ohne Sicherheit eines günstigen
Erfolges, wieder verwickelt fand, wirklich von einem Stumpfsinn befangen
war, von dem ich mich zu retten mich immer mehr in gleichgültige
weltliche Geschäfte verwickelte, aus denen ich doch auch nur wieder
Vorteil und Zufriedenheit an der Hand der Geliebten zu gewinnen hoffen
durfte. In
diesem wunderlichen Zustande, dergleichen doch auch mancher peinlich
empfunden haben mag, kam uns eine Hausfreundin zu Hülfe, welche die sämtlichen
Bezüge der Personen und Zustände sehr wohl durchsah. Man nannte sie
Demoiselle Delph, sie stand mit ihrer ältern Schwester einem kleinen
Handelshaus in Heidelberg vor und war der größern Frankfurter
Wechselhandlung bei verschiedenen Vorfällen vielen Dank schuldig
geworden. Sie kannte und liebte Lili von Jugend auf; es war eine eigne
Person, ernsten männlichen Ansehns und gleichen derben, hastigen
Schrittes vor sich hin. Sie hatte sich in die Welt besonders zu fügen
Ursache gehabt und kannte sie daher wenigstens in gewissem Sinne. Man
konnte sie nicht intrigant nennen, sie konnte den Verhältnissen lange
zusehen und ihre Absichten stille mit sich forttragen; dann aber hatte
sie die Gabe, die Gelegenheit zu ersehen, und wenn sie die Gesinnungen
der Personen zwischen Zweifel und Entschluß schwanken sah, wenn alles
auf Entschiedenheit ankam, so wußte sie eine solche Kraft der
Charaktertüchtigkeit einzusetzen, daß es ihr nicht leicht mißlang,
ihr Vorhaben auszuführen. Eigentlich hatte sie keine egoistischen
Zwecke; etwas getan, etwas vollbracht, besonders eine Heirat gestiftet
zu haben, war ihr schon Belohnung. Unsern Zustand hatte sie längst
durchblickt, bei wiederholtem Hiersein durchforscht, so daß sie sich
endlich überzeugte, diese Neigung sei zu begünstigen, diese Vorsätze,
redlich aber nicht genugsam verfolgt und angegriffen, müßten unterstützt
und dieser kleine Roman fördersamst abgeschlossen werden. Seit
vielen Jahren hatte sie das Vertrauen von Lilis Mutter; in meinem Hause
durch mich eingeführt, hatte sie sich den Eltern angenehm zu machen
gewußt; denn gerade dieses barsche Wesen ist in einer Reichsstadt nicht
widerwärtig und, mit Verstand im Hintergrunde, sogar willkommen. Sie
kannte sehr wohl unsre Wünsche, unsre Hoffnungen, ihre Lust zu wirken
sah darin einen Auftrag; kurz, sie unterhandelte mit den Eltern. Wie sie
es begonnen, wie sie die Schwierigkeiten, die sich ihr entgegen stellen
mochten, beseitigt, - genug, sie tritt eines Abends zu uns und bringt
die Einwilligung. "Gebt euch die Hände!" rief sie, mit ihrem
pathetisch gebieterischen Wesen. Ich stand gegen Lili über und reichte
meine Hand dar, sie legte die ihre, zwar nicht zaudernd, aber doch
langsam, hinein, nach einem tiefen Atemholen fielen wir einander lebhaft
in die Arme. Es
war ein seltsamer Beschluß des hohen über uns Waltenden, daß ich in
dem Verlaufe meines wundersamen Lebensganges doch auch erfahren sollte,
wie es einem Bräutigam zu Mute sei. Ich
darf wohl sagen, daß es für einen gesitteten Mann die angenehmste
aller Erinnerungen sei; es ist erfreulich, sich jene Gefühle zu
wiederholen, die sich schwer aussprechen und kaum erklären lassen. Der
vorhergehende Zustand ist durchaus verändert; die schroffsten Gegensätze
sind gehoben, der hartnäckigste Zwiespalt geschlichtet; die
vordringliche Natur, die ewig warnende Vernunft, die tyrannisierenden
Triebe, das verständige Gesetz, welche sonst in immerwährendem Zwist
uns bestritten, alle diese treten nunmehr in freundlicher Einigkeit
heran, und bei allgemein gefeiertem frommem Feste wird das Verbotene
gefordert und das Verpönte zur unerläßlichen Pflicht erhoben. Mit
sittlichem Beifall aber wird man vernehmen, daß von dem Augenblick an
eine gewisse Sinnesveränderung in mir vorging; war sie mir bisher schön,
anmutig, anziehend vorgekommen, so erschien sie mir nun als würdig und
bedeutend. Sie war eine doppelte Person, ihre Anmut und Liebenswürdigkeit
gehörten mein, das fühlt' ich wie sonst, aber der Wert ihres
Charakters, die Sicherheit in sich selbst, ihre Zuverlässigkeit in
allem, das blieb ihr eigen; ich schaute es, ich durchblickte es und
freute mich dessen als eines Kapitals, von dem ich zeitlebens die Zinsen
mitzugenießen hätte. Es
ist schon längst mit Grund und Bedeutung ausgesprochen: auf dem Gipfel
der Zustände hält man sich nicht lange. Die ganz eigentlich durch
Demoiselle Delph eroberte Zustimmung beiderseitiger Eltern ward nunmehr
als obwaltend anerkannt, stillschweigend und ohne weitere Förmlichkeit.
Denn sobald etwas Ideelles, wie man ein solches Verlöbnis wirklich
nennen kann, in die Wirklichkeit eintritt, so entsteht, wenn man völlig
abgeschlossen zu haben glaubt, eine Krise. Die Außenwelt ist durchaus
unbarmherzig, und sie hat recht, denn sie muß sich ein für allemal
selbst behaupten; die Zuversicht der Leidenschaft ist groß, aber wir
sehen sie doch gar oft an dem ihr entgegenstehenden Wirklichen
scheitern. Junge Gatten, die, besonders in der späteren Zeit, mit nicht
genügsamen Gütern versehen, in diese Zustände sich einlassen, mögen
ja sich keine Honigmonde versprechen; unmittelbar droht ihnen eine Welt
mit unverträglichen Forderungen, welche, nicht befriedigt, ein junges
Ehepaar absurd erscheinen lassen. Die
Unzulänglichkeit der Mittel, die ich zur Erreichung meines Zweckes mit
Ernst ergriffen hatte, konnte ich früher nicht gewahr werden, weil sie
bis auf einen gewissen Punkt zugereicht hätten; nun der Zweck näher
heranrückte, wollte es hüben und drüben nicht vollkommen passen. Der
Trugschluß, den die Leidenschaft so bequem findet, trat nun in seiner völligen
Inkongruenz nach und nach hervor. Mit einiger Nüchternheit mußte mein
Haus, meine häusliche Lage in ihrem ganz Besondern betrachtet werden.
Das Bewußtsein, das Ganze sei auf eine Schwiegertochter eingerichtet,
lag freilich zu Grunde; aber auf ein Frauenzimmer welcher Art war dabei
gerechnet? Wir
haben die Mäßige, Liebe, Verständige, Schöne, Tüchtige, sich immer
Gleiche, Neigungsvolle und Leidenschaftlose zu Ende des dritten Bandes
kennen lernen; sie war der passende Schlußstein zu einem schon
aufgemauerten zugerundeten Gewölbe, aber hier hatte man bei ruhiger
unbefangener Betrachtung sich nicht leugnen können, daß, um diese neue
Geworbene in solche Funktion gleichfalls einzusetzen, man ein neues Gewölbe
hätte zurichten müssen. Indessen
war mir dies noch nicht deutlich geworden und ihr ebensowenig.
Betrachtete ich nun aber mich in meinem Hause, und gedacht' ich sie
hereinzuführen, so schien sie mir nicht zu passen, wie ich ja schon in
ihren Zirkeln zu erscheinen, um gegen die Tags- und Modemenschen nicht
abzustechen, meine Kleidung von Zeit zu Zeit verändern, ja wieder verändern
mußte. Das konnte aber doch mit einer häuslichen Einrichtung nicht
geschehen, wo in einem neugebauten stattlichen Bürgerhause ein nunmehr
veralteter Prunk gleichsam rückwärts die Einrichtung geleitet hatte. So
hatte sich auch, selbst nach dieser gewonnenen Einwilligung, kein Verhältnis
der Eltern untereinander bilden und einleiten können; kein
Familienzusammenhang, andere Religionsgebräuche, andere Sitten! und
wollte die Liebenswürdige einigermaßen ihre Lebensweise fortsetzen, so
fand sie in dem anständig geräumigen Hause keine Gelegenheit, keinen
Raum. Hatte
ich bisher von allem diesen abgesehen, so waren mir zur Beruhigung und
Stärkung von außen her schöne Ansichten eröffnet, zu irgend einer
gedeihlichen Anstellung zu gelangen. Ein rühriger Geist faßt überall
Fuß; Fähigkeiten, Talente erregen Vertrauen; jedermann denkt, es komme
ja nur auf eine veränderte Richtung an. Zudringliche Jugend findet
Gunst, dem Genie traut man alles zu, da es doch nur ein Gewisses vermag. Das
deutsche geistig-literarische Terrain war damals ganz eigentlich als ein
Neubruch anzusehen, es fanden sich unter den Geschäftsleuten kluge
Menschen, die für den neu aufzuwühlenden Boden tüchtige Anbauer und
kluge Haushälter wünschten. Selbst die angesehne wohlgegründete
Freimaurerloge, mit deren vornehmsten Gliedern ich eben durch mein Verhältnis
zu Lili bekannt geworden war, wußte auf schickliche Weise meine Annäherung
einzuleiten; ich aber, aus einem Unabhängigkeitsgefühl, welches mir später
als Verrücktheit erschien, lehnte jede nähere Verknüpfung ab, nicht
gewahrend, daß diese Männer, wenn schon in höherem Sinne verbunden,
mir doch bei meinen den ihrigen so nah verwandten Zwecken hätten förderlich
sein müssen. Ich gehe zu dem Besondersten zurück. In
solchen Städten wie Frankfurt gibt es kollektive Stellen,
Residentschaften, Agentschaften, die sich durch Tätigkeit grenzenlos
erweitern lassen. Dergleichen bot sich auch mir dar, beim ersten Anblick
vorteilhaft und ehrenhaft zugleich. Man setzte voraus, daß ich für sie
passe, es wäre auch gegangen unter der Bedingung jener geschilderten
Kanzleidreiheit. Man verschweigt sich die Zweifel, man teilt sich das Günstige
mit; man überwindet jedes Schwanken durch gewaltsame Tätigkeit; es
kommt dadurch etwas Unwahres in den Zustand, ohne daß die Leidenschaft
deshalb gemildert werde. In
Friedenszeiten ist für die Menge wohl kein erfreulicheres Lesen als die
öffentlichen Blätter, welche uns von den neusten Weltereignissen
eilige Nachricht geben; der ruhige wohlbehaltene Bürger übt daran auf
eine unschuldige Weise den Parteigeist, den wir in unsrer Beschränktheit
weder los werden können noch sollen. Jeder behagliche Mensch erschafft
sich alsdann wie bei einer Wette, ein willkürliches Interesse,
unwesentlichen Gewinn und Verlust, und nimmt, wie im Theater, einen sehr
lebhaften, jedoch nur imaginären Teil an fremdem Glück und Unglück.
Diese Teilnahme erscheint oft willkürlich, jedoch beruht sie auf
sittlichen Gründen. Denn bald geben wir löblichen Absichten einen
verdienten Beifall, bald aber, von glänzendem Erfolg hingerissen,
wenden wir uns zu demjenigen, dessen Vorsätze wir würden getadelt
haben. Zu allen diesen verschaffte uns jene Zeit reichlichen Stoff. Friedrich
der Zweite, auf seiner Kraft ruhend, schien noch immer das Schicksal
Europens und der Welt abzuwiegen; Katharina, eine große Frau, die sich
selbst des Throns würdig gehalten, gab tüchtigen hochbegünstigten Männern
einen großen Spielraum, der Herrscherin Macht immer weiter
auszubreiten, und da dies über die Türken geschah, denen wir die
Verachtung, mit welcher sie auf uns herniederblicken, reichlich zu
vergelten gewohnt sind, so schien es, als wenn keine Menschen
aufgeopfert würden, indem diese Unchristen zu Tausenden fielen. Die
brennende Flotte in dem Hafen von Tschesme verursachte ein allgemeines
Freudenfest über die gebildete Welt, und jedermann nahm teil an dem
siegerischen Übermut, als man, um ein wahrhaftes Bild jener großen
Begebenheit übrig zu behalten, zum Behuf eines künstlerischen
Studiums, auf der Reede von Livorno sogar ein Kriegsschiff in die Luft
sprengte. Nicht lange darauf ergreift ein junger nordischer König,
gleichfalls aus eigner Gewalt, die Zügel des Regiments. Die
Aristokraten, die er unterdrückt, werden nicht bedauert, denn die
Aristokratie überhaupt hatte keine Gunst bei dem Publikum, weil sie
ihrer Natur nach im stillen wirkt und um desto sicherer ist, je weniger
sie von sich reden macht, und in diesem Falle dachte man von dem jungen
König um desto besser, weil er, um dem obersten Stande das
Gleichgewicht zu halten, die Unteren begünstigen und an sich knüpfen
mußte. Noch
lebhafter aber war die Welt interessiert, als ein ganzes Volk sich zu
befreien Miene machte. Schon früher hatte man demselben Schauspiel im
kleinen gern zugesehn; Korsika war lange der Punkt gewesen, auf den sich
aller Augen richteten; Paoli, als er, sein patriotisches Vorhaben nicht
weiter durchzusetzen imstande, durch Deutschland nach England ging, zog
aller Herzen an sich; es war ein schöner, schlanker, blonder Mann voll
Anmut und Freundlichkeit; ich sah ihn in dem Bethmannischen Hause, wo er
kurze Zeit verweilte und den Neugierigen, die sich zu ihm drängten, mit
heiterer Gefälligkeit begegnete. Nun aber sollten sich in dem
entfernteren Weltteil ähnliche Auftritte wiederholen; man wünschte den
Amerikanern alles Glück, und die Namen Franklin und Washington fingen
an, am politischen und kriegerischen Himmel zu glänzen und zu funkeln.
Manches zu Erleichterung der Menschheit war geschehen, und als nun gar
ein neuer wohlwollender König von Frankreich die besten Absichten
zeigte, sich selbst zu Beseitigung so mancher Mißbräuche und zu den
edelsten Zwecken zu beschränken, eine regelmäßig auslangende
Staatswirtschaft einzuführen, sich aller willkürlichen Gewalt zu
begeben, und durch Ordnung wie durch Recht allein zu herrschen; so
verbreitete sich die heiterste Hoffnung über die ganze Welt, und die
zutrauliche Jugend glaubte sich und ihrem ganzen Zeitgeschlechte eine
schöne, ja herrliche Zukunft versprechen zu dürfen. An
allen diesen Ereignissen nahm ich jedoch nur insofern teil, als sie die
größere Gesellschaft interessierten, ich selbst und mein engerer Kreis
befaßten uns nicht mit Zeitungen und Neuigkeiten; uns war darum zu tun,
den Menschen kennen zu lernen, die Menschen überhaupt ließen wir gern
gewähren. Der
beruhigte Zustand des deutschen Vaterlandes, in welchem sich auch meine
Vaterstadt schon über hundert Jahre eingefügt sah, hatte sich trotz
manchen Kriegen und Erschütterungen in seiner Gestalt vollkommen
erhalten. Einem gewissen Behagen günstig war, daß von dem Höchsten
bis zu dem Tiefsten, von dem Kaiser bis zu dem Juden herunter die
mannigfaltigste Abstufung alle Persönlichkeiten, anstatt sie zu
trennen, zu verbinden schien. Wenn dem Kaiser sich Könige
subordinierten, so gab diesen ihr Wahlrecht und die dabei erworbenen und
behaupteten Gerechtsame ein entschiedenes Gleichgewicht. Nun aber war
der hohe Adel in die erste königliche Reihe verschränkt, so daß er,
seiner bedeutenden Vorrechte gedenkend, sich ebenbürtig mit dem Höchsten
achten konnte, ja im gewissen Sinne noch höher, indem ja die
geistlichen Kurfürsten allen andern vorangingen und als Sprößlinge
der Hierarchie einen unangefochtenen ehrwürdigen Raum behaupteten. Gedenke
man nun der außerordentlichen Vorteile, welche diese altgegründeten
Familien zugleich und außerdem in Stiftern, Ritterorden, Ministerien,
Vereinigungen und Verbrüderungen genossen haben, so wird man leicht
denken können, daß diese große Masse von bedeutenden Menschen, welche
sich zugleich als subordiniert und als koordiniert fühlten, in höchster
Zufriedenheit und geregelter Welttätigkeit ihre Tage zubrachten, und
ein gleiches Behagen ihren Nachkommen ohne besondere Mühe vorbereiteten
und überließen. Auch fehlte es dieser Klasse nicht an geistiger
Kultur; denn schon seit hundert Jahren hatte sich erst die hohe Militär-
und Geschäftsbildung bedeutend hervorgetan und sich des ganzen
vornehmen sowie des diplomatischen Kreises bemächtigt, zugleich aber
auch durch Literatur und Philosophie die Geister zu gewinnen und auf
einen hohen der Gegenwart nicht allzu günstigen Standpunkt zu versetzen
gewußt. In
Deutschland war es noch kaum jemand eingefallen, jene ungeheure
privilegierte Masse zu beneiden oder ihr die glücklichen Weltvorzüge
zu mißgönnen. Der Mittelstand hatte sich ungestört dem Handel und den
Wissenschaften gewidmet und hatte freilich dadurch, sowie durch die
nahverwandte Technik, sich zu einem bedeutenden Gegengewicht erhoben;
ganz oder halb freie Städte begünstigten diese Tätigkeit, so wie die
Menschen darin ein gewisses ruhiges Behagen empfanden. Wer seinen
Reichtum vermehrt, seine geistige Tätigkeit besonders im juristischen
und Staatsfache gesteigert sah, der konnte sich überall eines
bedeutenden Einflusses erfreuen. Setzte man doch bei den höchsten
Reichsgerichten, und auch wohl sonst, der adligen Bank eine
Gelehrtenbank gegenüber; die freiere Übersicht der einen mochte sich
mit der tieferen Einsicht der andern gerne befreunden, und man hatte im
Leben durchaus keine Spur von Rivalität; der Adel war sicher in seinen
unerreichbaren durch die Zeit geheiligten Vorrechten, und der Bürger
hielt es unter seiner Würde, durch eine seinem Namen vorgesetzte
Partikel nach dem Schein derselben zu streben. Der Handelsmann, der
Techniker hatte genug zu tun, um mit den schneller vorschreitenden
Nationen einigermaßen zu wetteifern. Wenn man die gewöhnlichen
Schwankungen des Tages nicht beachten will, so durfte man wohl sagen, es
war im ganzen eine Zeit eines reinen Bestrebens, wie sie früher nicht
erschienen, noch auch in der Folge wegen äußerer und innerer
Steigerungen sich lange erhalten konnte. In
dieser Zeit war meine Stellung gegen die oberen Stände sehr günstig.
Wenn auch im "Werther" die Unannehmlichkeiten an der Grenze
zweier bestimmter Verhältnisse mit Ungeduld ausgesprochen sind, so ließ
man das in Betracht der übrigen Leidenschaftlichkeiten des Buches
gelten, indem jedermann wohl fühlte, daß es hier auf keine
unmittelbare Wirkung abgesehen sei. Durch
"Götz von Berlichingen" aber war ich gegen die obern Stände
sehr gut gestellt; was auch an Schicklichkeiten bisheriger Literatur
mochte verletzt sein, so war doch auf eine kenntnisreiche und tüchtige
Weise das altdeutsche Verhältnis, den unverletzbaren Kaiser an der
Spitze, mit manchen andern Stufen und ein Ritter dargestellt, der im
allgemein gesetzlosen Zustande als einzelner Privatmann, wo nicht
gesetzlich, doch rechtlich zu handeln dachte und dadurch in sehr
schlimme Lagen gerät. Dieser Komplex aber war nicht aus der Luft
gegriffen, sondern durchaus heiter lebendig und deshalb auch wohl hie
und da ein wenig modern, aber doch immer in dem Sinne vorgeführt, wie
der wackere tüchtige Mann sich selbst, und also wohl zu leidlichen
Gunsten, in eigner Erzählung dargestellt hatte. Die
Familie blühte noch, ihr Verhältnis zu der fränkischen Ritterschaft
war in ihrer Integrität geblieben, wenngleich diese Beziehungen, wie
manches andere jener Zeit, bleicher und unwirksamer mochten geworden
sein. Nun
erhielt auf einmal das Flüßlein Jagst, die Burg Jagsthausen eine
poetische Bedeutung; sie wurden besucht, sowie das Rathaus zu Heilbronn. Man
wußte, daß ich noch andere Punkte jener Zeitgeschichte mir in den Sinn
genommen hatte, und manche Familie, die sich aus jener Zeit noch tüchtig
herschrieb, hatte die Aussicht, ihren Ältervater gleichsam ans
Tageslicht hervorgezogen zu sehen. Es
entsteht ein eigenes allgemeines Behagen, wenn man einer Nation ihre
Geschichte auf eine geistreiche Weise wieder zur Erinnerung bringt; sie
erfreut sich der Tugenden ihrer Vorfahren und belächelt die Mängel
derselben, welche sie längst überwunden zu haben glaubt. Teilnahme und
Beifall kann daher einer solchen Darstellung nicht fehlen, und ich hatte
mich in diesem Sinne einer vielfachen Wirkung zu erfreuen. Merkwürdig
möchte es jedoch sein, daß unter den zahlreichen Annäherungen und in
der Zahl der jungen Leute, die sich an mich anschlossen, kein Edelmann
war; aber dagegen waren manche, die, schon in die Dreißig gelangt, mich
aufsuchten, besuchten und in deren Wollen und Bestreben eine freudige
Hoffnung sich durchzog, sich in vaterländischem und allgemein
menschlicherem Sinne ernstlich auszubilden. Zu
dieser Zeit war denn überhaupt die Richtung nach der Epoche zwischen
dem fünfzehnten und sechzehnten Jahrhundert eröffnet und lebendig. Die
Werke Ulrichs von Hutten kamen mir in die Hände, und es schien
wundersam genug, daß in unsern neuern Tagen sich das Ähnliche, was
dort hervorgetreten, hier gleichfalls wieder zu manifestieren schien. Folgender
Brief Ulrichs von Hutten an Billibald Pirkheimer dürfte hier eine
schickliche Stelle finden. "Was
uns das Glück gegeben, nimmt es meist wieder weg und das nicht allein,
auch alles andere, was sich an den Menschen von außen anschließt,
sehen wir dem Zufall unterworfen. Nun aber streb' ich nach Ehren, die
ich ohne Mißgunst zu erlangen wünschte, ja welcher Weise es auch sei;
denn es besitzt mich ein heftiger Durst nach dem Ruhm, daß ich so viel
als möglich geadelt zu sein wünschte. Es würde schlecht mit mir
stehen, teurer Billibald, wenn ich mich, schon jetzt für einen Edelmann
hielte, ob ich gleich in diesem Rang, dieser Familie, von solchen Eltern
geboren worden, wenn ich mich nicht durch eigenes Bestreben geadelt hätte.
Ein so großes Werk hab ich im Sinne! ich denke höher! nicht etwa daß
mich in einen vornehmeren, glänzendern Stand versetzt sehen möchte,
sondern anderwärts möcht ich eine Quelle suchen, aus der ich einen
besondern Adel schöpfte und nicht unter die wahnhaften Edelleute gezählt
würde, zufrieden mit dem, was ich von meinen Voreltern empfangen,
sondern daß ich zu jenen Gütern noch etwas selbst hinzugefügt hätte,
was von mir auf meine Nachkommen hinüberginge. Daher
ich denn mit meinen Studien und Bemühungen mich dahin wende und
bestrebe, entgegengesetzt in Meinung denenjenigen, die alles dasjenige,
was ist, für genug achten; denn mir ist nichts dergleichen genug, wie
ich dir denn meinen Ehrgeiz dieser Art bekannt habe. Und so gesteh ich
denn, daß ich diejenigen nicht beneide, die, von den untersten Ständen
ausgegangen, über meine Zustände hinausgeschritten sind; und hier bin
ich mit den Männern meines Standes keineswegs übereindenkend, welche
diejenigen, die, eines niedrigen Ursprungs, sich durch Tüchtigkeit
hervorgetan haben, zu schimpfen pflegen. Denn mit vollkommenem Rechte
werden diejenigen uns vorgezogen, welche den Stoff des Ruhms, den wir
selbst vernachlässigt, für sich ergriffen und in Besitz genommen; sie
mögen Söhne von Walkern oder Gerbern sein, haben sie doch mit mehr
Schwierigkeit, als wir gefunden hätten, dergleichen zu erlangen gewußt. Nicht
allein ein Tor ist der Ungelehrte zu nennen, welcher denjenigen
beneidet, der durch Kenntnisse sich hervorgetan, sondern unter die
Elenden, ja unter die Elendesten zu zählen; und an diesem Fehler
kranket unser Adel ganz besonders, daß er solche Zieraten quer ansehe.
Denn was, bei Gott! heißt es, den beneiden, der das besitzt, was wir
vernachlässigten? warum haben wir uns der Gesetze nicht befleißigt?
die schöne Gelahrtheit, die besten Künste warum nicht selbst gelernt?
Da sind uns nun Schuster, Walker und Wagner vorgelaufen. Warum haben wir
die Stellung verlassen, warum die freisten Studien den Dienstleuten und,
schändlich für uns! ihrem Schmutz überlassen? Ganz rechtmäßig hat
das Erbteil des Adels, das wir verschmähten, ein jeder Gewandter, Fleißiger
in Besitz nehmen und durch Tätigkeit benutzen können. Wir Elenden! die
dasjenige vernachlässigen, was einen jeden Untersten sich über uns zu
erheben genügt; hören wir doch auf zu beneiden und suchen dasjenige
auch zu erlangen, was, zu unsrer schimpflichen Beschämung, andere sich
anmaßen. Jedes
Verlangen nach Ruhm ist ehrbar, aller Kampf um das Tüchtige lobenswürdig;
mag doch jedem Stand seine eigene Ehre bleiben, ihm eine eigene Zierde
gewährt sein! Jene Ahnenbilder will ich nicht verachten, so wenig als
die wohl ausgestatteten Stammbäume, aber was auch deren Wert sei, ist
nicht unser eigen, wenn wir es nicht durch Verdienste erst eigen machen,
auch kann es nicht bestehen, wenn der Adel nicht Sitten, die ihm
geziemen, annimmt. Vergebens wird ein fetter und beleibter jener Hausväter
die Standbilder seiner Vorfahren dir aufzeigen, indes er selbst untätig
eher einem Klotz ähnlich, als daß er jenen, die ihm mit Tüchtigkeit
voranleuchteten, zu vergleichen wäre. So
viel hab ich dir von meinem Ehrgeiz und meiner Beschaffenheit so weitläufig
als aufrichtig vertrauen wollen." Wenn auch nicht in solchem Flusse
des Zusammenhangs, so hatte ich doch von meinen vornehmeren Freunden und
Bekannten dergleichen tüchtige und kräftige Gesinnungen zu vernehmen,
von welchen der Erfolg sich in einer redlichen Tätigkeit erwies. Es war
zum Credo geworden, man müsse sich einen persönlichen Adel erwerben,
und zeigte sich in jenen schönen Tagen irgend eine Rivalität, so war
es von oben herunter. Wir
andern dagegen hatten, was wir wollten: freien und gebilligten Gebrauch
unsrer von der Natur verliehenen Talente, wie er wohl allenfalls mit
unsern bürgerlichen Verhältnissen bestehen konnte. Denn
meine Vaterstadt hatte darin eine ganz eigene nicht genugsam beachtete
Lage. Wenn die nordischen freien Reichsstädte auf einen ausgebreiteten
Handel, und die südlichern, bei zurücktretenden Handelsverhältnissen,
auf Kunst und Technik gegründet standen, so war in Frankfurt am Main
ein gewisser Komplex zu bemerken, welcher aus Handel, Kapitalvermögen,
Haus- und Grundbesitz, aus Wissen- und Sammlerlust zusammengeflochten
schien. Die lutherische Konfession führte das Regiment, die alte
Gan-Erbschaft, vom Hause Limpurg den Namen führend, das Haus
Frauenstein, mit seinen Anfängen nur ein Klub, bei den Erschütterungen,
durch die untern Stände herbeigeführt, dem Verständigen getreu, der
Jurist, der sonstige Wohlhabende und Wohldenkende, niemand war von der
Magistratur ausgeschlossen; selbst diejenigen Handwerker, welche zu
bedenklicher Zeit an der Ordnung gehalten, waren ratsfähig, wenn auch
nur stationär auf ihrem Platze. Die andern verfassungsmäßigen
Gegengewichte, formelle Einrichtungen und was sich alles an eine solche
Verfassung anschließt, gaben vielen Menschen einen Spielraum zur Tätigkeit,
indem Handel und Technik bei einer glücklich örtlichen Lage, sich
auszubreiten, in keinem Sinne gehindert waren. Der
höhere Adel wirkte für sich unbeneidet und fast unbemerkt; ein zweiter
sich annähernder Stand mußte schon strebsamer sein, und auf alten vermögenden
Familienfundamenten beruhend, suchte er sich durch rechtliche und
Staatsgelehrsamkeit bemerklich zu machen. Die
sogenannten Reformierten bildeten, wie auch an andern Orten die Refugiés,
eine ausgezeichnete Klasse, und selbst wenn sie zu ihrem Gottesdienst in
Bockenheim sonntags in schönen Equipagen hinausfuhren, war es immer
eine Art von Triumph über die Bürgerabteilung, welche berechtigt war,
bei gutem wie bei schlechtem Wetter in die Kirche zu Fuße zu gehen. Die
Katholiken bemerkte man kaum; aber auch sie waren die Vorteile gewahr
geworden, welche die beiden andern Konfessionen sich zugeeignet hatten.
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