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Johann Wolfgang
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Achtzehntes BuchZu
literarischen Angelegenheiten zurückkehrend, muß ich einen Umstand
hervorheben, der auf die deutsche Poesie der damaligen Epoche großen
Einfluß hatte, und besonders zu beachten ist, weil eben diese
Einwirkung in den ganzen Verlauf unsrer Dichtkunst bis zum heutigen Tag
gedauert hat und auch in der Zukunft sich nicht verlieren kann. Die
Deutschen waren von den älteren Zeiten her an den Reim gewöhnt, er
brachte den Vorteil, daß man auf eine sehr naive Weise verfahren und
fast nur die Silben zählen durfte. Achtete man bei fortschreitender
Bildung mehr oder weniger, instinktmäßig, auch auf Sinn und Bedeutung
der Silben, so verdiente man Lob, welches sich manche Dichter anzueignen
wußten. Der Reim zeigte den Abschluß des poetischen Satzes, bei kürzeren
Zeilen waren sogar die kleineren Einschnitte merklich, und ein natürlich
wohlgebildetes Ohr sorgte für Abwechselung und Anmut. Nun aber nahm man
auf einmal den Reim weg, ohne zu bedenken, daß über den Silbenwert
noch nicht entschieden, ja schwer zu entscheiden war. Klopstock ging
voran; wie sehr er sich bemüht und was er geleistet, ist bekannt.
Jedermann fühlte die Unsicherheit der Sache, man wollte sich nicht
gerne wagen, und aufgefordert durch jene Naturtendenz, griff man nach
einer poetischen Prosa. Geßners höchst liebliche Idyllen öffneten
eine unendliche Bahn. Klopstock schrieb den Dialog von "Hermanns
Schlacht" in Prosa, sowie den "Tod Adams". Durch die bürgerlichen
Trauerspiele sowie durch die Dramen bemächtigte sich ein
empfindungsvoller höherer Stil des Theaters, und umgekehrt zog der fünffüßige
Iambus, der sich durch Einfluß der Engländer bei uns verbreitete, die
Poesie zur Prosa herunter; allein die Forderungen an Rhythmus und Reim
konnte man im allgemeinen nicht aufgeben. Ramler, obgleich nach
unsichern Grundsätzen, streng gegen seine eigenen Sachen, konnte nicht
unterlassen, diese Strenge auch gegen fremde Werke geltend zu machen. Er
verwandelte Prosa in Verse, veränderte und verbesserte die Arbeit
anderer, wodurch er sich wenig Dank verdiente und die Sache noch mehr
verwirrte. Am besten aber gelang es denen, die sich des herkömmlichen
Reims mit einer gewissen Beobachtung des Silbenwertes bedienten, und,
durch natürlichen Geschmack geleitet, unausgesprochene und
unentschiedene Gesetze beobachteten, wie z.B. Wieland, der, obgleich
unnachahmlich, eine lange Zeit mäßigern Talenten zum Muster diente.
Unsicher aber blieb die Ausübung auf jeden Fall, und es war keiner,
auch der Besten, der nicht augenblicklich irre geworden wäre. Daher
entstand das Unglück, daß die eigentliche geniale Epoche unsrer Poesie
weniges hervorbrachte, was man in seiner Art korrekt nennen könnte;
denn auch hier war die Zeit strömend, fordernd und tätig, aber nicht
betrachtend und sich selbst genugtuend. Um
jedoch einen Boden zu finden, worauf man poetisch fußen, um ein Element
zu entdecken, in dem man freisinnig atmen könnte, war man einige
Jahrhunderte zurückgegangen, wo sich aus einem chaotischen Zustande
ernste Tüchtigkeiten glänzend hervortaten, und so befreundete man sich
auch mit der Dichtkunst jener Zeiten. Die Minnesänger lagen zu weit von
uns ab; die Sprache hätte man erst studieren müssen, und das war nicht
unsre Sache: wir wollten leben und nicht lernen. Hans
Sachs, der wirklich meisterliche Dichter, lag uns am nächsten; ein
wahres Talent, freilich nicht wie jene Ritter und Hofmänner, sondern
ein schlichter Bürger, wie wir uns auch zu sein rühmten. Ein
didaktischer Realism sagte uns zu, und wir benutzten den leichten
Rhythmus, den sich bequem anbietenden Reim bei manchen Gelegenheiten. Es
schien diese Art so bequem zur Poesie des Tages, und deren bedurften wir
jede Stunde. Wenn
nun bedeutende Werke, welche eine jahrelange, ja eine lebenslängliche
Aufmerksamkeit und Arbeit erforderten, auf so verwegenem Grunde, bei
leichtsinnigen Anlässen mehr oder weniger aufgebaut wurden; so kann man
sich denken, wie freventlich mitunter andere vorübergehende
Produktionen sich gestalteten, z.B. die poetischen Episteln, Parabeln
und Invektiven aller Formen, womit wir fortfuhren uns innerlich zu
bekriegen und nach außen Händel zu suchen. Außer
dem schon Abgedruckten ist nur weniges davon übrig; es mag erhalten
bleiben; kurze Notizen mögen Ursprung und Absicht denkenden Männern
etwas deutlicher enthüllen. Tiefer
Eindringende, denen diese Dinge künftig zu Gesicht kommen, werden doch
geneigt bemerken, daß allen solchen Exzentrizitäten ein redliches
Bestreben zu Grunde lag. Aufrichtiges Wollen streitet mit Anmaßung,
Natur gegen Herkömmlichkeiten, Talent gegen Formen, Genie mit sich
selbst, Kraft gegen Weichlichkeit, unentwickeltes Tüchtiges gegen
entfaltete Mittelmäßigkeit, so daß man jenes ganze Betragen als ein
Vorpostengefecht ansehen kann, das auf eine Kriegserklärung folgt und
eine gewaltsame Fehde verkündigt. Denn genau besehen, so ist der Kampf
in diesen fünfzig Jahren noch nicht ausgekämpft, er setzt sich noch
immer fort, nur in einer höhern Region.
Ich hatte, nach Anleitung eines ältern deutschen Puppen- und
Budenspiels, ein tolles Fratzenwesen ersonnen, welches den Titel
"Hanswursts Hochzeit" führen sollte. Das Schema war
folgendes: Hanswurst, ein reicher elternloser Bauerssohn, welcher soeben
mündig geworden, will ein reiches Mädchen, namens Ursel Blandine,
heiraten. Sein Vormund, Kilian Brustfleck, und ihre Mutter Ursel etc.
sind es höchlich zufrieden. Ihr vieljähriger Plan, ihre höchsten Wünsche
werden dadurch endlich erreicht und erfüllt. Hier findet sich nicht das
mindeste Hindernis, und das Ganze beruht eigentlich nur darauf, daß das
Verlangen der jungen Leute, sich zu besitzen, durch die Anstalten der
Hochzeit und dabei vorwaltenden unerläßlichen Umständlichkeiten
hingehalten wird. Als Prologus tritt der Hochzeitbitter auf, hält seine
herkömmliche banale Rede und endiget mit den Reimen: Bei
dem Wirt zur goldnen Laus Da
wird sein der Hochzeitschmaus. Um
dem Vorwurf der verletzten Einheit des Orts zu entgehen, war im
Hintergrunde des Theaters gedachtes Wirtshaus mit seinen Insignien glänzend
zu sehen, aber so, als wenn es, auf einem Zapfen umgedreht, nach allen
vier Seiten könnte vorgestellt werden, wobei sich jedoch die vordern
Kulissen des Theaters schicklich zu verändern hatten. Im ersten Akt
stand die Vorderseite nach der Straße zu, mit den goldnen nach dem
Sonnenmikroskop gearbeiteten Insignien; im zweiten Akt die Seite nach
dem Hausgarten, die dritte nach einem Wäldchen, die vierte nach einem
nahe liegenden See, wodurch denn geweissagt war, daß, in folgenden
Zeiten, es dem Dekorateur geringe Mühe machen werde, einen Wellenschlag
über das ganze Theater bis an das Souffleurloch zu führen. Durch
alles dieses aber ist das eigentliche Interesse des Stücks noch nicht
ausgesprochen; denn der gründliche Scherz ward bis zur Tollheit
gesteigert, daß das sämtliche Personal des Schauspiels aus lauter
deutsch herkömmlichen Schimpf- und Ekelnamen bestand, wodurch der
Charakter der einzelnen sogleich ausgesprochen und das Verhältnis zu
einander gegeben war. Da
wir hoffen dürfen, daß Gegenwärtiges in guter Gesellschaft, auch wohl
im anständigen Familienkreise vorgelesen werde, so dürfen wir nicht
einmal, wie doch auf jedem Theateranschlag Sitte ist, unsre Personen
hier der Reihe nach nennen, noch auch die Stellen, wo sie sich am
klarsten und eminentesten beweisen, hier am Ort aufführen, obgleich auf
dem einfachsten Wege heitere, neckische, unverfängliche Beziehungen und
geistreiche Scherze sich hervortun müßten. Zum
Versuch legen wir ein Blatt bei, unsern Herausgebern die Zulässigkeit
zu beurteilen anheim stellend. Vetter
Schuft hatte das Recht, durch sein Verhältnis zur Familie, zu dem Fest
geladen zu werden; niemand hatte dabei etwas zu erinnern; denn wenn er
auch gleich durchaus im Leben untauglich war, so war er doch da, und
weil er da war, konnte man ihn schicklich nicht verleugnen; auch durfte
man an so einem Festtage sich nicht erinnern, daß man zuweilen
unzufrieden mit ihm gewesen wäre. Mit
Herrn Schurke war es schon eine bedenklichere Sache; er hatte der
Familie wohl genutzt, wenn es ihm gerade auch nutzte; dagegen ihr auch
wieder geschadet, vielleicht zu seinem eignen Vorteil, vielleicht auch
weil er es eben gelegen fand. Die mehr oder minder Klugen stimmten für
seine Zulässigkeit, die wenigen, die ihn wollten ausgeschlossen haben,
wurden überstimmt. Nun
aber war noch eine dritte Person, über die sich schwerer entscheiden
ließ; in der Gesellschaft ein ordentlicher Mensch nicht weniger als
andere, nachgiebig, gefällig und zu mancherlei zu gebrauchen; er hatte
den einzigen Fehler, daß er seinen Namen nicht hören konnte und,
sobald er ihn vernahm, in eine Heldenwut, wie der Norde sie Berserkerwut
benennt, augenblicklich geriet, alles rechts und links totzuschlagen
drohte und in solchem Raptus teils beschädigte, teils beschädigt ward:
wie denn auch der zweite Akt des Stücks durch ihn ein sehr verworrenes
Ende nahm. Hier
konnte nun der Anlaß unmöglich versäumt werden, den räuberischen
Macklot zu züchtigen. Er geht nämlich hausieren mit seiner Macklotur,
und wie er die Anstalten zur Hochzeit gewahr wird, kann er dem Trieb
nicht widerstehen, auch hier zu schmarotzen und auf anderer Leute Kosten
seine ausgehungerten Gedärme zu erquicken. Er meldet sich, Kilian
Brustfleck untersucht seine Ansprüche, muß ihn aber abweisen, denn
alle Gäste, heißt es, seien anerkannte öffentliche Charaktere, woran
der Supplikant doch keinen Anspruch machen könne. Macklot versucht sein
möglichstes, um zu beweisen, daß er ebenso berühmt sei als jene. Da
aber Kilian Brustfleck, als strenger Zeremonienmeister, sich nicht will
bewegen lassen, nimmt sich jener Nichtgenannte, der von seiner
Berserkerwut am Schlusse des zweiten Akts sich wieder erholt hat, des
ihm so nahe verwandten Nachdruckers so nachdrücklich an, daß dieser
unter die übrigen Gäste schließlich aufgenommen wird. Um
diese Zeit meldeten sich die Grafen Stolberg an, die, auf einer
Schweizerreise begriffen, bei uns einsprechen wollten. Ich war durch das
frühste Auftauchen meines Talents im Göttinger Musenalmanach mit ihnen
und sämtlichen jungen Männern, deren Wesen und Wirken bekannt genug
ist, in ein gar freundliches Verhältnis geraten. Zu der damaligen Zeit
hatte man sich ziemlich wunderliche Begriffe von Freundschaft und Liebe
gemacht. Eigentlich war es eine lebhafte Jugend, die sich gegen einander
aufknöpfte und ein talentvolles aber ungebildetes Innere hervorkehrte.
Einen solchen Bezug gegen einander, der freilich wie Vertrauen aussah,
hielt man für Liebe, für wahrhafte Neigung; ich betrog mich darin so
gut wie die andern, und habe davon viele Jahre auf mehr als eine Weise
gelitten. Es ist noch ein Brief von Bürgern aus jener Zeit vorhanden,
woraus zu ersehen ist, daß von sittlich Ästhetischem unter diesen
Gesellen keineswegs die Rede war. Jeder fühlte sich aufgeregt und
glaubte garwohl hiernach handeln und dichten zu dürfen. Die
Gebrüder kamen an, Graf Haugwitz mit ihnen; von mir wurden sie mit
offener Brust empfangen, mit gemütlicher Schicklichkeit. Sie wohnten im
Gasthofe, waren zu Tische jedoch meistens bei uns. Das erste heitere
Zusammensein zeigte sich höchst erfreulich, allein gar bald traten
exzentrische Äußerungen hervor. Zu
meiner Mutter machte sich ein eigenes Verhältnis; sie wußte in ihrer tüchtigen
graden Art sich gleich ins Mittelalter zurückzusetzen, um als Aja bei
irgend einer lombardischen oder byzantinischen Prinzessin angestellt zu
sein. Nicht anders als Frau Aja ward sie genannt, und sie gefiel sich in
dem Scherze und ging so eher in die Phantastereien der Jugend mit ein,
als sie schon in Götz von Berlichingens Hausfrau ihr Ebenbild zu
erblicken glaubte. Doch
hiebei sollte es nicht lange bleiben, denn man hatte nur einige Male
zusammen getafelt, als schon nach ein und der andern genossenen Flasche
Wein der poetische Tyrannenhaß zum Vorschein kam, und man nach dem
Blute solcher Wütriche lechzend sich erwies. Mein Vater schüttelte lächelnd
den Kopf; meine Mutter hatte in ihrem Leben kaum von Tyrannen gehört,
doch erinnerte sie sich in Gottfrieds "Chronik" dergleichen
Unmenschen in Kupfer abgebildet gesehen zu haben: den König Kambyses,
der in Gegenwart des Vaters das Herz des Söhnchens mit dem Pfeil
getroffen zu haben triumphiert, wie ihr solches noch im Gedächtnis
geblieben war. Diese und ähnliche aber immer heftiger werdende Äußerungen
ins Heitere zu wenden, verfügte sie sich in ihren Keller, wo ihr von
den ältesten Weinen wohl unterhaltene große Fässer verwahrt lagen.
Nicht geringere befanden sich daselbst als die Jahrgänge 1706, 19, 26,
48, von ihr selbst gewartet und gepflegt, selten und nur bei feierlich
bedeutenden Gelegenheiten angesprochen. Indem
sie nun in geschliffener Flasche den hochfarbigen Wein hinsetzte, rief
sie aus: "Hier ist das wahre Tyrannenblut! Daran ergötzt euch,
aber alle Mordgedanken laßt mir aus dem Hause!" "Ja
wohl Tyrannenblut!" rief ich aus; "keinen größeren Tyrannen
gibt es, als den, dessen Herzblut man euch vorsetzt. Labt euch daran,
aber mäßig! denn ihr müßt befürchten, daß er euch durch
Wohlgeschmack und Geist unterjoche. Der Weinstock ist der
Universaltyrann, der ausgerottet werden sollte; zum Patron sollten wir
deshalb den heiligen Lykurgus, den Thrazier, wählen und verehren; er
griff das fromme Werk kräftig an, aber vom betörenden Dämon Bacchus
verblendet und verderbt, verdient er in der Zahl der Märtyrer obenan zu
stehen. Dieser
Weinstock ist der allerschlimmste Tyrann, zugleich Heuchler, Schmeichler
und Gewaltsamer. Die ersten Züge seines Blutes munden euch, aber ein
Tropfen lockt den andern unaufhaltsam nach; sie folgen sich wie eine
Perlenschnur, die man zu zerreißen fürchtet." Wenn
ich hier, wie die besten Historiker getan, eine fingierte Rede statt
jener Unterhaltung einzuschieben in Verdacht geraten könnte, so darf
ich den Wunsch aussprechen, es möchte gleich ein Geschwindschreiber
diese Peroration aufgefaßt und uns überliefert haben. Man würde die
Motive genau dieselbigen und den Fluß der Rede vielleicht anmutiger und
einladender finden. Überhaupt fehlt dieser gegenwärtigen Darstellung
im ganzen die weitläuftige Redseligkeit und Fülle einer Jugend, die
sich fühlt und nicht weiß, wo sie mit Kraft und Vermögen hinaus soll. In
einer Stadt wie Frankfurt befindet man sich in einer wunderlichen Lage;
immer sich kreuzende Fremde deuten nach allen Weltgegenden hin und
erwecken Reiselust. Früher war ich schon bei manchem Anlaß mobil
geworden, und gerade jetzt, im Augenblicke, wo es drauf ankam, einen
Versuch zu machen, ob ich Lili entbehren könne, wo eine gewisse
peinliche Unruhe mich zu allem bestimmten Geschäft unfähig machte, war
mir die Aufforderung der Stolberge, sie nach der Schweiz zu begleiten,
willkommen. Begünstigt durch das Zureden meines Vaters, welcher eine
Reise in jener Richtung sehr gerne sah, und mir empfahl, einen Übergang
nach Italien, wie es sich fügen und schicken wollte, nicht zu versäumen,
entschloß ich mich daher schnell, und es war bald gepackt. Mit einiger
Andeutung, aber ohne Abschied, trennt' ich mich von Lili; sie war mir so
ins Herz gewachsen, daß ich mich gar nicht von ihr zu entfernen
glaubte. In
wenigen Stunden sah ich mich mit meinen lustigen Gefährten in
Darmstadt. Bei Hofe daselbst sollte man sich noch ganz schicklich
betragen, hier hatte Graf Haugwitz eigentlich die Führung und Leitung.
Er war der Jüngste von uns, wohlgestaltet, von zartem edlem Ansehn,
weichen freundlichen Zügen, sich immer gleich, teilnehmend, aber mit
solchem Maße, daß er gegen die andern als impassibel abstach. Er mußte
deshalb von ihnen allerlei Spottreden und Benamsungen erdulden. Dies
mochte gelten, solange sie glaubten, als Naturkinder sich zeigen zu können;
wo es aber denn doch auf Schicklichkeit ankam, und man, nicht ungern,
genötigt war, wieder einmal als Graf aufzutreten, da wußte er alles
einzuleiten und zu schlichten, daß wir, wenn nicht mit dem besten, doch
mit leidlichem Rufe davon kamen. Ich
brachte unterdessen meine Zeit bei Merck zu, welcher meine vorgenommene
Reise mephistophelisch querblickend ansah und meine Gefährten, die ihn
auch besucht hatten, mit schonungsloser Verständigkeit zu schildern wußte.
Er kannte mich nach seiner Art durchaus; die unüberwindliche naive Gutmütigkeit
meines Wesens war ihm schmerzlich, das ewige Geltenlassen, das Leben und
Lebenlassen war ihm ein Greuel. "Daß du mit diesen Burschen
ziehst", rief er aus, "ist ein dummer Streich"; und er
schilderte sie sodann treffend, aber nicht ganz richtig. Durchaus fehlte
ein Wohlwollen, daher ich glauben konnte ihn zu übersehen, obschon ich
ihn nicht sowohl übersah, als nur die Seiten zu schätzen wußte, die
außer seinem Gesichtskreise lagen. "Du
wirst nicht lange bei ihnen bleiben!" das war das Resultat seiner
Unterhaltungen. Dabei erinnere ich mich eines merkwürdigen Wortes, das
er mir später wiederholte, das ich mir selbst wiederholte und oft im
Leben bedeutend fand. "Dein Bestreben", sagte er, "deine
unablenkbare Richtung ist, dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu
geben; die andern suchen das sogenannte Poetische, das Imaginative, zu
verwirklichen, und das gibt nichts wie dummes Zeug." Faßt man die
ungeheure Differenz dieser beiden Handlungsweisen, hält man sie fest
und wendet sie an; so erlangt man viel Aufschluß über tausend andere
Dinge. Unglücklicherweise,
eh sich die Gesellschaft von Darmstadt loslöste, gab es noch Anlaß,
Mercks Meinung unumstößlich zu bekräftigen. Unter
die damaligen Verrücktheiten, die aus dem Begriff entstanden: man müsse
sich in einen Naturzustand zu versetzen suchen, gehörte denn auch das
Baden im freien Wasser, unter offnem Himmel; und unsre Freunde konnten
auch hier, nach allenfalls überstandener Schicklichkeit, auch dieses
Unschickliche nicht unterlassen. Darmstadt, ohne fließendes Gewässer
in einer sandigen Fläche gelegen, mag doch einen Teich in der Nähe
haben, von dem ich nur bei dieser Gelegenheit gehört. Die heiß
genaturten und sich immer mehr erhitzenden Freunde suchten Labsal in
diesem Weiher; nackte Jünglinge bei hellem Sonnenschein zu sehen,
mochte wohl in dieser Gegend als etwas Besonderes erscheinen, es gab
Skandal auf alle Fälle. Merck schärfte seine Konklusionen, und ich
leugne nicht, ich beeilte unsre Abreise. Schon
auf dem Wege nach Mannheim zeigte sich, ohngeachtet aller guten und
edlen gemeinsamen Gefühle, doch schon eine gewisse Differenz in
Gesinnung und Betragen. Leopold Stolberg äußerte mit Leidenschaft: wie
er genötigt worden, ein herzliches Liebesverhältnis mit einer schönen
Engländerin aufzugeben, und deswegen eine so weite Reise unternommen
habe. Wenn man ihm nun dagegen teilnehmend entdeckte, daß man solchen
Empfindungen auch nicht fremd sei, so brach bei ihm das grenzenlose Gefühl
der Jugend heraus: seiner Leidenschaft, seinen Schmerzen, sowie der Schönheit
und Liebenswürdigkeit seiner Geliebten dürfe sich in der Welt nichts
gleichstellen. Wollte man solche Behauptung, wie es sich unter guten
Gesellen wohl ziemt, durch mäßige Rede ins Gleichgewicht bringen, so
schien sich die Sache nur zu verschlimmern, und Graf Haugwitz wie auch
ich mußten zuletzt geneigt werden, dieses Thema fallen zu lassen.
Angelangt in Mannheim, bezogen wir schöne Zimmer eines anständigen
Gasthofes, und beim Dessert des ersten Mittagessens, wo der Wein nicht
war geschont worden, forderte uns Leopold auf, seiner Schönen
Gesundheit zu trinken, welches denn unter ziemlichem Getöse geschah.
Nach geleerten Gläsern rief er aus: "Nun aber ist aus solchen
geheiligten Bechern kein Trunk mehr erlaubt, eine zweite Gesundheit wäre
Entweihung, deshalb vernichten wir diese Gefäße!" und warf
sogleich sein Stengelglas hinter sich wider die Wand. Wir andern
folgten, und ich bildete mir denn doch ein, als wenn mich Merck am
Kragen zupfte. Allein
die Jugend nimmt das aus der Kindheit mit herüber, daß sie guten
Gesellen nichts nachträgt, daß eine unbefangene Wohlgewogenheit zwar
unangenehm berührt werden kann, aber nicht zu verletzen ist. Nachdem
die nunmehr als englisch angesprochenen Gläser unsre Zeche verstärkt
hatten, eilten wir nach Karlsruhe getrost und heiter, um uns zutraulich
und sorglos in einen neuen Kreis zu begeben. Wir fanden Klopstock
daselbst, welcher seine alte sittliche Herrschaft über die ihn so hoch
verehrenden Schüler gar anständig ausübte, dem ich denn auch mich
gern unterwarf, so daß ich, mit den andern nach Hof gebeten, mich für
einen Neuling ganz leidlich mag betragen haben. Auch ward man gewissermaßen
aufgefordert, natürlich und doch bedeutend zu sein. Der regierende Herr
Markgraf, als einer der fürstlichen Senioren, besonders aber wegen
seiner vortrefflichen Regierungszwecke unter den deutschen Regenten hoch
verehrt, unterhielt sich gern von staatswirtlichen Angelegenheiten. Die
Frau Markgräfin, in Künsten und mancherlei guten Kenntnissen tätig
und bewandert, wollte auch mit anmutigen Reden eine gewisse Teilnahme
beweisen; wogegen wir uns zwar dankbar verhielten, konnten aber doch zu
Hause ihre schlechte Papierfabrikation und Begünstigung des
Nachdruckers Macklot nicht ungeneckt lassen. Am
bedeutendsten war für mich, daß der junge Herzog von Sachsen-Weimar
mit seiner edlen Braut, der Prinzessin Luise von Hessen-Darmstadt, hier
zusammen kamen, um ein förmliches Ehebündnis einzugehen; wie denn auch
deshalb Präsident von Moser bereits hier angelangt war, um so
bedeutende Verhältnisse ins klare zu setzen und mit dem Oberhofmeister
Grafen Görtz völlig abzuschließen. Meine Gespräche mit beiden hohen
Personen waren die gemütlichsten, und sie schlossen sich, bei der
Abschiedsaudienz, wiederholt mit der Versicherung: es würde ihnen
beiderseits angenehm sein, mich bald in Weimar zu sehn. Einige
besondere Gespräche mit Klopstock erregten gegen ihn, bei der
Freundlichkeit, die er mir erwies, Offenheit und Vertrauen; ich teilte
ihm die neusten Szenen des "Faust" mit, die er wohl
aufzunehmen schien, sie auch, wie ich nachher vernahm, gegen andere
Personen mit entschiedenem Beifall, der sonst nicht leicht in seiner Art
war, beehrt und die Vollendung des Stücks gewünscht hatte. Jenes
ungebildete, damals mitunter genial genannte Betragen ward in Karlsruhe,
auf einem anständigen, gleichsam heiligen Boden, einigermaßen
beschwichtigt; ich trennte mich von meinen Gesellen, indem ich einen
Seitenweg einzuschlagen hatte, um nach Emmendingen zu gehen, wo mein
Schwager Oberamtmann war. Ich achtete diesen Schritt, meine Schwester zu
sehen, für eine wahrhafte Prüfung. Ich wußte, sie lebte nicht glücklich,
ohne daß man es ihr, ihrem Gatten oder den Zuständen hätte schuld
geben können. Sie war ein eignes Wesen, von dem schwer zu sprechen ist;
wir wollen suchen, das Mitteilbare hier zusammenzufassen. Ein
schöner Körperbau begünstigte sie, nicht so die Gesichtszüge,
welche, obgleich Güte, Verstand, Teilnahme deutlich genug ausdrückend,
doch einer gewissen Regelmäßigkeit und Anmut ermangelten. Dazu
kam noch, daß eine hohe stark gewölbte Stirne, durch die leidige Mode
die Haare aus dem Gesicht zu streichen und zu zwängen, einen gewissen
unangenehmen Eindruck machte, wenn sie gleich für die sittlichen und
geistigen Eigenschaften das beste Zeugnis gab. Ich kann mir denken, daß,
wenn sie, wie es die neuere Zeit eingeführt hat, den oberen Teil ihres
Gesichtes mit Locken umwölken, ihre Schläfe und Wangen mit gleichen
Ringeln hätte bekleiden können, sie vor dem Spiegel sich angenehmer würde
gefunden haben, ohne Besorgnis, andern zu mißfallen wie sich selbst.
Rechne man hiezu noch das Unheil, daß ihre Haut selten rein war, ein Übel,
das sich, durch ein dämonisches Mißgeschick, schon von Jugend auf gewöhnlich
an Festtagen einzufinden pflegte, an Tagen von Konzerten, Bällen und
sonstigen Einladungen. Diese
Zustände hatte sie nach und nach durchgekämpft, indes ihre übrigen
herrlichen Eigenschaften sich immer mehr und mehr ausbildeten. Ein
fester nicht leicht bezwinglicher Charakter, eine teilnehmende,
Teilnahme bedürfende Seele, vorzügliche Geistesbildung, schöne
Kenntnisse, sowie Talente, einige Sprachen, eine gewandte Feder, so daß,
wäre sie von außen begünstigt worden, sie unter den gesuchtesten
Frauen ihrer Zeit würde gegolten haben. Zu
allem diesem ist noch ein Wundersames zu offenbaren: in ihrem Wesen lag
nicht die mindeste Sinnlichkeit. Sie war neben mir heraufgewachsen und wünschte
ihr Leben in dieser geschwisterlichen Harmonie fortzusetzen und
zuzubringen. Wir waren, nach meiner Rückkunft von der Akademie,
unzertrennlich geblieben, im innersten Vertrauen hatten wir Gedanken,
Empfindungen und Grillen, die Eindrücke alles Zufälligen in
Gemeinschaft. Als ich nach Wetzlar ging, schien ihr die Einsamkeit
unerträglich; mein Freund Schlosser, der Guten weder unbekannt noch
zuwider, trat in meine Stelle. Leider verwandelte sich bei ihm die Brüderlichkeit
in eine entschiedene und, bei seinem strengen gewissenhaften Wesen,
vielleicht erste Leidenschaft. Hier fand sich, wie man zu sagen pflegt,
eine sehr gütliche, erwünschte Partie, welche sie, nachdem sie
verschiedene bedeutende Anträge, aber von unbedeutenden Männern, von
solchen, die sie verabscheute, standhaft ausgeschlagen hatte, endlich
anzunehmen sich, ich darf wohl sagen, bereden ließ. Aufrichtig
habe ich zu gestehen, daß ich mir, wenn ich manchmal über ihr
Schicksal phantasierte, sie nicht gern als Hausfrau, wohl aber als Äbtissin,
als Vorsteherin einer edlen Gemeine gar gern denken mochte. Sie besaß
alles, was ein solcher höherer Zustand verlangt, ihr fehlte, was die
Welt unerläßlich fordert. Über weibliche Seelen übte sie durchaus
eine unwiderstehliche Gewalt; junge Gemüter zog sie liebevoll an und
beherrschte sie durch den Geist innerer Vorzüge. Wie sie nun die
allgemeine Duldung des Guten, Menschlichen, mit allen seinen
Wunderlichkeiten, wenn es nur nicht ins Verkehrte ging, mit mir gemein
hatte, so brauchte nichts Eigentümliches, wodurch irgend ein
bedeutendes Naturel ausgezeichnet war, sich vor ihr zu verbergen, oder
sich vor ihr zu genieren; weswegen unsere Geselligkeiten, wie wir schon
früher gesehn, immer mannigfaltig, frei, artig, wenn auch gleich
manchmal ans Kühne heran, sich bewegen mochten. Die Gewohnheit, mit
jungen Frauenzimmern anständig und verbindlich umzugehn, ohne daß
sogleich eine entscheidende Beschränkung und Aneignung erfolgt wäre,
hatte ich nur ihr zu danken. Nun aber wird der einsichtige Leser,
welcher fähig ist, zwischen diese Zeilen hineinzulesen, was nicht
geschrieben steht, aber angedeutet ist, sich eine Ahnung der ernsten Gefühle
gewinnen, mit welchen ich damals Emmendingen betrat. Allein
beim Abschiede nach kurzem Aufenthalt lag es mir noch schwerer auf dem
Herzen, daß meine Schwester mir auf das ernsteste eine Trennung von
Lili empfohlen, ja befohlen hatte. Sie selbst hatte an einem
langwierigen Brautstande viel gelitten; Schlosser, nach seiner
Redlichkeit, verlobte sich nicht eher mit ihr, als bis er seiner
Anstellung im Großherzogtum Baden gewiß, ja, wenn man es so nehmen
wollte, schon angestellt war. Die eigentliche Bestimmung aber verzögerte
sich auf eine undenkliche Weise. Soll ich meine Vermutung hierüber eröffnen,
so war der wackere Schlosser, wie tüchtig er zum Geschäft sein mochte,
doch wegen seiner schroffen Rechtlichkeit dem Fürsten als unmittelbar
berührender Diener, noch weniger den Ministern als naher Mitarbeiter wünschenswert.
Seine gehoffte und dringend gewünschte Anstellung in Karlsruhe kam
nicht zustande. Mir aber klärte sich diese Zögerung auf, als die
Stelle eines Oberamtmanns in Emmendingen ledig ward, und man ihn
alsobald dahin versetzte. Es war ein stattliches einträgliches Amt
nunmehr ihm übertragen, dem er sich völlig gewachsen zeigte. Seinem
Sinn, seiner Handlungsweise deuchte es ganz gemäß, hier allein zu
stehen, nach Überzeugung zu handeln und über alles, man mochte ihn
loben oder tadeln, Rechenschaft zu geben. Dagegen
ließ sich nichts einwenden; meine Schwester mußte ihm folgen, freilich
nicht in eine Residenz, wie sie gehofft hatte, sondern an einen Ort, der
ihr eine Einsamkeit, eine Einöde scheinen mußte; in eine Wohnung, zwar
geräumig, amtsherrlich, stattlich, aber aller Geselligkeit entbehrend.
Einige junge Frauenzimmer, mit denen sie früher Freundschaft gepflogen,
folgten ihr nach, und da die Familie Gerock mit Töchtern gesegnet war,
wechselten diese ab, so daß sie wenigstens, bei so vieler Entbehrung,
eines längstvertrauten Umgangs genoß. Diese
Zustände, diese Erfahrungen waren es, wodurch sie sich berechtigt
glaubte, mir aufs ernsteste eine Trennung von Lili zu befehlen. Es
schien ihr hart, ein solches Frauenzimmer, von dem sie sich die höchsten
Begriffe gemacht hatte, aus einer, wo nicht glänzenden, doch lebhaft
bewegten Existenz herauszuzerren, in unser zwar löbliches, aber doch
nicht zu bedeutenden Gesellschaften eingerichtetes Haus, zwischen einen
wohlwollenden, ungesprächigen, aber gern didaktischen Vater, und eine
in ihrer Art höchst häuslich-tätige Mutter, welche doch, nach
vollbrachtem Geschäft, bei einer bequemen Handarbeit nicht gestört
sein wollte, in einem gemütlichen Gespräch mit jungen herangezogenen
und auserwählten Persönlichkeiten. Dagegen
setzte sie mir Lilis Verhältnisse lebhaft ins klare, denn ich hatte ihr
teils schon in Briefen, teils aber in leidenschaftlich geschwätziger
Vertraulichkeit alles haarklein vorgetragen. Leider
war ihre Schilderung nur eine umständliche wohlgesinnte Ausführung
dessen, was ein Ohrenbläser von Freund, dem man nach und nach nichts
Gutes zutraute, mit wenigen charakteristischen Zügen einzuflüstern bemüht
gewesen. Versprechen
konnt' ich ihr nichts, ob ich ihr gleich gestehen mußte, sie habe mich
überzeugt; ich ging mit dem rätselhaften Gefühl im Herzen, woran die
Leidenschaft sich fortnährt; denn Amor das Kind hält sich noch hartnäckig
fest am Kleide der Hoffnung, eben als sie schon starken Schrittes sich
zu entfernen den Anlauf nimmt. Das
einzige, was ich mir zwischen da und Zürch noch deutlich erinnere, ist
der Rheinfall bei Schaffhausen. Hier wird durch einen mächtigen
Stromsturz merklich die erste Stufe bezeichnet, die ein Bergland
andeutet, in das wir zu treten gewillet sind; wo wir denn nach und nach,
Stufe für Stufe, immer in wachsendem Verhältnis, die Höhen mühsam
erreichen sollen. Der
Anblick des Zürcher Sees, von dem Tore des "Schwertes"
genossen, ist mir auch noch gegenwärtig; ich sage von dem Tore des
Gasthauses, denn ich trat nicht hinein, sondern ich eilte zu Lavatern.
Der Empfang war heiter und herzlich, und man muß gestehen, anmutig
ohnegleichen; zutraulich, schonend, segnend, erhebend, anders konnte man
sich seine Gegenwart nicht denken. Seine Gattin, mit etwas sonderbaren,
aber friedlichen zartfrommen Zügen, stimmte völlig, wie alles andere
um ihn her, in seine Sinnes und Lebensweise. Unsre nächste, und fast
ununterbrochene Unterhaltung war seine "Physiognomik". Der
erste Teil dieses seltsamen Werkes war, wenn ich nicht irre, schon völlig
abgedruckt, oder wenigstens seiner Vollständigkeit nahe. Man darf es
wohl als genial-empirisch, als methodischkollektiv ansprechen; ich hatte
dazu das sonderbarste Verhältnis. Lavater wollte die ganze Welt zu
Mitarbeitern und Teilnehmern; schon hatte er auf seiner Rheinreise so
viel bedeutende Menschen porträtieren lassen, um durch ihre Persönlichkeit
sie in das Interesse eines Werks zu ziehen, in welchem sie selbst
auftreten sollten. Ebenso verfuhr er mit Künstlern; er rief einen jeden
auf, ihm für seine Zwecke Zeichnungen zu senden. Sie kamen an und
taugten nicht entschieden zu ihrer Bestimmung. Ebenso ließ er rechts
und links in Kupfer stechen, und auch dieses gelang selten
charakteristisch. Eine große Arbeit war von seiner Seite geleistet, mit
Geld und Anstrengung aller Art ein bedeutendes Werk vorgearbeitet, der
Physiognomik alle Ehre geboten; und wie nun daraus ein Band werden
sollte, die Physiognomik, durch Lehre gegründet, durch Beispiele
belegt, sich der Würde einer Wissenschaft nähern sollte, so sagte
keine Tafel, was sie zu sagen hatte; alle Platten mußten getadelt,
bedingt, nicht einmal gelobt, nur zugegeben, manche gar durch die Erklärungen
weggelöscht werden. Es war für mich, der, eh er fortschritt, immer Fuß
zu fassen suchte, eine der penibelsten Aufgaben, die meiner Tätigkeit
auferlegt werden konnte. Man urteile selbst. Das Manuskript mit den zum
Text eingeschobenen Plattenabdrücken ging an mich nach Frankfurt. Ich
hatte das Recht, alles zu tilgen was mir mißfiel, zu ändern und
einzuschalten was mir beliebte, wovon ich freilich sehr mäßig Gebrauch
machte. Ein einzigmal hatte er eine gewisse leidenschaftliche Kontrovers
gegen einen ungerechten Tadler eingeschoben, die ich wegließ und ein
heiteres Naturgedicht dafür einlegte, weswegen er mich schalt, jedoch
später, als er abgekühlt war, mein Verfahren billigte. Wer
die vier Bände "Physiognomik" durchblättert und, was ihn
nicht reuen wird, durchliest, mag bedenken, welches Interesse unser
Zusammensein gehabt habe, indem die meisten der darin vorkommenden Blätter
schon gezeichnet und ein Teil gestochen waren, vorgelegt und beurteilt
wurden und man die geistreichen Mittel überlegte, womit selbst das
Untaugliche in diesem Falle lehrreich und also tauglich gemacht werden könnte. Geh'
ich das Lavaterische Werk nochmals durch, so macht es mir eine komisch
heitere Empfindung; es ist mir, als sähe ich die Schatten mir ehemals
sehr bekannter Menschen vor mir, über die ich mich schon einmal geärgert
und über die ich mich jetzt nicht erfreuen sollte. Die
Möglichkeit aber, so vieles unschicklich Gebildete einigermaßen
zusammenzuhalten, lag in dem schönen und entschiedenen Talente des
Zeichners und Kupferstechers Lips; er war in der Tat zur freien
prosaischen Darstellung des Wirklichen geboren, worauf es denn doch
eigentlich hier ankam. Er arbeitete unter dem wunderlich fordernden
Physiognomisten, und mußte deshalb genau aufpassen, um sich den
Forderungen seines Meisters anzunähern; der talentreiche Bauernknabe fühlte
die ganze Verpflichtung, die er einem geistlichen Herrn aus der so hoch
privilegierten Stadt schuldig war, und besorgte sein Geschäft aufs
beste. In
getrennter Wohnung von meinen Gesellen lebend, ward ich täglich, ohne
daß wir im geringsten Arges daran gehabt hätten, denselben immer
fremder; unsre Landpartien paßten nicht mehr zusammen, obgleich in der
Stadt noch einiges Verkehr übrig geblieben war. Sie hatten sich mit
allem jugendlich gräflichen Übermut auch bei Lavatern gemeldet,
welchem gewandten Physiognomisten sie freilich etwas anders vorkamen als
der übrigen Welt; er äußerte sich gegen mich darüber, und ich
erinnere mich ganz deutlich, daß er, von Leopold Stolberg sprechend,
ausrief: "Ich weiß nicht, was ihr alle wollt; es ist ein edler,
trefflicher, talentvoller Jüngling, aber sie haben mir ihn als einen
Heroen, als einen Herkules beschrieben, und ich habe in meinem Leben
keinen weicheren, zarteren und, wenn es darauf ankommt, bestimmbareren
jungen Mann gesehen. Ich bin noch weit von sicherer physiognomischer
Einsicht entfernt, aber wie es mit euch und der Menge aussieht, ist doch
gar zu betrübt." Seit der Reise Lavaters an den Niederrhein hatte
sich das Interesse an ihm und seinen physiognomischen Studien sehr
lebhaft gesteigert; vielfache Gegenbesuche drängten sich zu ihm, so daß
er sich einigermaßen in Verlegenheit fühlte, als der Erste geistlicher
und geistreicher Männer angesehen und als einer betrachtet zu werden,
der die Fremden allein nach sich hinzöge; daher er denn, um allem Neid
und Mißgunst auszuweichen, alle diejenigen, die ihn besuchten, zu
erinnern und anzutreiben wußte, auch die übrigen bedeutenden Männer
freundlich und ehrerbietig anzugehen. Der
alte Bodmer ward hiebei vorzüglich beachtet, und wir mußten uns auf
den Weg machen, ihn zu besuchen und jugendlich zu verehren. Er wohnte in
einer Höhe über der am rechten Ufer, wo der See seine Wasser als
Limmat zusammendrängt, gelegenen größern oder alten Stadt; diese
durchkreuzten wir, und erstiegen zuletzt, auf immer steileren Pfaden,
die Höhe hinter den Wällen, wo sich zwischen den Festungswerken und
der alten Stadtmauer gar anmutig eine Vorstadt, teils in aneinander
geschlossenen, teils einzelnen Häusern, halb ländlich gebildet hatte.
Hier nun stand Bodmers Haus, der Aufenthalt seines ganzen Lebens, in der
freisten, heitersten Umgebung, die wir, bei der Schönheit und Klarheit
des Tages, schon vor dem Eintritt höchst vergnüglich zu überschauen
hatten. Wir wurden eine Stiege hoch in ein ringsgetäfeltes Zimmer geführt,
wo uns ein munterer Greis von mittlerer Statur entgegen kam. Er empfing
uns mit einem Gruße, mit dem er die besuchenden Jüngeren anzusprechen
pflegte: wir würden es ihm als eine Artigkeit anrechnen, daß er mit
seinem Abscheiden aus dieser Zeitlichkeit so lange gezögert habe, um
uns noch freundlich aufzunehmen, uns kennen zu lernen, sich an unsern
Talenten zu erfreuen und Glück auf unsern fernern Lebensgang zu wünschen. Wir
dagegen priesen ihn glücklich, daß er als Dichter, der
patriarchalischen Welt angehörig und doch in der Nähe der höchst
gebildeten Stadt, eine wahrhaft idyllische Wohnung zeitlebens besessen
und in hoher freier Luft sich einer solchen Fernsicht mit stetem
Wohlbehagen der Augen so lange Jahre erfreut habe. Es
schien ihm nicht unangenehm, daß wir eine Übersicht aus seinem Fenster
zu nehmen uns ausbaten, welche denn wirklich bei heiterem Sonnenschein
in der besten Jahrszeit ganz unvergleichlich erschien. Man übersah
vieles von dem, was sich von der großen Stadt nach der Tiefe senkte,
dies kleinere Stadt über der Limmat, sowie die Fruchtbarkeit des
Sihlfeldes gegen Abend. Rückwärts links einen Teil des Zürchsees mit
seiner glänzend bewegten Fläche und seiner unendlichen
Mannigfaltigkeit von abwechselnden Berg- und Talufern, Erhöhungen, dem
Auge unfaßlichen Mannigfaltigkeiten; worauf man denn, geblendet von
allem diesem, in der Ferne die blaue Reihe der höheren Gebirgsrücken,
deren Gipfel zu benamsen man sich getraute, mit größter Sehnsucht zu
schauen hatte. Die
Entzückung junger Männer über das Außerordentliche, was ihm so viele
Jahre her täglich geworden war, schien ihm zu behagen; er ward, wenn
man so sagen darf, ironisch teilnehmend, und wir schieden als die besten
Freunde, wenn schon in unsern Geistern die Sehnsucht nach jenen blauen
Gebirgshöhen die Überhand gewonnen hatte. Indem
ich nun im Begriff stehe, mich von unserem würdigen Patriarchen zu
beurlauben, so merk' ich erst, daß ich von seiner Gestalt und
Gesichtsbildung, von seinen Bewegungen und seiner Art sich zu benehmen
noch nichts ausgesprochen. Überhaupt
zwar finde ich nicht ganz schicklich, daß Reisende einen bedeutenden
Mann, den sie besuchen, gleichsam signalisieren, als wenn sie Stoff zu
einem Steckbriefe geben wollten. Niemand bedenkt, daß es eigentlich nur
ein Augenblick ist, wo er, vorgetreten, neugierig beobachtet und doch
nur auf seine eigne Weise; und so kann der Besuchte bald wirklich, bald
scheinbar als stolz oder demütig, als schweigsam oder gesprächig, als
heiter oder verdrießlich erscheinen. In diesem besondern Falle aber möcht'
ich mich damit entschuldigen, daß Bodmers ehrwürdige Person, in Worten
geschildert, keinen gleich günstigen Eindruck machen dürfte. Glücklicherweise
existiert das Bild nach Graff von Bause, welches vollkommen den Mann
darstellt, wie er auch uns erschienen, und zwar mit seinem Blick der
Beschauung und Betrachtung. Ein
besonderes, zwar nicht unerwartetes, aber höchst erwünschtes Vergnügen
empfing mich in Zürch, als ich meinen jungen Freund Passavant daselbst
antraf. Sohn eines angesehnen reformierten Hauses meiner Vaterstadt,
lebte er in der Schweiz, an der Quelle derjenigen Lehre, die er dereinst
als Prediger verkündigen sollte. Nicht von großer aber gewandter
Gestalt, versprach sein Gesicht und sein ganzes Wesen eine anmutige
rasche Entschlossenheit; schwarzes Haar und Bart, lebhafte Augen, im
ganzen eine teilnehmende mäßige Geschäftigkeit. Kaum
hatten wir, uns umarmend, die ersten Grüße gewechselt, als er mir
gleich den Vorschlag tat, die kleinen Kantone zu besuchen, die er schon
mit großem Entzücken durchwandert habe und mit deren Anblick er mich
nun ergötzen und entzücken wolle. Indes
ich mit Lavatern die nächsten und wichtigsten Gegenstände
durchgesprochen und wir unsre gemeinschaftlichen Angelegenheiten beinah
erschöpft hatten, waren meine muntern Reisegesellen schon auf
mancherlei Wegen ausgezogen, und hatten nach ihrer Weise sich in der
Gegend umgetan. Passavant, mich mit herzlicher Freundschaft umfangend,
glaubte dadurch ein Recht zu dem ausschließenden Besitz meines Umganges
erworben zu haben und wußte daher, in Abwesenheit jener, mich um so
eher in die Gebirge zu locken, als ich selbst entschieden geneigt war,
in größter Ruhe und auf meine eigne Weise, diese längst ersehnte
Wanderung zu vollbringen. Wir schifften uns ein, und fuhren an einem glänzenden
Morgen den herrlichen See hinauf. Möge
ein eingeschaltetes Gedicht von jenen glücklichen Momenten einige
Ahnung herüberbringen: Und
frische Nahrung, neues Blut Aug
mein Aug, was sinkst du nieder? Wir
landeten in Richterswyl, wo wir an Doktor Hotz durch Lavater empfohlen
waren. Er besaß als Arzt, als höchst verständiger, wohlwollender Mann
ein ehrwürdiges Ansehn an seinem Orte und in der ganzen Gegend, und wir
glauben sein Andenken nicht besser zu ehren, als wenn wir auf eine
Stelle in Lavaters "Physiognomik" hinweisen, die ihn
bezeichnet. Aufs
beste bewirtet, aufs anmutigste und nützlichste auch über die nächsten
Stationen unsrer Wanderung unterhalten, erstiegen wir die dahinter
liegenden Berge. Als wir in das Tal von Schindellegi wieder hinabsteigen
sollten, kehrten wir uns nochmals um, die entzückende Aussicht über
den Zürcher See in uns aufzunehmen. Wie
mir zu Mute gewesen, deuten folgende Zeilen an, wie sie damals
geschrieben noch in einem Gedenkheftchen aufbewahrt sind: Wenn
ich, liebe Lili, dich nicht liebte, Ausdrucksvoller
find ich hier diese kleine Interjektion, als wie sie in der Sammlung
meiner Gedichte abgedruckt ist. Die
rauhen Wege, die von da nach Maria Einsiedeln führten, konnten unserm
guten Mut nichts anhaben. Eine Anzahl von Wallfahrern, die, schon unten
am See von uns bemerkt, mit Gebet und Gesang regelmäßig fortschritten,
hatten uns eingeholt; wir ließen sie begrüßend vorbei und sie
belebten, indem sie uns zur Einstimmung in ihre frommen Zwecke beriefen,
diese öden Höhen anmutig charakteristisch. Wir sahen lebendig den schlängelnden
Pfad bezeichnet, den auch wir zu wandern hatten, und schienen freudiger
zu folgen; wie denn die Gebräuche der römischen Kirche dem
Protestanten durchaus bedeutend und imposant sind, indem er nur das
Erste, Innere, wodurch sie hervorgerufen, das Menschliche, wodurch sie
sich von Geschlecht zu Geschlecht fortpflanzen, und also auf den Kern
dringend, anerkennt, ohne sich gerade in dem Augenblick mit der Schale,
der Fruchthülle, ja dem Baume selbst, seinen Zweigen, Blättern, seiner
Rinde und seinen Wurzeln zu befassen. Nun
sahen wir in einem öden baumlosen Tale die prächtige Kirche
hervorsteigen; das Kloster, von weitem ansehnlichen Umfang, in der Mitte
von reinlicher Ansiedelung, um so eine große und mannigfaltige Anzahl
von Gästen einigermaßen schicklich aufzunehmen. Das
Kirchlein in der Kirche, die ehmalige Einsiedlerwohnung des Heiligen,
mit Marmor inkrustiert und so viel als möglich zu einer anständigen
Kapelle verwandelt, war etwas Neues, von mir noch nie Gesehenes, dieses
kleine Gefäß, umbaut und überbaut von Pfeilern und Gewölben. Es mußte
ernste Betrachtungen erregen, daß ein einzelner Funke von Sittlichkeit
und Gottesfurcht hier ein immer brennendes leuchtendes Flämmchen angezündet,
zu welchem gläubige Scharen mit großer Beschwerlichkeit heranpilgern
sollten, um an dieser heiligen Flamme auch ihr Kerzlein anzuzünden. Wie
dem auch sei, so deutet es auf ein grenzenloses Bedürfnis der
Menschheit nach gleichem Licht, gleicher Wärme, wie es jener erste im
tiefsten Gefühl und sicherster Überzeugung gehegt und genossen. Man führte
uns in die Schatzkammer, welche, reich und imposant genug, vor allem
lebensgroße, wohl gar kolossale Büsten von Heiligen und Ordensstiftern
dem staunenden Auge darbot. Doch
ganz andere Aufmerksamkeit erregte der Anblick eines darauf eröffneten
Schrankes; er enthielt altertümliche Kostbarkeiten, hierher gewidmet
und verehrt. Verschiedene Kronen von merkwürdiger Goldschmiedsarbeit
hielten meinen Blick fest, unter denen wieder eine ausschließlich
betrachtet wurde. Eine Zackenkrone im Kunstsinne der Vorzeit, wie man
wohl ähnliche auf den Häuptern altertümlicher Königinnen gesehen,
aber von so geschmackvoller Zeichnung, von solcher Ausführung einer
unermüdeten Arbeit, selbst die eingefügten farbigen Steine mit solcher
Wahl und Geschicklichkeit verteilt und gegeneinander gestellt - genug,
ein Werk der Art, daß man es bei dem ersten Anblick für vollkommen
erklärte, ohne diesen Eindruck kunstmäßig entwickeln zu können. Auch
ist in solchen Fällen, wo die Kunst nicht erkannt, sondern gefühlt
wird, Geist und Gemüt zur Anwendung geneigt, man möchte das Kleinod
besitzen, um damit Freude zu machen. Ich erbat mir die Erlaubnis, das Krönchen
hervorzunehmen; und als ich solches in der Hand anständig haltend in
die Höhe hob, dacht' ich mir nicht anders, als ich müßte es Lili auf
die hellglänzenden Locken aufdrücken, sie vor den Spiegel führen und
ihre Freude über sich selbst und das Glück, das sie verbreitet, gewahr
werden. Ich habe mir nachher oft gedacht, diese Szene, durch einen
talentvollen Maler verwirklicht, müßte einen höchst sinn- und gemütvollen
Anblick geben. Da wäre es wohl der Mühe wert, der junge König zu
sein, der sich auf diese Weise eine Braut und ein neues Reich erwürbe. Um
uns die Besitztümer des Klosters vollständig sehen zu lassen, führte
man uns in ein Kunst-, Kuriositäten- und Naturalienkabinett. Ich hatte
damals von dem Wert solcher Dinge wenig Begriff; noch hatte mich die
zwar höchst löbliche, aber doch den Eindruck der schönen Erdoberfläche
vor dem Anschauen des Geistes zerstückelnde Geognosie nicht angelockt,
noch weniger eine phantastische Geologie mich in ihre Irrsale
verschlungen; jedoch nötigte mich der herumführende Geistliche, einem
fossilen, von Kennern, wie er sagte, höchst geschätzten, in einem
blauen Schieferton wohl erhaltenen kleinen wilden Schweinskopf einige
Aufmerksamkeit zu schenken, der auch, schwarz wie er war, für alle
Folgezeit in der Einbildungskraft geblieben ist. Man hatte ihn in der
Gegend von Rapperswyl gefunden, in einer Gegend, die, morastig von
Urzeiten her, gar wohl dergleichen Mumien für die Nachwelt aufnehmen
und bewahren konnte. Ganz
anders aber zog mich, unter Rahmen und Glas, ein Kupferstich von Martin
Schön an, das Abscheiden der Maria vorstellend. Freilich kann nur ein
vollkommenes Exemplar uns einen Begriff von der Kunst eines solchen
Meisters geben, aber alsdann werden wir auch, wie von dem Vollkommenen
in jeder Art, dergestalt ergriffen, daß wir die Begierde, das gleiche
zu besitzen, den Anblick immer wiederholen zu können, - es mag noch so
viel Zeit dazwischen verfließen - nicht wieder loswerden. Warum sollt'
ich nicht vorgreifen und hier gestehen, daß ich später nicht eher
nachließ, als bis ich ebenfalls zu einem trefflichen Abdruck dieses
Blattes gelangt war. Am
16. Juni 1775, denn hier find' ich zuerst das Datum verzeichnet, traten
wir einen beschwerlichen Weg an; wilde, steinige Höhen mußten überstiegen
werden und zwar in vollkommener Einsamkeit und Öde. Abends 3/4 auf
achte standen wir den Schwyzer Hocken gegenüber, zweien Berggipfeln,
die nebeneinander mächtig in die Luft ragen. Wir finden auf unsern
Wegen zum erstenmal Schnee, und an jenen zackigen Felsgipfeln hing er
noch vom Winter her. Ernsthaft und fürchterlich füllte ein uralter
Fichtenwald die unabsehlichen Schluchten, in die wir hinab sollten. Nach
kurzer Rast, frisch und mit mutwilliger Behendigkeit sprangen wir den
von Klippe zu Klippe, von Platte zu Platte in die Tiefe sich stürzenden
Fußpfad, und gelangten um zehn Uhr nach Schwyz. Wir waren zugleich müde
und munter geworden, hinfällig und aufgeregt, wir löschten gähling
unsern heftigen Durst und fühlten uns noch mehr begeistert. Man denke
sich den jungen Mann, der etwa vor zwei Jahren den "Werther"
schrieb, einen jüngeren Freund, der sich schon an dem Manuskript jenes
wunderbaren Werks entzündet hatte, beide ohne Wissen und Wollen
gewissermaßen in einen Naturzustand versetzt, lebhaft gedenkend vorübergegangener
Leidenschaften, nachhängend den gegenwärtigen, folgelose Plane
bildend, im Gefühl behaglicher Kraft das Reich der Phantasie
durchschwelgend, - dann nähert man sich der Vorstellung jenes
Zustandes, den ich nicht zu schildern wüßte, stünde nicht im
Tagebuche: "Lachen und Jauchzen dauerte bis um Mitternacht." Den
17. morgens sahen wir die Schwyzer Hocken vor unsern Fenstern. An diesen
ungeheuern unregelmäßigen Naturpyramiden stiegen Wolken nach Wolken
hinauf. Um 1 Uhr nachmittags von Schwyz weg, gegen den Rigi zu, um 2 Uhr
auf dem Lauerzer See herrlicher Sonnenschein. Vor lauter Wonne sah man
gar nichts; zwei tüchtige Mädchen führten das Schiff; das war
anmutig, wir ließen es geschehen. Auf der Insel langten wir an, wo sie
sagen: hier habe der ehemalige Zwingherr gehaust; wie ihm auch sei,
jetzt zwischen die Ruinen hat sich die Hütte des Waldbruders
eingeschoben. Wir
bestiegen den Rigi, um halb achte standen wir bei der Mutter Gottes im
Schnee; sodann an der Kapelle, am Kloster vorbei, im Wirtshaus "Zum
Ochsen". Den
18. sonntags früh die Kapelle vom "Ochsen" aus gezeichnet. Um
12 Uhr nach dem Kalten Bad oder zum Drei-Schwestern-Brunnen. Ein Viertel
nach zwei hatten wir die Höhe erstiegen; wir fanden uns in Wolken,
diesmal uns doppelt unangenehm, als die Aussicht hindernd und als
niedergehender Nebel netzend. Aber als sie hie und da auseinander rissen
und uns, von wallenden Rahmen umgeben, eine klare, herrliche,
sonnenbeschienene Welt als vortretende und wechselnde Bilder sehen ließen,
bedauerten wir nicht mehr diese Zufälligkeiten; denn es war ein
niegesehner, nie wieder zu schauender Anblick, und wir verharrten lange
in dieser gewissermaßen unbequemen Lage, um durch die Ritzen und Klüfte
der immer bewegten Wolkenballen einen kleinen Zipfel besonnter Erde,
einen schmalen Uferzug und ein Endchen See zu gewinnen. Um
8 Uhr abends waren wir wieder vor der Wirtshaustüre zurück und
stellten uns an gebackenen Fischen und Eiern und genugsamem Wein wieder
her. Wie
es denn nun dämmerte und allmählich nachtete, beschäftigten
ahnungsvoll zusammenstimmende Töne unser Ohr; das Glockengebimmel der
Kapelle, das Plätschern des Brunnens, das Säuseln wechselnder Lüftchen,
in der Ferne Waldhörner; - es waren wohltätige, beruhigende,
einlullende Momente. Am
19. früh halb sieben erst aufwärts, dann hinab an den Waldstätter
See, nach Vitznau, von da zu Wasser nach Gersau. Mittags im Wirtshaus am
See. Gegen 2 Uhr dem Grütli gegenüber, wo die drei Tellen schwuren,
darauf an der Platte, wo der Held aussprang und wo ihm zu Ehren die
Legende seines Daseins und seiner Taten durch Malerei verewigt ist. Um 3
Uhr in Flüelen, wo er eingeschifft ward; um 4 Uhr in Altdorf, wo er den
Apfel abschoß. An
diesem poetischen Faden schlingt man sich billig durch das Labyrinth
dieser Felsenwände, die steil bis in das Wasser hinabreichend uns
nichts zu sagen haben. Sie, die Unerschütterlichen, stehen so ruhig da,
wie die Kulissen eines Theaters; Glück oder Unglück, Lust oder Trauer
ist bloß den Personen zugedacht, die heute auf dem Zettel stehen. Dergleichen
Betrachtungen jedoch waren gänzlich außer dem Gesichtskreis jener Jünglinge,
das Kurzvergangene hatten sie aus dem Sinne geschlagen, und die Zukunft
lag so wunderbar unerforschlich vor ihnen, wie das Gebirg, in das sie
hineinstrebten. Am
20. brachen wir nach Amsteg auf, wo man uns gebackene Fische gar
schmackhaft bereitete. Hier nun, an diesem schon genugsam wilden
Angebirge, wo die Reuß aus schrofferen Felsklüften hervordrang und das
frische Schneewasser über die reinlichen Kiesbänke hinspielte,
enthielt ich mich nicht, die gewünschte Gelegenheit zu nutzen und mich
in den rauschenden Wellen zu erquicken. Um 3 Uhr brachen wir von da auf;
eine Reihe Saumrosse zog vor uns her, wir schritten mit ihr über eine
breite Schneemasse und erfuhren erst nachher, daß sie unten hohl sei.
Hier hatte sich der Winterschnee in eine Bergschlucht eingelegt, um die
man sonst herumziehen mußte, und diente nunmehr zu einem graden verkürzten
Wege. Die unten durchströmenden Wasser hatten sie nach und nach ausgehöhlt,
durch die milde Sommerluft war das Gewölb immer mehr abgeschmolzen, so
daß sie nunmehr als ein breiter Brückenbogen das Hüben und Drüben
natürlich zusammenhielt. Wir überzeugten uns von diesem wundersamen
Naturereignis, indem wir uns etwas oberhalb hinunter in die breitere
Schlucht wagten. Wie
wir uns nun immer weiter erhuben, blieben Fichtenwälder im Abgrund,
durch welche die schäumende Reuß über Felsenstürze sich von Zeit zu
Zeit sehen ließ. Um
1/2 8 Uhr gelangten wir nach Wasen, wo wir, uns mit dem roten, schweren,
sauern lombardischen Wein zu erquicken, erst mit Wasser nachhelfen und
mit vielem Zucker das Ingrediens ersetzen mußten, was die Natur in der
Traube auszukochen versagt hatte. Der Wirt zeigte schöne Kristalle vor;
ich war aber damals so entfernt von solchen Naturstudien, daß ich mich
nicht einmal für den geringen Preis mit diesen Bergerzeugnissen
beschweren mochte. Den 21. halb 7 Uhr aufwärts; die Felsen wurden immer
mächtiger und schrecklicher, der Weg bis zum Teufelsstein, bis zum
Anblick der Teufelsbrücke immer mühseliger. Meinem Gefährten beliebte
es hier auszuruhen; er munterte mich auf, die bedeutenden Ansichten zu
zeichnen. Die Umrisse mochten mir gelingen, aber es trat nichts hervor,
nichts zurück; für dergleichen Gegenstände hatte ich keine Sprache.
Wir mühten uns weiter, das ungeheure Wilde schien sich immer zu
steigern, Platten wurden zu Gebirgen, und Vertiefungen zu Abgründen. So
geleitete mich mein Führer bis ans Urserner Loch, durch welches ich
gewissermaßen verdrießlich hindurch ging; was man bisher gesehen, war
doch erhaben, diese Finsternis hob alles auf. Aber
freilich hatte sich der schelmische Führer das freudige Erstaunen
voraus vorgestellt, das mich beim Austritt überraschen mußte. Der mäßig
schäumende Fluß schlängelte sich hier milde durch ein flaches, von
Bergen zwar umschlossenes, aber doch genugsam weites, zur Bewohnung
einladendes Tal; über dem reinlichen Örtchen Urseren und seiner
Kirche, die uns auf ebenem Boden entgegen standen, erhob sich ein
Fichtenwäldchen, heilig geachtet, weil es die am Fuße Angesiedelten
vor höher herabrollenden Schneelawinen schützte. Die grünenden Wiesen
des Tales waren wieder am Fluß her mit kurzen Weiden geschmückt; man
erfreute sich hier einer lange vermißten Vegetation. Die Beruhigung war
groß, man fühlte auf flachen Pfaden die Kräfte wieder belebt, und
mein Reisegefährte tat sich nicht wenig zugute auf die Überraschung,
die er so schicklich eingeleitet hatte. An
der Matte fand sich der berühmte Urserner Käse, und die exaltierten
jungen Leute ließen sich einen leidlichen Wein trefflich schmecken, um
ihr Behagen noch mehr zu erhöhen und ihren Projekten einen
phantastischern Schwung zu verleihen. Den
22. halb 4 Uhr verließen wir unsre Herberge, um aus dem glatten
Urserner Tal ins steinichte Liviner Tal einzutreten. Auch hier ward
sogleich alle Fruchtbarkeit vermißt; nackte, wie bemooste Felsen mit
Schnee bedeckt, ruckweiser Sturmwind, Wolken heran- und vorbeiführend,
Geräusch der Wasserfälle, das Klingeln der Saumrosse in der höchsten
Öde, wo man weder die Herankommenden noch die Scheidenden erblickte.
Hier kostet es der Einbildungskraft nicht viel, sich Drachennester in
den Klüften zu denken. Aber doch erheitert und erhoben fühlte man sich
durch einen der schönsten, am meisten zum Bilde sich eignenden, in
allen Abstufungen grandios mannigfaltigen Wasserfall, der gerade in
dieser Jahrszeit vom geschmolzenen Schnee überreich begabt, von Wolken
bald verhüllt bald enthüllt, uns geraume Zeit an die Stelle fesselte. Endlich
gelangten wir an kleine Nebelseen, wie ich sie nennen möchte, weil sie
von den atmosphärischen Streifen kaum zu unterscheiden waren. Nicht
lange, so trat aus dem Dunste ein Gebäude entgegen, es war das Hospiz,
und wir fühlten große Zufriedenheit, uns zunächst unter seinem
gastlichen Dache schirmen zu können.
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