Zeittafel
zu Leben und Werk
1806 - 1812
Dieses Symbol verweist jeweils auf weiterführende Texte Goethes, insbesondere auf seine autobiographischen Schriften "Dichtung und Wahrheit"
und "Italienische Reise" bzw. auf Eckermanns
"Gespräche mit Goethe".
Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbst und zur
Außenwelt, so heiß ich's Wahrheit.
Und so kann jeder seine eigene Wahrheit haben, und es ist doch immer
dieselbige. [1]
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1806 |
Im
April beendet Goethe den Ersten Teil seines Faust
14. Oktober: Schlacht bei Jena. Napoleon
besiegt die preußische Armee. Besetzung Weimars.
Franz II. legt die Kaiserkrone
nieder, was das Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher
Nation bedeutet.
19. Oktober: Nach achtzehn Jahren "wilder Ehe"
erfolgt die Trauung Goethes mit Christiane
Vulpius,
die ihr zwar zuerst zögernd, aber endlich doch die soziale
Anerkennung in der Weimarer Gesellschaft gibt. Den Durchbruch erzwang
dabei die Schriftstellerin Johanna Schopenhauer, die
Mutter des Philosophen Arthur Schopenhauer, die ihre Teegesellschaft demonstrativ
für Christiane öffnete: "Wenn Goethe ihr seinen Namen gibt, werden wir ihr wohl eine Tasse Tee reichen können
...".
Von nun an begibt sich Goethe jährlich
zum Sommerurlaub nach Karlsbad (bis 1819). |
Christiane Vulpius
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1807 |
Im April wird
Goethe erstmals von Bettina
von Brentano besucht. Sie war die Tochter des Kaufmanns
Peter Anton Brentano und dessen zweiter Frau, Goethes Jugendfreundin
Maximiliane von La Roche, Enkelin der erfolgreichen Autorin
Sophie von La Roche, und Schwester des romantischen Dichters
Clemens von Brentano,
dessen Freund Achim von
Arnim sie 1811 ehelichte.
Schon im Juli des Vorjahres hatte sie
Goethes Mutter in Frankfurt besucht und ließ sich Anekdoten
aus Goethes Jugendzeit erzählen - um eine geheime Biographie
dieses "Göttlichen" zu bilden. Bettina war Goethe in schwärmerischer
Liebe zugetan und hat sich später gerne als Goethes Psyche
bezeichnet oder sich zu seiner Mignon hochstilisiert.
Drei Jahre nach Goethes Tod erschienen ihre verklärten
Erinnerungen unter dem Titel Goethes Briefwechsel mit einem Kinde:
Hier auf dem Tisch liegen Trauben im Duft und Pfirsich im
Pelz und buntgemalte Nelken; die Rose liegt vorne und fängt
den einzigen Sonnenstrahl auf, der durch die verschlossenen
Fensterladen dringt. Wie glüht die Rose! Psyche nenne ich
sie; – wie lockt das glühende Rot den Strahl in den
innersten Kelch! Wie duftet sie; – hier lobt das Werk den
Meister. Rose, wie lobst du das Licht! – Wie Psyche den Eros
lobt. – Unendlich schön ist Eros, und seine Schönheit
durchleuchtet Psyche wie das Licht die Rose. – Und ich, die
da wähnt, von Deiner Schönheit ebenso durchleuchtet zu sein,
trete vor den Spiegel, ob es mich auch wie sie verschönt. |
Bettina von Arnim-Brentano
Medaillonbild von
Achim von Bärwald, 1809
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Mai
bis September verbringt Goethe in Karlsbad.
Sonette
Natur und Kunst, sie scheinen
sich zu fliehen
Und haben sich, eh man es denkt, gefunden;
Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.
Es gilt wohl nur ein redliches Bemühen!
Und wenn wir erst in abgemeßnen Stunden
Mit Geist und Fleiß uns an die Kunst gebunden,
Mag frei Natur im Herzen wieder glühen.
So ists mit aller Bildung auch beschaffen:
Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.
Wer Großes will, muß sich zusammenraffen;
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben. [2]
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Goethe arbeitet Wilhelm
Meisters Wanderjahre,
Band I. Während
wiederholter Aufenthalte bei einem Jenaer Buchhändler wandelt
sich Goethes anfänglich väterliche
Zuneigung zu dessen achtzehnjähriger Pflegetochter Minna
Herzlieb
in leidenschaftliche Liebe. Minna ist wahrscheinlich
das Vorbild für Ottilie in dem Roman Die
Wahlverwandtschaften |
Minna Herzlieb
Ölgemälde von Luise Seidler, 1812
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1808 |
Goethes
Mutter stirbt.
Am 2. Oktober wird Goethe beim
Fürstentag in
Erfurt von Napoleon empfangen.
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1809 |
Die
Wahlverwandtschaften: Ein Roman,
bei dem die Affinität chemischer Substanzen
als Gleichnis auf die Liebesbeziehung
zweier Paare übertragen wird:
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Denken Sie sich ein A, das mit einem B innig verbunden ist, durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu trennen; denken Sie sich ein C, das sich ebenso zu einem D verhält; bringen Sie nun die beiden Paare in Berührung: A wird sich zu C, C zu B werfen, ohne daß man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer sich mit dem andern zuerst wieder verbunden habe...
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Bettine von Arnim vor dem Entwurf ihres Goethe-Denkmals.
Radierung von Ludwig Emil Grimm, 1838
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1810 |
In
Teplitz wird Goethe von Bettina
von Brentano besucht. Ihre
delikaten und phantasievoll ausgemalten erotischen Erinnerungen
daran hat sie handschriftlich festgehalten:
Es war in der Abenddämmerung im heißen Augustmonat, in Teplitz, er
saß am offenen Fenster, ich stand vor ihm und hielt ihn umhalst, und mein Blick wie ein Pfeil scharf ihm ins Auge gedrückt blieb drin haften, bohrte sich tiefer und tiefer ein. Vielleicht weil ers nicht länger ertragen mochte, frug er, ob mir nicht heiß sei, und ob ich nicht wolle, dass mich die Kühlung anwehe, ich nickte, so sag' er: "Mache doch den Busen frei, dass ihm die Abendluft zugute komme." Und da er sah, dass ich nichts dagegen sagte, obschon ich rot ward, so öffnete er meine Kleidung; er sah mich an und sagte: "Das Abendrot hat sich auf deine Wangen eingebrennt", und dann küsste er mich auf die Brust und senkte die Stirne darauf. - "Kein Wunder," sagte ich, "meine Sonne geht mir ja im eigenen Busen unter." Er sah mich an, lang, und waren beide still...
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Goethe hat in seiner Metamorphosenlehre
wesentliche Aspekte der modernen Evolutionstheorien
vorweggenommen, ohne dabei allerdings wie diese in das
materialistische Fahrwasser zu kommen. Goethe fragt nicht
danach, welches vorgeblichen Zweckes wegen eine bestimmte
tierische Gestalt entstanden sei, sondern wie sie sich gesetzmäßig
entwickelt hat - darin stimmt die moderne Entwicklungslehre
überein. Goethe geht aber darüber noch hinaus: Allen Tieren
liegt seiner Ansicht nach ein nur geistig erfassbarer Urorganismus
zugrunde, der sich in jeder einzelnen Tierart auf jeweils
spezifisch einseitige Weise offenbart. Auch der menschliche
Organismus entspricht diesem urbildlichen Typus, und zwar
nicht in einseitiger, sondern in ausgewogen allseitig
geprägter Weise - ohne dass Goethe damit andeuten
will, dass der Mensch deswegen nur ein höher entwickeltes Tier sei. Im
Gegenteil: gerade durch die zart verhüllte Allseitigkeit, mit
welcher der Typus hier im menschlichen Organismus wirkt, erklimmt der Mensch eine Entwicklungsstufe, die ihn über das
tierische Dasein erhebt.
Ich war völlig überzeugt, ein allgemeiner, durch Metamorphose
sich erhebender Typus gehe durch die sämtlichen organischen Geschöpfe durch, lasse sich in allen seinen
Teilen auf gewissen mittlern Stufen gar wohl beobachten und müsse auch noch da anerkannt werden,
wenn er sich auf der höchsten Stufe der Menschheit ins Verborgene bescheiden zurückzieht.
[2]
Das Tier ist durch seine
Einseitigkeit an eine bestimmte Umwelt und an bestimmte
Verhaltensweisen sehr eng gebunden, während der Mensch nicht
durch die beengenden Grenzen seines Organismus gefesselt wird,
sondern frei der Welt gegenübertritt. Ähnliche
Ansichten hatte schon Herder
im zweiten Buch seiner Ideen zur Philosophie der Geschichte
der Menschheit festgehalten, nämlich:
... daß der Mensch ein Mittelgeschöpf unter den Tieren, d. i. die ausgearbeitete Form sei, in der sich die Züge aller Gattungen um ihn her im feinsten Inbegriff sammeln.
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Johann Gottfried Herder
Kupferstich von Moritz Steinla nach dem Gemälde von Friedrich Rehberg
Jedem Geschlecht hat die Natur genuggetan und sein eignes Erbe gegeben. Den Affen hat sie in soviel Gattungen und Spielarten verteilt und diese so weit verbreitet, als sie sie verbreiten konnte. Du aber, Mensch, ehre dich selbst. Weder der Pongo noch der Longimanus ist dein Bruder; aber wohl der Amerikaner, der Neger. Ihn also sollt du nicht unterdrücken, nicht morden, nicht stehlen; denn er ist ein Mensch, wie du bist; mit dem Affen darfst du keine Brüderschaft eingehn.
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Und noch wenige Tage vor seinem Tod schreibt Goethe in einem Brief
an Wilhelm von Humboldt:
Die
Tiere werden durch ihre Organe belehrt, sagten die
Alten; ich setze hinzu: die Menschen gleichfalls, sie
haben jedoch den Vorzug, ihre Organe dagegen wieder zu belehren.
Im Gespräch mit Eckermann
äußerte
sich Goethe so:
»Es ist dem Menschen natürlich,« sagte Goethe, »sich
als das Ziel der Schöpfung zu betrachten und alle übrigen
Dinge nur in bezug auf sich und insofern sie ihm dienen und nützen.
Er bemächtiget sich der vegetabilischen und animalischen
Welt, und indem er andere Geschöpfe als passende Nahrung
verschlingt, erkennet er seinen Gott und preiset dessen Güte,
die so väterlich für ihn gesorget. Der Kuh nimmt er die
Milch, der Biene den Honig, dem Schaf die Wolle, und indem er
den Dingen einen ihm nützlichen Zweck gibt, glaubt er
auch, daß sie dazu sind geschaffen worden. Ja er kann sich
nicht denken, daß nicht auch das kleinste Kraut für ihn
da sei, und wenn er dessen Nutzen noch gegenwärtig nicht
erkannt hat, so glaubt er doch, daß solches sich künftig ihm
gewiß entdecken werde.
Und wie der Mensch nun im allgemeinen denkt, so denkt er
auch im besonderen, und er unterläßt nicht, seine gewohnte
Ansicht aus dem Leben auch in die Wissenschaft zu tragen und
auch bei den einzelnen Teilen eines organischen Wesens nach
deren Zweck und Nutzen zu fragen.
Dies mag auch eine Weile gehen, und er mag auch in der
Wissenschaft eine Weile damit durchkommen; allein gar bald
wird er auf Erscheinungen stoßen, wo er mit einer so kleinen
Ansicht nicht ausreicht und wo er, ohne höheren Halt, sich in
lauter Widersprüchen verwickelt.
Solche Nützlichkeitslehrer sagen wohl: der Ochse habe Hörner,
um sich damit zu wehren. Nun frage ich aber: warum hat das
Schaf keine? und wenn es welche hat, warum sind sie ihm um die
Ohren gewickelt, so daß sie ihm zu nichts dienen?
Etwas anderes aber ist es, wenn ich sage: der Ochse wehrt
sich mit seinen Hörnern, weil er sie hat.
Die Frage nach dem Zweck, die Frage Warum? ist
durchaus nicht wissenschaftlich. Etwas weiter aber kommt man
mit der Frage Wie? Denn wenn ich frage: wie hat der
Ochse Hörner? so führet mich das auf die Betrachtung seiner
Organisation und belehret mich zugleich, warum der Löwe keine
Hörner hat und haben kann.
So hat der Mensch in seinem Schädel zwei unausgefüllte
hohle Stellen. Die Frage Warum? würde hier nicht weit
reichen, wogegen aber die Frage Wie? mich belehret, daß
diese Höhlen Reste des tierischen Schädels sind, die sich
bei solchen geringeren Organisationen in stärkerem Maße
befinden und die sich beim Menschen, trotz seiner Höhe, noch
nicht ganz verloren haben.
Die Nützlichkeitslehrer würden glauben, ihren Gott zu
verlieren, wenn sie nicht den anbeten sollen, der dem
Ochsen die Hörner gab, damit er sich verteidige. Mir aber möge
man erlauben, daß ich den verehre, der in dem Reichtum
seiner Schöpfung so groß war, nach tausendfältigen Pflanzen
noch eine zu machen, worin alle übrigen enthalten, und nach
tausendfältigen Tieren ein Wesen, das sie alle enthält: den
Menschen.
Man verehre ferner den, der dem Vieh sein Futter
gibt und dem Menschen Speise und Trank, so viel er genießen
mag; ich aber bete den an, der eine solche
Produktionskraft in die Welt gelegt hat, daß, wenn nur der
millionteste Teil davon ins Leben tritt, die Welt von Geschöpfen
wimmelt, so daß Krieg, Pest, Wasser und Brand ihr nichts
anzuhaben vermögen. Das ist mein Gott!«
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Die zweite wesentliche Säule der goetheanistischen Naturwissenschaft. Im Vorwort schreibt Goethe:
Ob man nicht, indem von den Farben
gesprochen werden soll, vor allen Dingen des Lichtes zu erwähnen
habe, ist eine ganz natürliche Frage, auf die wir jedoch nur
kurz und aufrichtig erwidern: es scheine bedenklich, da bisher
schon so viel und mancherlei von dem Lichte gesagt worden, das
Gesagte zu wiederholen oder das oft Wiederholte zu vermehren.
Denn eigentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen eines
Dinges auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr, und eine
vollständige Geschichte dieser Wirkungen umfasste wohl
allenfalls das Wesen jenes Dinges. Vergebens bemühen wir uns,
den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen
seine Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des
Charakters wird uns entgegentreten.
Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden. In
diesem Sinne können wir von denselben Aufschlüsse über das
Licht erwarten. Farben und Licht stehen zwar untereinander in
dem genausten Verhältnis, aber wir müssen uns beide als der
ganzen Natur angehörig denken: denn sie ist es ganz, die sich
dadurch dem Sinne des Auges besonders offenbaren will.
Ebenso entdeckt sich die ganze Natur einem anderen Sinne.
Man schließe das Auge, man öffne, man schärfe das Ohr, und
vom leisesten Hauch bis zum wildesten Geräusch, vom
einfachsten Klang bis zur höchsten Zusammenstimmung, von dem
heftigsten leidenschaftlichen Schrei bis zum sanftesten Worte
der Vernunft ist es nur die Natur, die spricht, ihr Dasein,
ihre Kraft, ihr Leben und ihre Verhältnisse offenbart, so
dass ein Blinder, dem das unendlich Sichtbare versagt ist, im
Hörbaren ein unendlich Lebendiges fassen kann.
So spricht die Natur hinabwärts zu andern Sinnen, zu
bekannten, verkannten, unbekannten Sinnen; so spricht sie mit
sich selbst und zu uns durch tausend Erscheinungen. Dem
Aufmerksamen ist sie nirgends tot noch stumm; ja dem starren
Erdkörper hat sie einen Vertrauten zugegeben, ein Metall, an
dessen kleinsten Teilen wir dasjenige, was in der ganzen Masse
vorgeht, gewahr werden sollten. [5]
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Goethes Farbenkreis zur
Symbolisierung des menschlichen Geistes- und Seelenlebens,
1809
Quelle: biblint.de
Goethe hat
diesen sechsteiligen Farbenkreis im Abschnitt über die Sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe
für das Kapitel Allegorischer,
symbolischer, mystischer Gebrauch der Farbe seiner
Farbenlehre bestimmt, wobei jeder Farbe eine bestimmte
menschliche Seeleneigenschaft zugeordnet wird:
Dass zuletzt auch die Farbe eine mystische Deutung erlaube, lässt sich wohl ahnden. Denn da jenes Schema, worin sich die Farbenmannigfaltigkeit darstellen lässt, solche Urverhältnisse andeutet, die sowohl der menschlichen Anschauung als der Natur angehören, so ist wohl kein Zweifel, dass man sich ihrer Bezüge, gleichsam als einer Sprache, auch da bedienen könne, wenn man Urverhältnisse ausdrücken will, die nicht ebenso mächtig und mannigfaltig in die Sinne fallen. Der Mathematiker schätzt den Wert und Gebrauch des Triangels; der Triangel steht bei dem Mystiker in
großer Verehrung; gar manches lässt sich im Triangel schematisieren und die Farbenerscheinung gleichfalls, und zwar dergestalt, dass man durch Verdopplung und Verschränkung zu dem alten geheimnisvollen Sechseck gelangt.
Goethe, Farbenlehre,
918
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Farben entstehen, wie Goethe durch seine
Versuche bemerken konnte, durch Abdunklung des Lichts oder
durch Aufhellung der Finsternis. Dringt weißes Licht durch
ein trübes Medium, etwa durch ein Blatt Papier oder durch die
von Dünsten erfüllte Luft, so verfärbt es sich gelblich bis
rötlich - ein Phänomen, das man bei jedem Sonnenauf- oder
-untergang leicht beobachten kann. Je mehr die Luft von Dünsten
erfüllt ist, desto stärker ist die Rotfärbung. Blickt man
hingegen anderseits mit dem Licht durch die sonnendurchhellte
und von Dünsten erfüllte Luft in das finstere Weltall, so
erscheint dessen absolute Schwärze zum Himmelsblau
aufgehellt. Je dichter die Dünste sind, desto heller und
weißlicher erscheint der Himmel. Je feiner die Dünste
werden, desto tiefer und dunkler leuchtet das Blau und kann in
der dünnen Luft des Hochgebirges sogar ins Violett
übergehen. Die aktiven, warmen rotgelben Farbtöne stehen so
den passiven, kühlen blauvioletten Farben polar
gegenüber. Grün entsteht erst sekundär durch Mischung des
Gelben mit dem Roten, während sich Rot und Violett, einander
durchdringend, zum prächtigen Purpur (von Goethe auch als Pfirsichblüt
bezeichnet) steigern.
Aus diesen Urphänomenen leitet sich schließlich der
sechsteilige Farbenkreis Goethes ab, und darin drückt sich
auch das von Goethe so oft angesprochene Gesetz von
Polarität und
Steigerung sehr deutlich aus. Das
waren ihm die zwei großen Triebräder aller Natur:
... der Begriff von Polarität und von Steigerung, jene der Materie, insofern wir sie materiell, diese ihr dagegen, insofern wir sie geistig denken, angehörig; jene ist in immerwährendem Anziehen und Abstoßen, diese in immerstrebendem Aufsteigen. Weil aber die Materie nie ohne Geist, der Geist nie ohne Materie existiert und wirksam sein kann, so vermag auch die Materie sich zu steigern, so wie sich's der Geist nicht nehmen läßt, anzuziehen und abzustoßen; wie derjenige nur allein zu denken vermag, der genugsam getrennt hat, um zu verbinden, genugsam verbunden hat, um wieder trennen zu mögen.
Oder an anderer Stelle:
Was in die Erscheinung tritt, muß sich trennen, um nur zu erscheinen. Das Getrennte sucht sich wieder, und es kann sich wieder finden und vereinigen; im niedern Sinne, indem es sich nur mit seinem Entgegengestellten vermischt, mit demselben zusammentritt, wobei die Erscheinung Null oder wenigstens gleichgültig wird. Die Vereinigung kann aber auch im höhern Sinne geschehen, indem das Getrennte sich zuerst steigert und durch die Verbindung der gesteigerten Seiten ein Drittes, Neues, Höheres, Unerwartetes hervorbringt.
Von diesen wenigen Urphänomenen der Farbenstehung
ging Goethe dann systematisch zu immer komplexeren
Erscheinungen über und versuchte sie konsequent aus den Urphänomenen
abzuleiten. So untersuchte er etwa das Phänomen des Regenbogens
oder die Erscheinung farbiger
Schatten, wie man sie in der Dämmerung häufig
erleben kann. Namentlich beschäftigte er sich aber auch mit den
Farberscheinungen, die entstehen, wenn man Licht durch ein
Glasprisma fallen lässt. Er setze sich damit in strengen Gegensatz zu den
Anschauungen Isaac
Newtons, der bei seiner spekulative Theorie von diesen
schon sehr komplexen prismatischen Erscheinungen ausging und
postulierte, dass alle Farben
bereits im weißen Licht enthalten wären und daraus durch
Lichtbrechung mittels des Glasprismas einzeln heraussortiert
würden:
Dass Newton bei seinen prismatischen Versuchen die Öffnung so klein als möglich nahm, um eine Linie zum Lichtstrahl bequem zu symbolisieren, hat eine unheilbare Verwirrung über die Welt gebracht, an der vielleicht noch Jahrhunderte leiden.
Die moderne Naturwissenschaft hat sich
bisher wesentlich an Newtons
Ansichten orientiert, während Goethes Farbenlehre bis heute
noch wenig beachtet wurde:
Ferner bekam es mir schlecht, daß ich einsah, die Newtonische Lehre vom Licht und der Farbe sei ein Irrtum, und daß ich den Mut hatte, dem allgemeinen Credo zu widersprechen. Ich erkannte das Licht in seiner Reinheit und Wahrheit, und ich hielt es meines Amtes, dafür zu streiten. Jene Partei aber trachtete in allem Ernst, das Licht zu verfinstern, denn sie behauptete: das Schattige sei ein Teil des Lichtes. Es klingt absurd, wenn ich es so ausspreche, aber doch ist es so. Denn man sagte: die Farben, welche doch ein Schattiges und Durchschattetes sind, seien das Licht selber, oder, was auf eins hinauskommt, sie seien des Lichtes bald so und bald so gebrochene Strahlen.
Dass Newtons Theorie
problematisch ist, hat man zwar da und dort erkannt, konnte
sich aber doch nicht zu Goethes Ansichten durchringen, die
nicht in die mechanistisch orientierte Physik des 19.
Jahrhunderts passen wollten:
Was aber das Allersonderbarste ist: der Mensch, wenn er auch den Grund des Irrtums aufdeckt, wird den Irrtum selbst deshalb doch nicht los. Mehrere Engländer, besonders Dr. Reade, sprechen gegen Newton leidenschaftlich aus: "das prismatische Bild sei keineswegs das Sonnenbild, sondern das Bild der Öffnung unseres
Fensterladens, mit Farbensäumen geschmückt; im prismatischen Bilde gebe es kein ursprünglich Grün, dieses entstehe durch das Übereinandergreifen des Blauen und Gelben, so dass ein schwarzer Streif ebenso gut als ein weißer in Farben aufgelöst scheinen könne, wenn man hier von Auflösen reden wolle." Genug, alles, was wir seit vielen Jahren dargetan haben, legt dieser gute Beobachter gleichfalls vor. Nun aber lässt ihn die fixe Idee einer diversen Refrangibilität nicht los; doch kehrt er sie um und ist
womöglich noch befangener als sein großer Meister. Anstatt durch diese neue Ansicht begeistert aus jenem Chrysalidenzustande sich herauszureißen, sucht er die schon erwachsenen und entfalteten Glieder aufs neue in die alten Puppenschalen
unterzubringen.
Es ist charakteristisch für Goethes
ganzheitlich orientierten Forschungsstil, dass er sich bei
seinen Untersuchungen nicht auf die bloßen physikalischen
Farberscheinungen beschränkt, sondern auch seelische
Faktoren mit einbezieht und ihr wechselseitiges Zusammenspiel
studiert. Einen ganz besonderen Raum in Goethes
Farbenlehre nimmt dementsprechend das Kapitel über die sinnlich-sittliche
Wirkung der Farben ein, in dem Goethe sehr
ausführlich beschreibt, wie die einzelnen Farben auf das
menschliche Gemüt wirken. Dabei zeigt sich die selbe
Polarität wie schon bei den rein physikalischen
Erscheinungen. Die rotgelben Farbtöne wirken auf das Gemüt
erheiternd (man denke nur an die sprichwörtliche rosarote
Brille) und regen den Willen zur Aktivität an, während
die blauvioletten Farben eine gedämpfte, wehmütige, oft auch
andächtige Stimmung erregen, die die Seele sehnsuchtsvoll in
die Ferne zieht. Durch solche Betrachtungen wird zwanglos die
Brücke von der Physik zur bildenden Kunst und zu einem
tieferen Verständnis des ästhetischen Geschmacks geschlagen.
Das Auge nimmt das Licht nicht passiv auf, sondern reagiert
aktiv darauf; ein inneres Licht kommt gleichsam dem äußeren
entgegen:
Die Farben, die wir an den Körpern erblicken, sind nicht etwa dem Auge ein völlig Fremdes, wodurch es erst zu dieser Empfindung gleichsam gestempelt würde; nein. Dieses Organ ist immer in der Disposition, selbst Farben hervorzubringen, und genießt einer angenehmen Empfindung, wenn etwas der eignen Natur Gemäßes ihm von außen gebracht wird, wenn seine Bestimmbarkeit nach einer gewissen Seite hin bedeutend bestimmt wird.
Wie
sich Licht
und Finsternis zum Auge verhalten, studiert Goethe
genau und untersucht besonders das Phänomen der Nachbilder
und Blendungsbilder,
die man bei geschlossenem Auge noch kurzzeitig beobachten
kann, nachdem das Auge zuvor dem Licht ausgesetzt war. Es
herrscht dabei ein Gesetz von Totalität
und Harmonie: Wenn das Auge die Farbe erblickt, so wird es gleich in Tätigkeit gesetzt, und es ist seiner Natur gemäß, auf der Stelle eine andre, so unbewußt als notwendig, hervorzubringen, welche mit der gegebenen die Totalität des ganzen Farbenkreises enthält. Eine einzelne Farbe erregt in dem Auge, durch eine spezifische Empfindung, das Streben nach Allgemeinheit...
Gelb fordert Rotblau Blau fordert Rotgelb Purpur fordert Grün |
und umgekehrt.
Natur und Geist sind für Goethe eben
nicht vollkommen getrennte Welten, zwischen denen eine
unüberbrückbarer Kluft aufgerissen ist, sondern sie stehen
im innigsten Verhältnis zueinander:
Licht und Geist, jenes im Physischen, dieser im Sittlichen herrschend, sind die höchsten denkbaren unteilbaren Energien.
Goethe war bestrebt, Wissenschaft,
Kunst und Religion, die sich im Zuge der
abendländischen Geistesgeschichte immer weiter voneinander
entfernt hatten, wieder einander näher zu bringen. Er wurde
damit zum Wegbereiter einer ganzheitlichen Weltauffassung, die
heute dringender denn je gefordert ist. Weit entfernt davon,
ein verstaubter Klassiker zu sein, für den man
letztlich nur mehr museales Interesse zeigen kann, hat er
methodisch und systematisch fruchtbare Keime für die Zukunft
gelegt, die es erst noch zu entfalten gilt.
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Ist es möglich! Stern der Sterne,
Drück ich wieder dich ans Herz!
Ach, was ist die Nacht der Ferne,
Für ein Abgrund, für ein Schmerz!
Ja, du bist es, meiner Freuden
Süßer, lieber Widerpart!
Eingedenk vergangner Leiden
Schaudr ich vor der Gegenwart.
Als die Welt im tiefsten Grunde
Lag an Gottes ewger Brust,
Ordnet' er die erste Stunde
Mit erhabner Schöpfungslust.
Und er sprach das Wort: »Es werde!«
Da erklang ein schmerzlich Ach!
Als das All mit Machtgebärde
In die Wirklichkeiten brach!
Auf tat sich das Licht; so trennte
Scheu sich Finsternis von ihm,
Und sogleich die Elemente
Scheidend auseinander fliehn.
Rasch in wilden, wüsten Träumen
Jedes nach der Weite rang,
Starr, in ungemeßnen Räumen,
Ohne Sehnsucht, ohne Klang.
Stumm war alles, still und öde,
Einsam Gott zum ersten Mal!
Da erschuf er Morgenröte,
Die erbarmte sich der Qual;
Sie entwickelte dem Trüben
Ein erklingend Farbenspiel,
Und nun konnte wieder lieben,
Was erst auseinanderfiel.
Und mit eiligem Bestreben
Sucht sich, was sich angehört;
Und zu ungemeßnem Leben
Ist Gefühl und Blick gekehrt.
Sei's Ergreifen, sei es Raffen,
Wenn es nur sich faßt und hält!
Allah braucht nicht mehr zu schaffen,
Wir erschaffen seine Welt.
So mit morgenroten Flügeln
Riß es mich an deinen Mund,
Und die Nacht mit tausend Siegeln
Kräftigt sternenhell den Bund.
Beide sind wir auf der Erde
Musterhaft in Freud und Qual,
Und ein zweites Wort: Es werde!
Trennt uns nicht zum zweiten Mal. |
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1811 |
Dichtung und Wahrheit,
Erster Teil
Bettina
von Brentano heiratet Achim
von Arnim und weilt von August bis September in Weimar
und ist fast täglich bei Goethe zu Gast. Am 13. September,
als sie gemeinsam mit Christiane eine
Gemäldeausstellung mit Werken Johann Heinrich Meyers
besuchte, eskalierte die latent schon längst vorhandene
Spannung zwischen den beiden Frauen zu einem handfesten
Streit, bei dem Christiane schwer beleidigt wurde: Bettina
bezeichnete sie öffentlich als "wildgewordene
Blutwurst". Goethe verbot daraufhin den Arnims
sein Haus. Eine Versöhnung kam nie mehr zustande, aber Bettina
hat aus der Ferne stets an ihrer schwärmerischen Verehrung
Goethes festgehalten.
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1812
-1814 |
Goethe
trifft mehrmals mit Ludwig van Beethoven zusammen und beginnt
einen bis 1828 währenden Briefwechsels mit dem
Dichter Friedrich de la Motte Fouqué. |
1812 |
Dichtung und Wahrheit,
Zweiter Teil
Begegnung mit Kaiserin Maria Ludovica von Österreich.
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[1] Goethe, Maximen und
Reflexionen, Goethe-BA Bd. 18, S. 504
[2] Goethe, Tag- und
Jahreshefte, Goethe-BA Bd. 16, S. 16
[5] Goethe, Farbenlehre, siehe http://www.farben-welten.de/farbenlehre/1physiologisch/vorwort.htm
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