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Johann Wolfgang

von


Goethe

(1749-1832)

Johann Wolfgang von Goethe

 

Inszenierungen des ODYSSEE-Theaters:


Zeittafel zu Leben und Werk

1765 - 1770

1749- 1765- 1771- 1775- 1786- 1794- 1806 - 1813- 1832

Dieses Symbol verweist jeweils auf weiterführende Texte Goethes Dieses Symbol verweist jeweils auf weiterführende Texte Goethes, insbesondere auf seine autobiographischen Schriften "Dichtung und Wahrheit" und "Italienische Reise" bzw. auf Eckermanns "Gespräche mit Goethe".

Wär' nicht das Auge sonnenhaft,
Wie könnten wir das Licht erblicken?
Lebt' nicht in uns des Gottes eigne Kraft,
Wie könnt' uns Göttliches entzücken? [0]

 

Studienjahre (1765-1770)

1765-1768

Goethe nimmt Fecht- und Reitunterricht. Vom Oktober 1765 bis August 1768: Jurastudium in Leipzig auf Wunsch seines Vaters; Goethe selbst hätte lieber die Schönen Wissenschaften (Rhetorik und Poetik) studiert. Außerdem hört er Vorlesungen in Philosophie und Philologie, unter anderem bei Christian Fürchtegott Gellert und Johann Christoph Gottsched.

Die Promenade in Leipzig
Die Promenade in Leipzig.
Kolorierter Stich von Johann August Rosmäsler, 1777.

Mein Leipzig Lob' ich mir!
Es ist ein klein Paris, und bildet seine Leute.

Faust I, Auerbachs Keller in Leipzig
Ob seiner Eleganz wurde Leipzig gerne auch als "Klein-Paris" bezeichnet. Die Promenade war ein beliebter Treffpunkt der jungen Damen und Herren.

Bekanntschaft mit der Leipziger Gastwirtstochter Annette Käthchen Schönkopf. Käthchen, wie er die  junge Frau nannte, die drei Jahre älter als er selbst war, scheint auf Goethes Werbung eher  hinhaltend reagiert zu haben.

Im Dezember beginnt Goethe Zeichenunterricht bei dem Maler, Kupferstecher und Bildhauer Adam Friedrich Oeser Dichtung und Wahrheit, 8. Buch, Oeser zu nehmen, der ihn für die Ideen  Winkelmanns begeistert. Angeregt fühlt sich Goethe auch durch den Zyniker Ernst Wolfgang Behrisch Dichtung und Wahrheit, 7. Buch, Behrisch, dem Hofmeister und späteren Prinzenerzieher in Dessau. Goethe widmet ihm seinen ersten, allerdings erst posthum veröffentlichten Gedichtzyklus Oden an meinen Freund. An Behrisch. Behrisch wird mit seiner unverkennbar zynischen Lebensart zum lebenden  Urbild des Mephistopheles:

Schon sein Äußeres war sonderbar genug. Hager und wohlgebaut, weit in den Dreißigen, eine sehr große Nase und überhaupt markierte Züge; eine Haartour, die man wohl eine Perücke hätte nennen können, trug er vom Morgen bis in die Nacht, kleidete sich sehr nett und ging niemals aus, als den Degen an der Seite und den Hut unter dem Arm. Er war einer von den Menschen, die eine ganz besondere Gabe haben, die Zeit zu verderben, oder vielmehr, die aus nichts etwas zu machen wissen, um sie zu vertreiben. Alles, was er tat, mußte mit Langsamkeit und einem gewissen Anstand geschehen, den man affektiert hätte nennen können, wenn Behrisch nicht schon von Natur etwas Affektiertes in seiner Art gehabt hätte. Er ähnelte einem alten Franzosen, auch sprach und schrieb er sehr gut und leicht französisch. Seine größte Lust war, sich ernsthaft mit possenhaften Dingen zu beschäftigen, und irgend einen albernen Einfall bis ins Unendliche zu verfolgen. Dichtung und Wahrheit, 7. Buch, Behrisch

J.W. Goethe, Das Frankfurter Arbeitszimmer. Um 1769/72
Das Frankfurter Arbeitszimmer
J.W. Goethe, um 1769/72
Bleistift, grau laviert und aquarelliert, 
auf weißem Papier
Stiftung Weimarer Klassik, Museen
Quelle: biblint.de
Anette Käthchen Schönkopf
Annette Käthchen Schönkopf
undatierter Stahlstich von
A. Hüssener nach einer 
zeitgenössischen Miniatur

Der gute Geschmack, welcher sich mehr und mehr durch die Welt ausbreitet, hat sich angefangen zuerst unter dem griechischen Himmel zu bilden. Alle Erfindungen fremder Völker kamen gleichsam nur als der erste Same nach Griechenland, und nahmen eine andere Natur und Gestalt an in dem Lande, welches Minerva, sagt man, vor allen Ländern, wegen der gemäßigten Jahreszeiten, die sie hier angetroffen, den Griechen zur Wohnung angewiesen, als ein Land welches kluge Köpfe hervorbringen würde... 

Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten, und was jemand vom Homer gesagt, daß derjenige ihn bewundern lernet, der ihn wohl verstehen gelernet, gilt auch von den Kunstwerken der Alten, sonderlich der Griechen. 

Johann Joachim Winckelmann
Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst.

Die von Heiterkeit geprägte anakreontische Gedichtsammlung Annette entsteht. Es ist die erste handschriftliche Gedichtsammlung Goethes.

Abdruck des Gedichtes Poetische Gedanken über die Höllenfahrt Jesu Christi in der Frankfurter Zeitschrift «Die Sichtbaren» ohne Goethes Zustimmung. 

1767

Goethes künstlerische Begabungen richteten sich nicht nur auf die Dichtkunst. Auch als Zeichner war er hochbegabt und konnte sich lange nicht entscheiden, worauf er sein Schwergewicht legen sollte. Eine innige Beziehung zum Licht und seinen Farben zeichnete ihn ein Leben lang aus und prägte seinen Dichtungen einen unverkennbar konkret bildhaften Charakter auf, und so war sein Sinnen und Dichten zugleich immer auch ein Schauen. Dass Goethe in späteren Jahren als Naturforscher eine eigene Farbenlehre entwickelt hat, ist nicht zufällig, sondern liegt tief in seinem ganzen Wesen begründet:

Der universelle Forscher und Dichter Goethe war wie kein zweiter ein Mensch des Augen-Sinns: Es war nicht allein die äußere Erscheinung seiner Augen - die dunkelbraunen Pupillen waren mit einem blauen Rand umgeben - die jeder seiner Gesprächspartner beeindruckt bemerkte, sondern deren nie ruhende Eindringlichkeit. [1]

Johann Wolfgang Goethe, Wartburg mit Mönch und Nonne. 1807 (?)
Johann Wolfgang Goethe, Wartburg mit Mönch und Nonne, 14.12.1807 (?).
 Bleistift, Sepialavierung auf ursprünglich weißem Papier, Rahmungslinien. 
Stiftung Weimarer Klassik, Goethe- und Schiller-Archiv
Quelle: biblint.de

Die Laune des Verliebten Ein Schäferspiel im Stil des Rokoko; Goethe fühlt sich immer stärker dazu gedrängt, seine Gefühle in poetische Formen zu gießen:

Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute oder quälte, oder sonst beschäftigte, in ein Bild, ein Gedicht zu verwandeln und darüber mit mir selbst abzuschließen, um sowohl meine Begriffe von den äußeren Dingen zu berichtigen, als mich im Innern deshalb zu beruhigen. Die Gabe hierzu war wohl niemand nötiger als mir, den seine Natur immerfort aus einem Extreme in das andere warf. Alles, was daher von mir bekannt geworden, sind nur Bruchstücke einer großen Konfession, welche vollständig zu machen dieses Büchlein ein gewagter Versuch ist. [3] Dichtung und Wahrheit, II. Teil, 7. Buch

1768

Am 8. Juni wird Winkelmann in Triest ermordet; sein Tod hinterlässt bei Goethe einen tiefen Eindruck:

Dieser ungeheuere Vorfall tat eine ungeheuere Wirkung; es war ein allgemeines Jammern und Wehklagen, und sein frühzeitiger Tod schärfte die Aufmerksamkeit auf den Wert seines Lebens. Ja vielleicht wäre die Wirkung seiner Tätigkeit, wenn er sie auch bis in ein höheres Alter fortgesetzt hätte, nicht so groß gewesen, als sie jetzt werden mußte, da er, wie mehrere außerordentliche Menschen, auch noch durch ein seltsames und widerwärtiges Ende vom Schicksal ausgezeichnet worden. Dichtung und Wahrheit, 8. Buch, Winckelmanns Tod

Johann Joachim Winckelmann
Johann Joachim Winckelmann
Geb. 9.12.1717 Stendal; 
gest. 8.6.1768 Triest.

Leipziger Liederbuch: zehn Gedichte zu Kompositionen von Bernhard Theodor Breitkopf. Dichtung und Wahrheit, 8. Buch, Familie Breitkopf

Kurz bevor sich Käthchen mit dem späteren Vizebürgermeister von Leipzig, Christian Karl Kanne, verlobte, löste er seine doch nur in der Phantasie bestehende Beziehung  zur Wirtstochter und erlitt einen völligen psychischen und physischen Zusammenbruch. Die schwere Erkrankung mündete in einen Blutsturz und am 28. August reiste Goethe aus Leipzig ab. Die langwierige Erkrankung führte zu einem radikalen Umbruch und zu einer starken geistigen Vertiefung von Goethes Leben: 

Eines Nachts wachte ich mit einem heftigen Blutsturz auf, und hatte noch soviel Kraft und Besinnung, meinen Stubennachbar zu wecken. Doktor Reichel wurde gerufen, der mir aufs freundlichste hülfreich ward, und so schwankte ich mehrere Tage zwischen Leben und Tod, und selbst die Freude an einer erfolgenden Besserung wurde dadurch vergällt, daß sich, bei jener Eruption, zugleich ein Geschwulst an der linken Seite des Halses gebildet hatte, den man jetzt erst, nach vorübergegangner Gefahr, zu bemerken Zeit fand. Genesung ist jedoch immer angenehm und erfreulich, wenn sie auch langsam und kümmerlich vonstatten geht, und da bei mir sich die Natur geholfen, so schien ich auch nunmehr ein anderer Mensch geworden zu sein: denn ich hatte eine größere Heiterkeit des Geistes gewonnen, als ich mir lange nicht gekannt, ich war froh, mein Inneres frei zu fühlen, wenn mich gleich äußerlich ein langwieriges Leiden bedrohte. Dichtung und Wahrheit, II. Teil, 8. Buch

1768-1770

Langsame Genesung Goethes in Frankfurt. Während der langen Krankheit wird Goethe durch Susanne Katharina von Klettenberg gepflegt, einer Verwandten seiner Mutter, die ihn in die religiöse Vorstellungswelt des Pietismus einführte und zur Lektüre pansophisch-alchimistischer Schriften (Alchemie) in neuplatonischer Tradition anregte (Paracelsus, Basilius Valentinus, Georg v. Wellings "Opus Mago-Cabalisticum et Theosophicum"  u.a.). Goethe machte auch selbst verschiedene alchimistische Experimente, die sein Interesse für die exakte und aufmerksame Beobachtung von Naturvorgängen weckten. Susanne von Klettenberg wurde das lebendige Vorbild für die Schöne Seele in Wilhelm Meisters Lehrjahre VI und für die Gestalt der Makarie in  Wilhelm Meisters Wanderjahre III:

Sie hatte schon insgeheim Wellings »Opus mago-cabbalisticum« studiert, wobei sie jedoch, weil der Autor das Licht, was er mitteilt, sogleich wieder selbst verfinstert und aufhebt, sich nach einem Freunde umsah, der ihr in diesem Wechsel von Licht und Finsternis Gesellschaft leistete. Es bedurfte nur einer geringen Anregung, um auch mir diese Krankheit zu inokulieren. Ich schaffte das Werk an, das, wie alle Schriften dieser Art, seinen Stammbaum in gerader Linie bis zur neuplatonischen Schule verfolgen konnte. Meine vorzüglichste Bemühung an diesem Buche war, die dunklen Hinweisungen, wo der Verfasser von einer Stelle auf die andere deutet und dadurch das, was er verbirgt, zu enthüllen verspricht, aufs genauste zu bemerken und am Rande die Seitenzahlen solcher sich einander aufklären sollenden Stellen zu bezeichnen. Aber auch so blieb das Buch noch dunkel und unverständlich genug; außer daß man sich zuletzt in eine gewisse Terminologie hineinstudierte, und, indem man mit derselben nach eignem Belieben gebarte, etwas, wo nicht zu verstehen, doch wenigstens zu sagen glaubte. Gedachtes Werk erwähnt seiner Vorgänger mit vielen Ehren, und wir wurden daher angeregt, jene Quellen selbst aufzusuchen. Wir wendeten uns nun an die Werke des Theophrastus Paracelsus und Basilius Valentinus; nicht weniger an Helmont, Starkey und andere, deren mehr oder weniger auf Natur und Einbildung beruhende Lehren und Vorschriften wir einzusehen und zu befolgen suchten. Mir wollte besonders die »Aurea Catena Homeri« gefallen, wodurch die Natur, wenn auch vielleicht auf phantastische Weise, in einer schönen Verknüpfung dargestellt wird; und so verwendeten wir teils einzeln, teils zusammen viele Zeit an diese Seltsamkeiten, und brachten die Abende eines langen Winters, während dessen ich die Stube hüten mußte, sehr vergnügt zu, indem wir zu dreien, meine Mutter mit eingeschlossen, uns an diesen Geheimnissen mehr ergetzten, als die Offenbarung derselben hätte tun können. Dichtung und Wahrheit, II. Teil, 8. Buch, Alchemie

1768 Die Mitschuldigen
Das Münster in Straßburg.
Das Münster in Straßburg.
Stich aus Goethes Besitz.

... daß ich dieses Wunderwerk als ein Ungeheures gewahrte, das mich hätte erschrecken müssen, wenn es mir nicht zugleich als ein Geregeltes faßlich und als ein Ausgearbeitetes sogar angenehm vorgekommen wäre. Ich beschäftigte mich doch keineswegs, diesem Widerspruch nachzudenken, sondern ließ ein so erstaunliches Denkmal durch seine Gegenwart ruhig auf mich fortwirken. Dichtung und Wahrheit, II. Teil, 9. Buch, Das Münster zu Straßburg

 

Friederike Brion
Friederike Brion
an der Authenzitität dieses 
Bildes bestehen allerdings Zweifel

 

Sokrates hatte nicht umsonst einen Bildhauer und eine Wehmutter zu Eltern gehabt. Sein Unterricht ist jederzeit mit den Hebammenkünsten verglichen worden. Man vergnügt sich noch diesen Einfall zu wiederholen, ohne daß man selbigen als das Saamkorn einer fruchtbaren Wahrheit hätte aufgehen lassen. Dieser Ausdruck ist nicht blos tropisch, sondern zugleich ein Knäuel vortreflicher Begriffe, die jeder Lehrer zum Leitfaden in der Erziehung des Verstandes nöthig hat. Wie der Mensch nach der Gleichheit Gottes erschaffen worden, so scheint der Leib eine Figur oder Bild der Seelen zu seyn. Wenn uns unser Gebein verholen ist, weil wir im Verborgenen gemacht, weil wir gebildet werden unten in der Erde; wie viel mehr werden unsere Begriffe im Verborgenen gemacht, und können als Gliedmassen unsers Verstandes betrachtet werden. Daß ich sie Gliedmaassen des Verstandes nenne, hindert nicht, jeden Begrif als eine besondere und ganze Geburt selbst anzusehen. Sokrates war also bescheiden genung seine Schulweisheit mit der Kunst eines alten Weibes zu vergleichen, welches blos der Arbeit der Mutter und ihrer zeitigen Frucht zu Hülfe kommt, und beyden Handreichung thut. 

Johann Georg Hamann,
Sokratische Denkwürdigkeiten
 

 

Friederike Brion ?
Diese Silberstiftzeichnung von Johann Friedrich August Tischbein stellt vermutlich Friederike Brion dar.

 

 

Pfarrhaus von Sesenheim.
Pfarrhaus von Sesenheim.
Rötelzeichnung Goethes, 1770
1769 Goethe beschäftigt sich mit Fragen der Kunsttheorie und setzt sich vor allem mit Gotthold Ephraim Lessings Laokoon und Johann Gottfried Herders »Kritischen Wäldern« auseinander.
1770

Goethe in Straßburg

Gegen Ostern verlässt Goethe sein Elternhaus Richtung Elsaß, um in Straßburg sein krankheitshalber unterbrochenes Studium zu vollenden. Er bezog eine Wohnung am alten Fischmarkt. Der Anblick des Straßburger Münsters überwältigt Goethe schon am ersten Tag. Als einer der wenigen seiner Zeit vermochte er unbefangen die erhabene Größe der gotischen Architektur einzuschätzen, die damals allgemein als roh und ungehobelt angesehen wurde:

Als ich das erstemal nach dem Münster ging, hatt ich den Kopf voll allgemeiner Erkenntnis guten Geschmacks. Auf Hörensagen ehrt ich die Harmonie der Massen, die Reinheit der Formen, war ein abgesagter Feind der verworrnen Willkürlichkeiten gotischer Verzierungen. Unter die Rubrik gotisch, gleich dem Artikel eines Wörterbuchs, häufte ich alle synonymische Mißverständnisse, die mir von Unbestimmtem, Ungeordnetem, Unnatürlichem, Zusammengestoppeltem, Aufgeflicktem, Überladenem jemals durch den Kopf gezogen waren...

Mit welcher unerwarteten Empfindung überraschte mich der Anblick, als ich davortrat. Ein ganzer, großer Eindruck füllte meine Seele, den, weil er aus tausend harmonierenden Einzelnheiten bestand, ich wohl schmecken und genießen, keineswegs aber erkennen und erklären konnte. Sie sagen, daß es also mit den Freuden des Himmels sei, und wie oft bin ich zurückgekehrt, diese himmlisch-irdische Freude zu genießen, den Riesengeist unsrer ältern Brüder in ihren Werken zu umfassen. Wie oft bin ich zurückgekehrt, von allen Seiten, aus allen Entfernungen, in jedem Lichte des Tags zu schauen seine Würde und Herrlichkeit. Schwer ist's dem Menschengeist, wenn seines Bruders Werk so hoch erhaben ist, daß er nur beugen und anbeten muß... [4] Von deutscher Baukunst Dichtung und Wahrheit, II. Teil, 9. Buch, Das Münster zu Straßburg

Vom April bis März 1771 setzte Goethe nun sein Jurastudium in Straßburg fort und besucht Vorlesungen in Geschichte, Staatswissenschaft, Anatomie, Chirurgie und Chemie.

Beim gemeinsamen Mittagstisch im nahe gelegenen Gasthaus in der Rue de l'Ail (Knoblauchgasse) kommt er mit dem pietistischen Schriftsteller und Arzt Jung-Stilling, mit Jakob Michael Reinhold Lenz, der als Hofmeister zweier kurländischer Edelleute nach Straßburg kam, und mit dem Theologen Franz Christian Lerse zusammen. Letzterer gab das Vorbild für Goethes Figur des Götz von Berlichingen ab.

Im Gasthof Zum Geist trifft Goethe zufällig mit Johann Gottfried Herder zusammen, der wegen einer Augenoperation eine längere Reise hier in Straßburg unterbrechen musste:

Denn das bedeutendste Ereignis, was die wichtigsten Folgen für mich haben sollte, war die Bekanntschaft und die daran sich knüpfende nähere Verbindung mit Herder... Dichtung und Wahrheit, II. Teil, 10. Buch, Die erste Begegnung mit Johann Gottfried Herder

Da seine Gespräche jederzeit bedeutend waren, er mochte fragen, antworten oder sich sonst auf eine Weise mitteilen; so mußte er mich zu neuen Ansichten täglich, ja stündlich befördern. In Leipzig hatte ich mir eher ein enges und abgezirkeltes Wesen angewöhnt, und meine allgemeinen Kenntnisse der deutschen Literatur konnten durch meinen Frankfurter Zustand nicht erweitert werden; ja mich hatten jene mystisch-religiösen chemischen Beschäftigungen in dunkle Regionen geführt, und was seit einigen Jahren in der weiten literarischen Welt vorgegangen, war mir meistens fremd geblieben. Nun wurde ich auf einmal durch Herder mit allem neuen Streben und mit allen den Richtungen bekannt, welche dasselbe zu nehmen schien. Dichtung und Wahrheit, II. Teil, 10. Buch, Die erste Begegnung mit Johann Gottfried Herder

Herder bringt ihm die skurril antirationalistische, sybillinische Gedankenwelt Johann Georg Hamanns näher, des Verfassers der Sokratischen Denkwürdigkeiten, begeistert ihn für Shakespeare und zeigt ihm die Bedeutung der Volkspoesie.

Im Oktober besucht Goethe erstmals Sesenheim und macht die Bekanntschaft der Pfarrerstochter Friederike Brion. Die Spuren dieser Begegnung spiegeln sich in den Sesenheimer Liedern, darunter die bekannten Gedichte Willkommen und Abschied und

Mailied

Wie herrlich leuchtet
Mir die Natur!
Wie glänzt die Sonne!
Wie lacht die Flur!

Es dringen Blüten
Aus jedem Zweig
Und tausend Stimmen
Aus dem Gesträuch, 

Und Freud und Wonne
Aus jeder Brust.
O Erd, o Sonne!
O Glück, o Lust! 

O Lieb, o Liebe,
So golden schön,
Wie Morgenwolken
Auf jenen Höhn! 

Du segnest herrlich
Das frische Feld,
Im Blütendampfe
Die volle Welt. 

O Mädchen, Mädchen,
Wie lieb ich dich!
Wie blickt dein Auge!
Wie liebst du mich! 

So liebt die Lerche
Gesang und Luft,
Und Morgenblumen
Den Himmelsduft. 

Wie ich dich liebe
Mit warmem Blut,
Die du mir Jugend
Und Freud und Mut 

Zu neuen Liedern
Und Tänzen gibst.
Sei ewig glücklich,
Wie du mich liebst!

In diesem Augenblick trat sie wirklich in die Türe; und da ging fürwahr an diesem ländlichen Himmel ein allerliebster Stern auf. Beide Töchter trugen sich noch deutsch, wie man es zu nennen pflegte, und diese fast verdrängte Nationaltracht kleidete Friedriken besonders gut. Ein kurzes weißes rundes Röckchen mit einer Falbel, nicht länger, als daß die nettesten Füßchen bis an die Knöchel sichtbar blieben; ein knappes weißes Mieder und eine schwarze Taffetschürze - so stand sie auf der Grenze zwischen Bäuerin und Städterin. Schlank und leicht, als wenn sie nichts an sich zu tragen hätte, schritt sie, und beinahe schien für die gewaltigen blonden Zöpfe des niedlichen Köpfchens der Hals zu zart. Aus heiteren blauen Augen blickte sie sehr deutlich umher, und das artige Stumpfnäschen forschte so frei in die Luft, als wenn es in der Welt keine Sorge geben könnte; der Strohhut hing ihr am Arm, und so hatte ich das Vergnügen, sie beim ersten Blick auf einmal in ihrer ganzen Anmut und Lieblichkeit zu sehn und zu erkennen. Über Friederike Brion, aus "Dichtung und Wahrheit", II. Teil, 10. Buch

An Friederike Brion

Wie Goethe sich später erinnert, beschäftigte er sich schon zu dieser Zeit mit dem Gedanken an ein Faust-Drama.

Heidenröslein


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[0] Goethe, Zur Farbenlehre, siehe http://www.farben-welten.de/farbenlehre/1physiologisch/einleitung.htm

[1] Ralf Klausnitzer, Goethes Vermittlung von Bild und Begriff, siehe http://www2.rz.hu-berlin.de/visuelle/ralf/goethe.htm

[3] Goethe, Dichtung und Wahrheit, II. Teil, 7. Buch, siehe http://www.odysseetheater.com/goethe/duw/duw07.htm

[4] Goethe, Von deutscher Baukunst (1772), Goethe-BA Bd. 19, S. 29 ff., siehe http://www.odysseetheater.com/goethe/texte/baukunst.htm

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